Kommentar

Der Rechtsstaat ist eine Zumutung

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Justizia
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BERLIN. (hpd) Anders Breivik hat vor Gericht gesiegt. Zunächst einmal wäre solch eine Meldung keinen Aufschrei wert. Aber wer sich erinnert, entdeckt hinter dem Namen denjenigen Mann, der auf Norwegens Insel Utøya ein Blutbad anrichtete. Dutzende Schüler der sozialdemokratischen Jugend waren zum Zeltlager zusammen gekommen, als Breivik wahllos um sich schoss und gezielte Hinrichtungen vornahm. Aus Hass gegen die Politik der Regierung und den angeblichen Links-Trend samt "Islamisierung" Europas, hatte er zuvor auch einen Bombenanschlag in Oslos Regierungsviertel verübt und war für seine Taten in einem öffentlichkeitswirksamen Gerichtsverfahren schlussendlich zu 21 Jahren Haft verurteilt worden.

Schon der damalige Prozess hatte viel Aufsehen erregt. Zahlreiche Beobachter waren beeindruckt von dem ruhigen Vorgehen des Gerichts und des vernunftbetonten Verhaltens der Bevölkerung. Doch nun wurde nicht nur für die Angehörigen der Opfer wieder eine Wunde aufgerissen. Breivik hatte gegen seine jahrelange Isolationshaft geklagt – und Recht bekommen. Die Staatsanwaltschaft geht zwar gegen das Urteil vor, aber die Begründung der Richter ist bemerkenswert: Der Inhaftierte sei inhumanen Bedingungen ausgesetzt gewesen, seine Menschenrechte wurden nach Ansicht des Gerichts verletzt. Die entsprechende Konvention war missachtet worden, so die Einschätzung.

Erste Reaktionen fielen eindeutig aus: Wie könne man solch einem Massenmörder überhaupt Menschenrechte zugestehen? Wieso hat ein "Monster" wie Breivik das Recht, gegen seine Haft zu klagen? Und was sei überhaupt gegen die Isolationsbedingungen einzuwenden, er habe sie doch verdient! – War das norwegische Volk anfangs noch recht beherrscht, brach die Wut nun aus. Menschlich ist das nachvollziehbar. Doch was treibt uns immer wieder dazu, zu Hobby-Richtern zu werden, die am liebsten selbst über Mitbürger urteilen würden? Hätten wir ein Volksgericht, wäre Breivik wahrscheinlich bereits zu Tode gefoltert worden, weil die tobende Masse es so möchte. Der Wunsch nach Genugtuung für etwas, von dem die meisten von uns nur indirekt betroffen sind.

Eigentlich soll der Rechtsstaat eine ordentliche Behandlung eines jedes Straffälligen gewährleisten. Immer öfter muss er aber Täter auch vor dem Mob der aufgewiegelten Populisten schützen. Da spielen wir uns zu selbsternannten Anklägern auf, richten in Gedanken mit teils mittelalterlichen Methoden und entziehen nach Belieben grundlegende Rechte, weil wir uns in der Position sehen, uns über die Beklagten erheben zu können. Da braucht man nicht einmal das biblische Gleichnis, um zu erkennen, dass kaum jemand von denen, die da schreien, letztlich den ersten Stein werfen könnte, wenn man ehrlich zu sich selbst ist und die eigene Schuldhaftigkeit eingestehen würde.

Nein, kaum einer wird solch eine Last wie die des Angreifers von Norwegen auf sich tragen müssen. Und trotzdem ermächtigt uns nichts, Recht über jemanden zu sprechen, wenn wir dazu nicht berufen sind. Zweifelsohne: Es ist oftmals schwer auszuhalten, die demokratischen Grundrechte zu berücksichtigen, wenn wir von starker Emotion getrieben sind. Doch es hat etwas vom Pöbel, der sich zusammenrottet und zur Selbstjustiz ruft. Die Jäger der Gerechtigkeit blasen zum Sturm gegen den ach so wohlwollenden Rechtsstaat, der den Verbrechern auch noch ein Dach über dem Kopf zuspricht. Warum nur müssen wir ertragen, dass jemand, der der Gesellschaft so viel Leid zumutet, auch noch vor Gericht gewinnt?

Menschenrechte sich universell und unantastbar. Darauf haben sich die zivilisierten Völker geeinigt. Und sie haben es deshalb getan, weil sie tatsächlich überlegen sind. Nicht, weil sie von oben herab als die Besseren mit der scheinbar so weißen Weste dazu die Befähigung hätten. Sondern deshalb, weil sie eine andere Form der Größe zeigen. Wir lassen uns nicht auf die Ebene derer herab, die uns terrorisieren. Wir haben die Standfestigkeit, an unseren gemeinsamen Werten festzuhalten. Wir lassen uns nicht erpressen und dazu hinreißen, den Verbrecher zu quälen, damit er uns später zynisch zeigt, dass wir nicht anders sind als er. Um sich nicht an der Nase herumführen zu lassen – ob nun von einer aufgebrachten Bürgerschaft oder einem tricksenden Täter –, ist Neutralität das sinnvollste Mittel. Damit sie umgesetzt werden kann, gibt es Gerichte – und sie scheinen auch bei Breivik ihrer Aufgabe nachgekommen zu sein.

Um Sachlichkeit zu gewährleisten, muss der Blick auf das Vergangene ausgeblendet werden. Es geht allein um die Frage, ob die Unterbringung des Gefangenen in Isolationshaft rechtens war. Niemand weiß, ob der Richter in seinem Innersten nicht doch mit "Ja" gestimmt hat, aber schlussendlich nur seine juristische Einschätzung wiedergeben durfte. Denn auch Breivik hat Ansprüche, beispielsweise auf eine Resozialisierung. Die kann in einem abgeschotteten und kontaktfreien Wohntrakt kaum gelingen. Dass er nie mehr in Freiheit kommen sollte, spielt dabei weniger eine Rolle. Denn auch Sicherungsverwahrte haben ein Recht auf Leben. Das ist gut so. Denn wäre es anders, würden wir nur verleitet, unser Rechtssystem vollständig zur Guillotine rückzuentwickeln – und neuerlich zeigen, dass wir nicht stark genug sind, auch schlimmsten Nötigungen von Schwerstkriminellen zu widerstehen.  

Ist damit aber das demokratische Rechtswesen schlussendlich nicht mehr als eine Zumutung? Ja, wir müssen nicht selten schlucken, wenn wir so manch ein Urteil hören. Doch wie oft vergessen wir, welch Errungenschaft es ist, in einem Land zu leben, in dem Menschenrechte als unverrückbar gelten. Ein Grundsatz, der uns allen zugutekommt. Und er hat für eine Vielzahl von Menschen auch eine empfundene Ungerechtigkeit an sich, weil er gleichbehandelt, wo wir persönlich keine Zugeständnisse dulden wollen. Können wir unsere Verärgerung aber möglicherweise künftig effektiver einsetzen, als sie gegen Justiz, Staat und Gesellschaft als Verantwortliche angeblicher Bevorzugung zu richten? Wie wäre es wieder einmal mit einem Blick auf all das, wo wir selbst Fehler gemacht haben?