Band I von Henry D. Thoreaus Tagebüchern in Deutsch erschienen

Die Philosophie der Vögel

BERLIN. (hpd) Auf zwölf Bände sind die Tagebücher von Henry D. Thoreau angelegt, von denen der erste vorliegt. Mit ihnen begann Thoreau seine literarischen Exerzitien, sie waren Steinbruch für sein Hauptwerk "Walden", über die drei Jahre, in denen er in Massachusetts im Wald lebte. Die Aufzeichnungen fing er an lange bevor er sich weigerte, Steuern zu zahlen, aus Protest gegen die Sklaverei, und vor seinem Essay zum Recht auf Ungehorsam gegen den Staat.

Ohne Thoreau hätte Thomas Nagel vielleicht nicht räsoniert, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Thoreau fragte sich, wie wohl die Rohrdommeln nachts den Mond sehen und ob die Hühner beim Brüten ein Zeitempfinden haben. "Werden brütende Hennen von Langeweile geplagt? Die Natur ist sehr freundlich; ermöglicht sie es ihnen nachzudenken? Die langen Märztage über in der Ritze eines Heubodens völlig passiv zu brüten und zu brüten! Schlafen brütende Hennen?"

Nichts war Thoreau, dem Harvard-Absolventen und zunächst Lehrer, lungenkrank wie Novalis, zu unbedeutend. Er gründete nicht nur eine Gattung in Amerika vor fast 200 Jahren mit seinen Tagebüchern, die er ab 1837 mit 20 begann und bis zu seinem Tod, 1862, fortführte: das "nature writing". Er sah die Natur, wie sie vor ihm noch keiner sah. Auf eine originär spirituelle Weise, wie viele Aktivisten, Aussteiger und Apologeten eines einfachen und frugalen Lebens heute, als deren Urvater er gelten kann. Den Schuldienst quittierte er, weil er sich nicht mit der Prügelstrafe abfinden konnte. Die durchaus wörtlich zu nehmende und sehr nüchterne Erkenntnis des früh Geschwächten, dass seine Inspiration nur so weit reiche wie sein Atem, macht ihn fast zum Ahnen der Hippie-Yogi.

Dem ersten Band, der die Jahre von 1837 bis 1842 umfasst, wohnt der Zauber des Anfangs inne. Ein junger Mann erzählt nicht, was er tut und plant oder was ihm widerfährt. Seine Notate sind Reflexionen und impressionistische Schilderungen. Ein Mensch sucht seinen Platz in der Welt, prüft alte und gängige Werte, schöpft aus dem Bildungskanon, der ihm von der Universität gerade mitgegeben wurde, aber dies in aphoristisch knapper Form. Man kann sich vorstellen, wie er auch die eigenen Sätze drehte und wendete, ob sie wert waren, aufgeschrieben zu werden. Ob sie Bestand hätten dem einzigen gedachten Leser gegenüber: ihm selbst. Nicht jeden Tag gibt es Eintragungen, erst allmählich schreibt er sich ein. Dann folgen hinreißende Beobachtungen der Natur. Von der Mannigfaltigkeit der Eisschollen auf dem Fluss und ihrer Geometrie. Von den tropischen Formen, die der Schnee an den Zapfen und Nadeln der Kiefern bildet. Von der Parallelität zwischen organischen und anorganischen Gestaltfindungen. Alles fühlt:

Heute sah ich einen Fuchs, der auf dem Schnee mit der Sorglosigkeit der Freiheit über den gefrorenen Teich eilte. Als ich zeitweise seiner Spur im Schnee folgte, während er auf dem Harschschnee den Kamm eines Hügels entlangtrabte, schien es, als hätte die Sonne noch nie so stolz und hell auf den Hang hinabgeschienen, und Wind und Wald waren in Zuneigung verstummt. Ich überließ ihm, der ihr wahrer Besitzer war, Sonne und Erde. Er ging nicht im Sonnenschein, sondern der Sonnenschein schien ihm zu folgen. Es herrschte sichtbares Einverständnis zwischen ihm und der Sonne.

Selbst der wesentlich weniger mythisch aufgeladenen Bisamratte gilt an anderer Stelle seine Zuneigung: "Pst! Hier an Bord erhebt die Bisamratte Zoll auf Kartoffeln und Melonen. Haben wir nicht das Zeitalter der Gütergemeinschaft? Ihre Unverschämtheit weckt in mir ein brüderliches Gefühl." Stoff fast für einen Haiku.

Seine Phänomenologie hat nur wenig mit Schwärmerei zu tun. Denn der da die Natur und die Einfachheit sucht, schreibt schon im dritten Satz seines Tagebuchs: " - ich meide mich selbst". Später: "Zumeist habe ich schlecht gelebt. Weil ich mir selbst zu nahe war … Ich kann nur bequem und angenehm sehen, wenn ich mich an den Horizont in der Ferne halte." So ist es wohl eher Ich-Flucht denn Weltflucht, wenn Thoreau festhält: "Ich entdecke eine eigentümliche Spur im Schnee und sehe daraus, dass ein wandernder Fischotter in der Stille der Nacht vom Fluss her in den Wald gewechselt ist, vorbei an meinem Grundstück und der Schmiede. Ich kann nicht umhin, über meinen eigenen Reichtum zu lächeln, wenn ich auf diese Weise daran erinnert werde, dass jede Ritze und Spalte der Natur zum Überfließen voll ist. - Dass jeder Augenblick von großen Ereignissen wimmelt … Es ist meine Schuld, dass er nachts derart über mein Grundstück schleichen muss. Nun verlangt es mich nach ihm – und der Himmel ist für mich die völlige Gemeinschaft mit der Otternatur. Er wandert auf einem eher bewaldeten Weg vorbei an Wasserläufen und Hecken – ich auf der Straße - , aber obwohl seine Spuren jetzt quer zu meinen liegen, laufen unsere Wege nicht auseinander, sondern zuletzt werden wir uns treffen." Welch andere unio mystica!

Das ist wahrhaftig ein ganz neuer Tonfall, der hier anklingt. So sehr er sich flieht, Thoreau traut einer völlig neuen Philosophie, die er allein gerade im Begriff ist zu entdecken, eine, die auf das zurückgreift, was vor dem Menschen war, die Weisheit der Natur, der je einzelnen, wie sie funkelt und flötet: "Beim Maihauch, den ich einatme, werde ich daran erinnert, dass die Zeitalter nie so weit zurückreichen wie zuvor. Die Wachholderdrossel ist ein modernerer Philosoph als Platon oder Aristoteles. Jene sind jetzt ein Dogma, aber die Drossel predigt den Schatz dieser Stunde.“ Drosselweisheit eben. Oder den Verzicht auf die eine Weisheit über oder hinter den Dingen. Was bleibt? Das Poetische: „Die Natur tut nichts in prosaischer Stimmung. Doch manchmal ergrimmt sie in dichterischer Raserei, wie bei Erdbeben und zu anderen Zeiten ist sie vergnügt. Alle Blüten und Vögel und Früchte erwachsen aus Begeisterung."

Henry D. Thoreau: "Tagebuch I", aus dem amerikanischen Englisch von Rainer G. Schmidt, Matthes & Seitz Verlag Berlin 2016, 328 S., 26,95 Euro