Ökonomische Plaudereien

Ökonomie und Demokratie

BERLIN. (hpd) In verschiedener Hinsicht sind Wirtschaft und Demokratie ein Paar wie Feuer und Wasser. Hier werden Entscheidungen von Einzelnen getroffen, dort sind sie Ergebnis eines Prozesses, an dem viele Menschen beteiligt sind. Hier wie dort berühren diese Entscheidungen aber das Leben sehr vieler Menschen und beides findet zur selben Zeit in derselben Welt statt. Spannungen sind da keine Überraschung.

In der Tendenz laufen diese Spannungen auf die Frage hinaus, wo das Primat liegt: bei der Ökonomie oder bei der Politik. Bestimmt die Ökonomie, wo es in der Politik langgeht oder gibt der Souverän über demokratische Strukturen der Ökonomie die Regeln, innerhalb derer sie sich zu bewegen hat? Es braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen was geschieht, wenn man der Ökonomie die Dominanz überläßt. Der Neoliberalismus der letzten 20 Jahre hat so vielen Menschen das Gegenteil von Freiheit gebracht, dass der Begriff längst als recht verlogener Euphemismus entlarvt ist. Aber wie kommt’s? Wie kann es sein, dass sich die Dinge so entwickeln? Schließlich gab es doch vor dem “Neoliberalismus” auch funktionierende Wirtschaft.

Veränderungen in Technik und Technologie führen zu Veränderungen im Wirtschaftsprozess. Diese Veränderungen in der Form des Wirtschaftens fordern für ihre Entfaltung gesellschaftliche Veränderungen. Manchmal sind es Dinge, die wie Kleinigkeiten erscheinen, etwa das Vereinheitlichen der lokalen Uhrzeiten im Zusammenhang mit dem Eisenbahnbau. Vor der Eisenbahn konnte jeder Ort seine eigene Zeit haben. Wenn diese um eine Kleinigkeit von der Zeit im Nachbarort abwich, hatte das praktisch nur geringe Auswirkungen. Mit einem Verkehrsmittel, das in einer halben Stunde Orte verbindet, die für den Fußgänger einen Tag entfernt liegen, und welches dabei einem Fahrplan folgen muß, sieht die Sache ganz anders aus. Manchmal sind es aber auch Dinge von der Größenordnung des Buchdrucks, dessen ökonomische und politische Konsequenzen nur zu beschreiben viele Regale füllt. Der Zusammenhang von technologischer Entwicklung und der Veränderung gesellschaftlicher Strukturen ist in den letzten 200 Jahren vielfach untersucht worden.

Hat man es mit einer Wirtschaftsform zu tun, die zur Selbstzerstörung neigt und in der Krise regelmäßig auf die Hilfe der Politik angewiesen ist, so scheint es nicht überzogen zu fordern, dass diese Politik große Vorsicht und Sorgfalt an den Tag legt, wenn es um die Regeln geht, nach denen die Wirtschaft funktioniert. Es ist so etwas wie gesellschaftlicher Arbeitsschutz. So wie man gefährliche Maschinen nur qualifizierten Menschen unter angemessenen Sicherheitsvorkehrungen überläßt, sollte die Wirtschaft als Ganzes eben auch nur mit entsprechenden Handschuhen und Schutzbrille laufen. Also mag man sich demokratische Strukturen wünschen, die dies hervorbringen und fortlaufend justieren.

Der Staatsdienst muß zum Nutzen jener geführt werden, die ihm anvertraut sind, nicht zum Nutzen derer, denen er anvertraut ist. (Marcus Tullius Cicero)

Wie vielen Menschen kann man zuhören? Nacheinander, versteht sich. Und was bleibt im Gedächtnis? Wie trennt man dabei wichtiges von unwichtigem? Diese Fragen kann sich ein Abgeordneter stellen, wenn er sich zur Aufgabe macht, den Willen derer zu repräsentieren, die ihn zum Abgeordneten gemacht haben. Wollte man sich dieser Sache mit besten Vorsätzen stellen, so wird man recht bald finden, dass man es nicht nur nicht jedem recht machen kann. Man kann noch nicht einmal jedem zuhören. Es geht einfach nicht. Der Tag ist zu kurz. Also wird man sich vielleicht darauf verlegen, Vertretern von Gruppen der Menschen zuzuhören. Da wird es dann schnell schwierig. Man muß sich darüber klar sein, wen oder was die Vertreter vertreten. Das kann eine Zahl von Menschen sein, die ein bestimmtes Interesse verbindet, es kann ein Unternehmen sein oder eine Branche. Nimmt man nur die Unternehmen, so fällt folgendes auf:

In Deutschland gibt es laut Statistischem Bundesamt ca. 3,6 Mio. Unternehmen mit insgesamt reichlich 27 Mio. Beschäftigten [1]. Die 29 Unternehmen mit den meisten Beschäftigten haben zusammen mehr als 5,4 Mio. Beschäftigte. Das sind etwa 20% der Beschäftigten in Deutschland [2]. Weniger als ein Tausendstel Prozent der Unternehmen in Deutschland haben in ihren Hallen 20% der Angestellten. 29 Unternehmenschefs führen mehr als 5 Millionen Angestellte. Das sind Proportionen, die an absolutistische Fürstentümer vergangener Zeiten denken lassen. Angenommen, diese Manager würden sich um die Aufmerksamkeit der Parlamentarier bemühen. Sie oder die von ihnen beauftragten Lobbyisten könnten mit dem Verweis auf die Zahl der Menschen in ihren Unternehmen vermutlich beträchtlichen Eindruck machen - auch wenn sie deren Interessen gar nicht vertreten, sondern einfach dadurch, dass diese Menschen von ihnen abhängig sind.

Um die Interessen der Menschen in den Unternehmen zu bündeln und diese angemessen zu vertreten, gibt es auch Gewerkschaften. Von den Unternehmen unabhängige Vertreter der Beschäftigten könnten als “natürliches” Gegengewicht zu den Unternehmensvertretern in den Ohren der Abgeordneten auftreten. Das könnte zu einem ausgeglicheneren Verhältnis beitragen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) nennt etwa 6 Millionen Gewerkschaftsmitglieder für 2015 [3]. 1993 waren es noch mehr als 10 Millionen Mitglieder [4]. Das ist ein Rückgang um rund 40%. Seit Anfang der 90er gibt es das World Wide Web. Vielleicht verbirgt sich hier eine Korrelation der Entwicklungen. Das WWW ist in seiner kulturellen Bedeutung vermutlich der Gutenbergschen Erfindung des Buchdrucks vergleichbar. Die Wirtschaft hat sich das WWW umfassend zu Nutze gemacht und verändert dabei die gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrem Sinne. Und etwa in dem Maße, wie das WWW Verbreitung fand, schwand der Einfluß des DGB, sofern er durch die Mitgliedszahlen gegeben ist. Das hat die neoliberalen Verwerfungen in der heutigen Gesellschaft vermutlich nicht besonders behindert. Da könnte Demokratisierungspotential für das Wirtschaftsleben liegen. Aber “nur wer etwas sagt, kann gehört werden.” (hpd)

Unter der widersprüchlich erscheinenden Überschrift “Wirtschaftsdemokratie” [5] tauchen in der Geschichte seit Jahrzehnten immer wieder Konzepte auf, bei denen es um die Mitbestimmung der Angestellten im Wirtschaftsleben geht. Es scheint seit langem klar, dass es nicht besonders förderlich ist, die Demokratie nur um die Unternehmen herum zu entwickeln. Wenn ein Unternehmen die Größe früherer Fürstentümer hat, sollte seine gesellschaftliche Rolle geprüft werden. Über eine Teilung der Macht wurde vermutlich schon früh nachgedacht. Aber von Montesquieu ist überliefert, dass er der Sache gründlicher nachging. Seine Einsichten über die Gewaltenteilung in einem Staatswesen in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Regierungsgewalt wurden wesentlicher Bestandteil der Verfassung der USA (Artikel 1–3, 1787) und bilden eine Grundlage moderner Demokratien. Montesquieu, eigentlich Charles de Secondat, Baron de Montesquieu, war ein Mann der Aufklärung. Er wuchs auf dem Landgut La Brède auf. Das Château de La Brède südlich von Bordeaux gibt es heute noch. Er war Schriftsteller, Philosoph und Staatstheoretiker, verkehrte in intellektuellen Zirkeln und war Freimaurer. Seine “Persischen Briefe”, in denen fiktive Perser eine fiktive Korrespondenz über sehr reale Verhältnisse in Frankreich pflegen, waren ein eindrucksvolles Mittel, um dem Leser gewisse Dinge als “äußerem Beobachter” vor Augen zu führen. In seinen staatstheoretischen Überlegungen formuliert er das Konzept der Gewaltenteilung als Voraussetzung für Freiheit: “Demokratie und Aristokratie sind nicht von Natur aus freie Staatsformen. Freiheit ist nur unter maßvollen Regierungen anzutreffen. Eine Erfahrung lehrt, dass jeder Mensch, der Macht hat, dazu neigt, sie zu mißbrauchen. Deshalb ist es nötig, dass die Macht der Macht Grenzen setzt. Es gibt in jedem Staat dreierlei Vollmacht: die gesetzgebende Gewalt, die vollziehende und die richterliche. Es gibt keine Freiheit, wenn diese nicht voneinander getrennt sind.” (Vom Geist der Gesetze, 1748) [6] Allerdings konnte sich Montesquieu wohl kaum Unternehmen mit Hunderttausenden Menschen vorstellen. Andernfalls hätte er sie vielleicht in seine Überlegungen zur Machtbegrenzung als Grundidee zur Demokratie einbezogen.


  1. Statistisches Bundesamt, https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesamtwirtschaftUmwelt/Unternehm...  ↩

  2. Wikipedia, de, “Liste der größten Unternehmen in Deutschland”  ↩

  3. DGB, http://www.dgb.de/uber-uns/dgb-heute/mitgliederzahlen/2010  ↩

  4. DGB, http://www.dgb.de/uber-uns/dgb-heute/mitgliederzahlen/1950–1993  ↩

  5. Wikipedia.de, “Wirtschaftsdemokratie”  ↩

  6. Wikipedia.de, “Montesquieu”  ↩