Antithesen zur „aufgeklärten Religionskritik"

(hpd) In ihrem Kommentar zu den „Aufklärungsthesen" von Armin Pfahl-Traughber sprechen Müller und Vowinkel zurecht die Möglichkeit einer konsequenten antitheistischen Gegenargumentation an. Es wird heute in der Tat dringend notwendig, dem theistischen Denken überhaupt radikal entgegen zu treten. 

Ein Kommentar von Rudolf Mondelaers

Die Diskussion kann durch solcherart zugespitzten Pfahl-Traughbersche-Antithesen dialektisch ergänzt werden.

1. Religion, nicht als nur „Gotteswahn" bzw. Kirchenorganisation missverstanden, aber sehr wohl als Erkenntnis-, Identitäts-, Integrations- oder Orientierungsfaktor begriffen, verdeutlicht ihre Funktion als bestimmend für eine historisch gewachsene Art und Weise des Denkens, das automatisch dadurch bestimmte soziale Verhaltensmuster generiert. Der evolutionäre Erfolgsfaktor des kooperativen und solidarisch-uneigennützlichen Verhaltens zugunsten der Gemeinschaft entsteht bei einer religiösen Denkstruktur aber nicht aus der Erkenntnis des Erfolgs systemischem kooperativem Handeln gleichberechtigter Gesellschaftsmitglieder, sondern es entsteht archaisch aus Angst vor sündenabhängigen hierarchischem Zwang bzw. Gewalt und ideologisch erzeugter physischer Aussonderung.

2. Religiös bestimmte Identität, Integration und Orientierung sind Werkzeuge zur Stärkung der hierarchischen Gewalt als Lösung von gesellschaftlichen Konflikten und verlangen immer eine interne und externe Feindorientierung. Kriege und Genozide sind zwar nicht durch religiöse Dogmen an sich verursacht, wohl aber durch den Versuch, bestehende soziale Konflikte auf religiöse Art und Weise zu lösen.

3. Die Unsicherheiten in den Anfangsstufen des evolutionären Denkens als Beweis für die mögliche Richtigkeit deistischer Inhalte der heutigen Erkenntnismethode zu gebrauchen ist als methodologisch nicht korrekt zu verwerfen. Eine solche Aussage kann nicht als tragende Prämisse einer nachfolgenden Argumentation verwendet werden.

4. Die Deutung, wonach die Religion „gewalttätig, irrational und intolerant" sei und „die Vernunft und die Intelligenz" hasse, verabsolutiert nicht bestimmte Phänomene in spezifisch historisch-politischen Kontexten. Sie macht auf dem Hintergrund der realen menschlichen Geschichte und des Nischendaseins von emanzipatorischen kirchlichen Experimenten nur deutlich, wie schwer es ist, auf der Grundlage des religiösen Denkens zu anderen und gegenteiligen Tendenzen zu gelangen.

5. Atheisten können auf der Grundlage des programmierten religiösen Offenbarungsdenkens zwangsweise von Religiösen nur mit Vorurteilen betrachtet werden. Die atheistische Bewertung des religiösen Denkens als ebensolches Vorurteil zu charakterisieren und daraus den Toleranzzwang für Atheisten abzuleiten muss als Zirkelschluss charakterisiert werden.

6. Angesichts der Gefahren, die aus dem religiösen Denken entspringen, kann atheistische Toleranz nicht, auch nicht als formale Akzeptanz, gegenüber diesem Denken definiert werden. Die Werte der humanistischen Demokratie sind offensiv und wehrbar zu verteidigen und dürfen nicht unter den Deckmantel eines weich gezeichneten Pluralismus untergraben werden. Atheistische Toleranz kann sich eingrenzend nur definieren als das nicht Anwenden von religiösen Verhaltensweisen im offensiven Kampf gegen das religiöse Denken: Keine Verteidigung dogmatischer Offenbarungen und keine Anwendung hierarchischer oder psychischer und physischer Gewalt. Sonst ist alles erlaubt!

7. In obigem Sinne sind irrige religiöse Annahmen in einer offenen Gesellschaft nicht mehr zu dulden, da sie definitorisch die Grundlage für wissenschafts- und freiheitsfeindliches Denken bilden. Die Freiheit zu glauben richtet sich letztendlich immer gegen die Konsequenzen aus der Freiheit, nicht zu glauben.

8. Religion, als sozial verhaltensbestimmende Denkweise verstanden, macht die im traditionellen Humanismus vorgenommene Trennung zwischen gesellschaftlichen und privaten Bereichen zu einer trügerischen Prämisse. Religiöse Denkpatrone erheben bewusst oder unbewusst immer Anspruch auf die verbindliche Gestaltung des sozialen Miteinanders.

9. Die Forderung nach Begrenzung der atheistischen Vehemenz auf nur die Überzeugungskraft der Argumente ist weit entfernt von jeder gesellschaftlichen Realität. Wer denkt, dass das per se offenbarungsorientierte, hierarchisch religiöse Denken eine gesellschaftliche Organisation und daher auch einen Staat kampflos akzeptieren würde, die als alleiniges Kriterium der Entscheidungsfindung die Vernunft walten lassen, hat leider nichts begriffen von den inneren Triebfedern des Religiösen. Der aktuelle Kampf der spiritualistischen Bewegungen um die Beseitigung der wenigen laizistischen Elemente in den demokratischen Staaten beweist dies auf schlagender Weise. Die Wehrhaftigkeit der Demokratie bezieht sich, und vielleicht vor allem, auf die Zähmung des religiösen Denkens.

10. Das Argument, dass religionsfeindliche Staaten nicht mit Menschenfreundlichkeit gleichzusetzen sind, ist ein alter Hut, der durchs Wiederholen nicht modischer wird. Was für die Religion als spezifisch historisch-politischer Ausnahmekontext akzeptiert wird, darf scheinbar nicht für angeblich „religionsfeindliche" historische Staatsgebilde gelten. Dabei war ihre Anzahl verschwindet gering gegenüber der Sintflut der religiösen Verbrecherstaaten. Und war das Problem überhaupt nicht eher, dass es sich dort gerade um einen religiös gedachten Atheismus handelte?

11. Sollte es richtig sein, dass Atheismus manipulativ zu einem negativen Sammelbegriff geworden ist und somit auch totalitäre Bestrebungen, wie den Stalinismus, einschließen kann, dann kann die Lösung nicht darin bestehen, ihn durch einen Humanismus mit diffusen Konturen zu ersetzen. Noch weniger aber seine in letzter Zeit immer schwächer werdende kämpferische Antireligiosität durch noch mehr Toleranz gegenüber dem Religiösen aufzuweichen.

12. Die bedeutenden Konfliktlinien verlaufen heute zwischen weltweiter sozialer und kultureller Emanzipation einerseits und grenzenloser Ausbeutung andererseits. Extremismus und Verletzung der Menschenrechte sind auf beiden Seiten nur möglich durch die Herrschaft des religiösen Denkens, was eine offensivere antireligiöse Gestaltung des Atheismus notwendig macht. Es ist an der Zeit zum weltweiten Antitheismus überzugehen!