Kommentar

Sind Säkularisten Antisemiten?

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Traditionelles jüdisches Beschneidungswerkzeug (im Jewish Museum (New York City)), 19. Jahrhundert
Traditionelles jüdisches Beschneidungswerkzeug (im Jewish Museum (New York City)), 19. Jahrhundert (CC BY-SA 2.0)

BERLIN. (hpd) Im Nach- und Fortgang der Beschneidungsdebatte kommt es in Deutschland zu Wortmeldungen von unterschiedlichster Seite. Dabei sind mitunter auch überraschende und unerwartete Statements und Schlussfolgerungen vorgelegt worden. So geschehen auch im Sommer 2014, als sich in einer Ausgabe der Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte (Beilage zur Wochenzeitung “Das Parlament”) verschiedene Autoren in interessanten Beiträgen dem Thema Antisemitismus zu nähern versuchten. Ein Beitrag allerdings sticht mit der Fragestellung, ob “vehementer Säkularismus” antisemitisch sei, heraus.

“Religion polarisiert”. Mit dieser Erkenntnis beginnt Vanessa Rau, Doktorandin Sozialwissenschaften/Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, ihre Ausführungen über die Frage “vehementer Säkularismus als Antisemitismus”? (S. 31–38) Damit wäre also ein gewisses “Unruhepotential” von Religionen im Allgemeinen festgestellt. Aber darum geht es der Autorin ganz offenbar nicht. Vielmehr treibt sie um, dass sich “Diskussionen um Säkularität westlicher liberaler Demokratien, auch als Antwort auf die wachsende Präsenz des Islams in westeuropäischen Staaten, inflationär vermehrt hätten” und säkulare Forderungen nunmehr “auffällig präsent” seien.

Jedenfalls geht die Autorin davon aus, dass “funktionierende Demokratien frei von der impulsiven Dimension der Religion agieren müssen, welche oftmals dichotomisch als das Andere des Säkularen, des Rationalen, dargestellt wird”. So weit so gut. Doch nahtlos daran schließt Rau ihre Beobachtung an, dass diese Meinung auch “von Vertretern des sogenannten neuen Atheismus vertreten” wird. Und Menschen wie “Richard Dawkins und Christopher Hitchens versuchen, in Deutschland Fuß zu fassen und sich dabei auf aufklärerische und humanistische Werte wie Vernunft und Rationalität stützen und der Religion mit großem Argwohn gegenüberstehen” (S. 31f.). Dann allerdings wären sie nach obiger Definition eher als “Ruhestifter” und “Entpolarisierer” in der offenen Gesellschaft zu sehen. Dies nur am Rande.

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Dieses Projekt passt in die Aktualität. Atheisten, Humanisten und säkulare Strömungen sollen im Augenblick für alles mögliche Üble verantwortlich gemacht werden. Erstaunlicherweise jedoch wird dieses Projekt eines behaupteten Haders zwischen Atheisten/Säkularisten und religiöser Gesellschaft auch noch als Dissertation gefördert, obwohl es in dieser Form den Stand des 19. Jahrhunderts darstellt.

In Vanessa Raus Szenario stehen also Vertreter des “Neuen Atheismus”, die von außen die Gesellschaft infiltrieren wollen und Vertreter einer “humanistischen Initiative in Deutschland” den “anderen” gegenüber. Außer, dass diese “der Religion mit großem Argwohn gegenüberstehen” sollen, erfährt man nichts Weiteres darüber. Es müsste doch geklärt werden, was ist neu an den “Neuen Atheisten”, was wollen sie genau und sind (neue) Atheisten auch immer Antitheisten? Und wie heißt denn diese humanistische Initiative, die da erwähnt wird? Oder spielt das keine Rolle (nach dem Motto: sind ja eh alle gleich oder gibt es nur die eine etc.)? Rau rubriziert so ziemlich alles unter “Atheismus”, was in älteren Studien über “Atheismus und Säkularismus” schon einmal differenzierter analysiert worden war.

Den analytischen wie thematischen Aufhänger bildet die “Kontroverse um rituelle Beschneidung” (S. 32), die in den vergangenen zwei Jahren intensiv geführt wurde. Vanessa Rau arbeitet an einer “qualitativen Studie zur Debatte um das Beschneidungsurteil, in der [sie] religiöse und nicht-religiöse Vertreter hinsichtlich ihrer Überzeugungen und Positionen in der Debatte und ihrem Verständnis von gesellschaftlicher Säkularität befragt” hat. Ein spannendes Thema. Interessant ist natürlich gleichsam ihr Befund, dass “die empirische Untersuchung auch eine mögliche Konvergenz zwischen säkularistischen, der Religion mit Argwohn gegenüberstehenden Positionen und antijüdischen (sowie antimuslimischen) Ressentiments” beleuchtete. Außer der nebulös eingeschobenen “humanistischen Initiative” werden aber keine weiteren genannt. Und ein Vertreter dieser “Initiative” äußerte zur Unrechtmäßigkeit der Säuglingsbeschneidung: “Man könnte wenigstens versuchen, die religiösen Werte mit den säkularen kompatibel zu machen, denn säkulare Prinzipien müssten für alle Bürger gelten!”

Das, was die Autorin an dieser Aussage so abzustoßen scheint – warum hätte sie sie sonst ausgerechnet erwähnen sollen? – ist nichts weiter als die Überlegung, dass religiöse Forderungen und Traditionen nicht über weltlichen, also für die gesamte Gesellschaft verbindlichen Gesetzen stehen sollen. Nichts anderes sagte ihr Interviewpartner hiermit.

Die Autorin erkennt an, dass die “säkulare Forderung” (als ob es keine anderen gleichlautenden Stimmen gegeben hat und gibt!) nach dem Verbot der Zirkumzision in der öffentlichen Debatte “insbesondere von Ärzt(inn)en, Jurist(inn)en und nicht zuletzt von humanistischen Verbänden übernommen [wurde], die unter Berufung auf die Menschenrechte, das Kindeswohl und das Recht auf körperliche Unversehrtheit für ein gesetzliches Verbot des Rituals plädierten” (S. 32). Nun aber beginnt man zu stutzen. Denn diese nachvollziehbaren, auf der Grundlage von Menschenrechten aufgestellten Forderungen, seien nur “zunächst” zu befürworten, obwohl sie, wie die Autorin konstatiert, gesellschaftliche Mehrheitsposition darstellen. Dann windet sich die Autorin weiter mit Formulierungen wie: “Zweifelsohne ist das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung von zentraler Wichtigkeit, das an sich volle Berechtigung zu haben scheint.”

Nachdem also “zunächst” etwas nach etwas “scheint” kommt dann die große Frage, ob denn nicht “das humanistische pro-humanum, wenn es ein zentrales Identitätsmerkmal einer religiösen Minderheit angreift, auch in ein anti-humanum oder in diesem speziellen Fall in ein anti-semiticum umschlagen” (S. 33) könne. Nun schien es mir so, als kenne ich die Antwort bereits an dieser Stelle. Jedenfalls wagt die Autorin nun den Schritt von der Vormoderne direkt in die Postmoderne, um mit Foucault und anderen alles so zu konstruieren und mehr noch zu dekonstruieren, was dafür eben nötig ist. Ich möchte dem Leser hier diese quälende und logisch-analytisch unergiebige Spiegelfechterei ersparen. Sie erstreckt sich über das “Narrativ des Säkularismus”, dem Antisemitismus als einem angeblichen “Produkt der Moderne” (S. 34), dann zu “eine[r] alternativen Lesart” (S. 35) schließlich hin zum Kern, ob denn nun “vehementer Säkularismus antisemitisch” ist? (S. 36)

Was soll das nun alles? Es soll uns zu folgender Feststellung führen: “Das Festhalten an einer binären Struktur von religiös und säkular symbolisiert die Vermeidung von Ambivalenzen und Differenzierungen, zum Beispiel die Reflexion über mögliche und faktische Konsequenzen, die das Verbot der Beschneidung haben könnte – nämlich die aktive Hemmung freier Entfaltung jüdischen Lebens in Deutschland” (S. 37). Eine solche “binäre Ordnung” zu apostrophieren, die sich übrigens immer noch an der oben zitierten Aussage eines “Säkularisten” entsponnen hat (sofern ich im postmodernen Käsequark zwischendurch nicht den Faden verloren habe), ist eine vormoderne Weltauffassung und in der Tat die Konstruktionsleistung der Autorin. Ich Maus, Du Faden; ich Tarzan, Du Jane! Tusch!

Fragt man sich, wie man zu solchen Gedankenergüssen kommt, ist die Antwort wohl auch im Hintergrund der Doktorandin zu suchen. Auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung ist zu lesen, dass die Autorin 2007 ein Studium der Politikwissenschaften an der Universität von Cambridge begann, “währenddessen sie für mehrere Nicht-Regierungsorganisationen arbeitete. Dabei war auch ein dreimonatiges Praktikum bei Solace Ministriesin Kigali, Ruanda - eine Organisation, die sich mit der Versöhnung und Traumaberatung nach dem Völkermord speziell für Waisen und Witwen beschäftigt.” Ein kurzer Blick auf die Seite des Ministeriums in Kigali teilt uns mit, dass “Religion that God our Father accepts as pure and faultless is this: to look after orphans and widows in their distress and to keep oneself from being polluted by the world”. Unter dem Button “About us” ist folgendes zu erfahren: “Solace Ministries ministers to widows and orphans through: […] Encouraging forgiveness through Jesus Christ.” Und Tusch auf die symbolischen Ambivalenzvermeider!

Also: nicht jeder “Säkularist” ist automatisch ein Antisemit! Man kann die durchaus berechtigte Fragestellung der Autorin auch analytisch ganz anders angehen. Denn Korrelationen sind keine Kausalbeziehungen! Dieses wissenschaftliche Prinzip aber geht hier völlig unter. Beispielsweise könnte man mit derselben Herangehensweise wie die Autorin auch fragen, ob religiöse (nicht jüdische!) Forderungen nicht die Lebensführung religionsfreier Menschen “aktiv hemmen” würden. Dazu bedarf es nur, im zitierten Text die entsprechenden Wörter auszutauschen.