Warnung vor Tendenzen, dem säkularen Staat eine "heilige Aura" zu verleihen

"Den Staat nicht zum Mythos hochstilisieren"

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Prof. Dr. Horst Dreier
Prof. Dr. Horst Dreier

Der renommierte Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Horst Dreier warnt vor neuen Tendenzen, Staat und Verfassung eine "heilige Aura" zu verleihen. Unter Staatsrechtlern werde der moderne Verfassungsstaat immer öfter "zum Mythos hochstilisiert", kritisierte der Rechtsphilosoph am Dienstagabend in Münster.

Einer solchen Auffassung nach könne auch ein säkularer Staat nicht ohne transzendente Elemente begründet werden. "Eine solche Sakralisierung verstellt aber den Blick darauf, dass es sich bei unserem fragilen politischen Gemeinwesen um Menschenwerk handelt, das der beständigen Erneuerung durch seine Bürger bedarf", so Dreier. Das sei eine regelrechte Zumutung: "Der Staat mutet uns zu, zu ertragen, dass andere anders denken und glauben als wir selbst – und er bietet uns die Freiheit zu wechselseitiger Kritik, zu Meinungskampf und geistiger Provokation." Das habe nichts mit in Mode gekommenen Ideen von Heiligkeit zu tun, die die Vernunft des freiheitlichen Staates nur verdunkelten.

Der Rechtsphilosoph fügte an, zur Durchsetzung der Grundrechte brauche es nicht "Gefühle der Überwältigung und der kollektiven Empörung", wie es der Soziologe Hans Joas vertrete, sondern "das rationale Prinzip der gleichen Freiheit aller, das immer da endet, wo es die Freiheit anderer begrenzt". Dreier unterstrich, Gefühle seien kein guter Ratgeber auf dem Weg zu den Grundrechten. "Nötig ist vielmehr ein kühler Verstand, wenn es in der Verfassungsordnung täglich tausende Male um die Einhaltung der Grundrechte geht." In Grundrechtsdemokratien sei die Grenze, wo die Freiheit des einen an der Freiheit des anderen eine Grenze finde, oft weit hinausgeschoben.

Als Beispiele nannte der Forscher Kunstwerke, die religiöse Gefühle anderer verletzen könnten, den schonungslosen Meinungskampf politischer Parteien,  der auch nicht vor dem Parteifreund Halt mache, die Meinungsfreiheit bis hin zur Schmähkritik sowie heftige Konkurrenzen in Wirtschaft und Wissenschaft. "Gleiche Freiheit kann immer auch der Übergriff in die Freiheitssphäre anderer sein. Das ist kein Defizit des modernen Staates, sondern sein innerstes Wesen." Anders als Joas schreibe, gehe es nicht darum, "jeden Menschen wie in einem geheiligten Bezirk vor allen Zugriffen abzuschirmen und als sakrale Monade zu etablieren". Horst Dreier: "Um die Ratio eines freiheitlichen Staates zu verstehen, müssen wir weder die verfassungsgebende Gewalt zum Mythos hochstilisieren noch die Mitglieder des Gemeinwesens mit dem Attribut der Heiligkeit versehen. Genau diese Sakralisierung ist einer aufgeklärten Gesellschaft zutiefst fremd."

Der Vortrag trug den Titel "Sakrale Elemente im säkularen Staat?" und bildete den Abschluss der Vortragsreihe der Hans-Blumenberg-Gastprofessur am Exzellenzcluster, in der sich Horst Dreier mit "Herausforderungen des säkularen Verfassungsstaates" befasste. Er legte in seinem Vortrag zunächst die historische christliche Prägung der Staats- und Rechtsordnung dar, die heute aber nicht mehr theologisch, sondern säkular begründet werde, und setzte sich dann mit Positionen der Rechtswissenschaftler Otto Depenheuer, Dietmar Willoweit und Ulrich Haltern sowie des Soziologen Hans Joas auseinander, der 2011 das Werk "Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte" vorgelegt hat. (vvm)