Was der neue § 217 StGB für die Arbeit der DGHS bedeutet

Genaue Reichweite des Suizidhilfe-Verbots noch unklar

BERLIN. (hpd/dghs) Die Monate vor der Abstimmung des Bundestags über den neuen § 217 des Strafgesetzbuchs am 6.11.2015 waren für viele Vertreter, Freunde und Sympathisanten der DGHS eine der aufregendsten und aufreibendsten Abschnitte ihres Lebens. In unzähligen Veranstaltungen traten sie für die Patientenselbstbestimmung ein und für das Offenhalten der bisher legalen Optionen für die selbstbestimmte Gestaltung des Lebensendes.

Mit dem unerwartet eindeutigen Abstimmungsergebnis gegen die in Deutschland seit mehr als 100 Jahren bestehende liberale Rechtslage zur Hilfe bei der Selbsttötung, nach der diese straflos ist, sofern die Selbsttötung die Anforderungen der “Freiverantwortlichkeit” erfüllt, d. h. der Suizident entscheidungsfähig ist und die Tragweite seines Tuns erkennt, ist eine dieser Optionen massiv eingeschränkt worden. Die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) hat eine Schlacht verloren.

Über dem Bedauern und der Enttäuschung darüber sollten die positiven Seiten der Debatte allerdings nicht übersehen werden: Die lange verdrängten Themen “letzte Lebensphase” und “Sterbehilfe” sind nach der Debatte über das Patientenverfügungsgesetz erneut zum Brennpunkt der medialen und politischen Aufmerksamkeit geworden.

Deutlich geworden ist auch die seit Jahren konstante überwiegende Ablehnung einer Erschwerung der Sterbehilfe in der Bevölkerung. Wahrscheinlich wäre ohne die Debatte um die assistierte Selbsttötung auch die Palliativmedizin nicht so nachdrücklich gefördert worden, wie es am Vortrag der Abstimmung um den assistierten Suizid geschehen ist – ein großer Fortschritt für die Sache der Humanisierung des Sterbens.

Das neue Gesetz “zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Hilfe zur Selbsttötung” betrifft bei Lichte besehen nur einen kleinen Randbereich der Sterbehilfe. Weder ist an den Regeln für die häufigsten Fälle von Sterbehilfe gerüttelt worden, den Abbruch bzw. die Nichtaufnahme einer von medizinischen Behandlung aufgrund einer akut geäußerten oder durch Patientenverfügung vorverfügten Ablehnung, noch ist die Hilfe zur Selbsttötung generell für strafbar erklärt worden. Damit ist die Rechtslage in Deutschland immer noch liberaler als in der großen Mehrzahl der europäischen Länder, etwa Großbritannien, Frankreich oder Österreich.

Allerdings dürfte sie in den Deutschland den bereits standesrechtlich bestehenden Druck auf Ärzte, einem entsprechenden Patientenwunsch nicht nachzukommen, verschärfen. Im Bereich von zehn der 17 deutschen Landesärztekammern ist die Hilfe zur Selbsttötung für Ärzte bereits seit mehreren Jahren standesrechtlich verboten. Verboten ist darüber hinaus die Einfuhr des in der Schweiz bei Selbsttötungen gebräuchlichen Mittels. Humanarzneimittel dürfen in Deutschland grundsätzlich nicht zur Tötung eingesetzt werden.

DGHS-Vizepräsident Prof. Dr. Dr. h c. Dieter Birnbacher. Bild: DGHS/Oliver Kirpal
DGHS-Vizepräsident Prof. Dr. Dr. h c. Dieter Birnbacher. Bild: DGHS/Oliver Kirpal

An dem Text des neuen § 217 wurde bereits vor der Abstimmung kritisiert, dass er zu viele Unbestimmtheiten enthält, um dem Bestimmtheitsgebot der Verfassung zu genügen. In der Tat wird sich erst im Laufe der nächsten Jahre, sofern es zu einschlägigen Prozessen kommt, zeigen, wie die Rechtsprechung die offenen Begriffe des Gesetzes interpretiert. Möglich ist aber auch, dass es dazu gar nicht erst kommt und – wie im vergleichbaren Fall des Embryonenschutzgesetzes – sich seine rechtliche Wirksamkeit in der beabsichtigten Abschreckungswirkung erschöpft. Vorerst lässt sich über den genaue Reichweite des Gesetzes nur spekulieren.

Zugang zu Vereinen künftig erschwert

Mit dem ersten Absatz des Gesetzes: “Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft” wird jegliche Hilfeleistung zu einer Selbsttötung verboten, die “geschäftsmäßig”, d. h. regelmäßig und auf Wiederholung angelegt erfolgt, unabhängig davon, ob es zu dieser Selbsttötung tatsächlich kommt.

Das Gesetz zielt in erster Linie darauf, den Zugang zu Vereinen oder Individuen, die Hilfe zur Selbsttötung anbieten, zu erschweren. Begründet wird es von den Initiatoren des Gesetzesentwurfs mit den – realen oder vermeintlichen – Gefahren, die von der Existenz dieser Angebote auf die Selbstbestimmung und das Leben von Schwerkranken und Verzweifelten ausgehen. Es beschreitet damit einen im internationalen Vergleich ganz eigenen und neuen Weg: Die regelmäßige Hilfe zur Selbsttötung wird nicht deshalb verboten, weil die Selbsttötung und die Hilfestellung dazu für sich genommen moralisch verwerflich sind, sondern weil die bloße Existenz von Möglichkeiten der Hilfe zur Selbsttötung eine Verführungswirkung auf Menschen haben könnte, die zur Leidenslinderung ebenso gut Angebote der Palliativmedizin nutzen könnten.

Ob diese Konstruktion realistisch ist, darf bezweifelt werden. Es gibt jedenfalls keine überzeugenden Belege dafür, dass die Existenz der bisher bestehenden Angebote jemandem zu einer Selbsttötung angestiftet hat, der sie nicht von sich aus gewollt hat. Ebenso wenig gibt es Belege dafür, dass, wie die Begründung des Gesetzesvorschlags unterstellt, die Tätigkeit von Sterbehelfern und Sterbehilfevereinen überwiegend eigennützig und die Suizidhilfe von Angehörigen und Nahestehenden in Einzelfällen überwiegend altruistisch motiviert ist.

Das Sterbefasten bleibt vom Verbot unberührt

Bei aller Unbestimmtheit der zentralen Begriffe des Gesetzes dürfte sich zumindest so viel sagen lassen: Mit “Selbsttötung” ist ausschließlich die aktive Selbsttötung gemeint, nicht die durch “passive” Verfahren wie das Sterbefasten. Das entspricht zwar nicht dem juristischen Verständnis von “Selbsttötung”, die durchaus auch “passive” Formen umfasst, aber den Intentionen der Initiatoren des Gesetzes.

“Förderung” umfasst, darüber lässt der Wortlaut keinen Zweifel, nicht nur die Verschaffung und Bereitstellung von Suizidmitteln, sondern – das ist für die DGHS wichtig, die selbst keine Sterbehilfe leistet – auch die Vermittlung von Gelegenheiten zur Selbsttötung, auch etwa solchen im Ausland.

“Geschäftsmäßig” zielt nicht, wie viele zunächst denken, auf kommerzielle Motive, sondern auf die wiederholte Gewährung, Verschaffung und Vermittlung von Gelegenheiten zur Selbsttötung, die auch dann vorliegen kann, wenn sie nicht die einzige oder die Haupttätigkeit einer Person ist. Solange er nicht wiederholt Suizidhilfe anbietet (oder dies beabsichtigt), ist also auch ein Arzt, der dies in einem Einzelfall tut, nicht von Strafe bedroht. Um keine staatsanwaltlichen Ermittlungen auf sich zu ziehen, wird er aber gut beraten sein, dies nicht im Rahmen seiner regulären ärztlichen Tätigkeit, sondern nur als medizinisch kompetente Privatperson und ohne Bezahlung zu tun.

Für die DGHS bedeutet das, dass sie sich strafbar machen würde, wenn sie sich auf eine “Vermittlung” von sterbewilligen Schwerkranken an Sterbehelfer oder Sterbehilfevereine einlassen würde, etwa in der Weise, dass sie im Namen eines ihrer Mitglieder den Kontakt zu diesen herstellen würde oder ihre bestehenden Kontakte zu den Anbietern in der Schweiz dazu nutzen würde, Mitglieder an diese zu vermitteln. Eine “Vermittlung” von Gelegenheiten zur Selbsttötung wird durch das Gesetz unmissverständlich verboten, sofern diese durch einen Verein erfolgt, der dies nicht nur einmal tut. Eine ergebnisoffene Beratung der Mitglieder über die bestehenden Optionen ist damit nicht ausgeschlossen, vorausgesetzt, diese hat keinen eindeutig empfehlenden Charakter und bezieht alle verfügbaren Möglichkeiten – im Sinne einer “Breitbandberatung” – ausgewogen ein.

Ausnahme nur für Angehörige

Auf Verständnisschwierigkeiten dürfte auch der zweite Absatz des neuen Gesetzes stoßen, der die “Teilnahme” regelt – worunter nicht die Beihilfe zu einer Selbsttötung zu verstehen ist, sondern die Beihilfe zur im ersten Absatz definierten Haupttat. Darunter fällt also auch die Beihilfe zur Vermittlung von Gelegenheiten zur Selbsttötung, etwa die Verweisung von Interessenten an Personen oder Institutionen, die Adressen von Sterbehelfern im Ausland führen.

Während sich Ärzte nach Abs.1 nicht strafbar machen, wenn sie in einem Einzelfall und ohne die Absicht, daraus eine regelmäßige Tätigkeit zu machen, Suizidassistenz leisten, machen sie sich nach Abs. 2 strafbar, wenn sie in einem Einzelfall Beihilfe dazu leisten, etwa einem Patienten die Adresse eines Sterbehilfevereins in der Schweiz geben. Es macht dabei keinen Unterschied, ob die “Haupttat” im Ausland legal ist.

Der allgemeine Teil des deutschen Strafgesetzbuchs regelt in § 9 Abs. 2 Satz 2 für eine “Teilnahme” dieser Art, dass die für die Teilnahme das deutsche Strafrecht auch dann gilt, wenn die Haupttat im Ausland legal ist. Eine “Teilnahme”, etwa eine Anstiftung oder Beihilfe zu der in Abs. 1 geregelten “Haupttat”, bleibt nur für Angehörige und Nahestehende straflos, die in Einzelfällen bei der Vermittlung von Suizidhilfe behilflich sind und von deren Tun – so die Logik des Gesetzes – keine Sogwirkung zu befürchten ist. Ein Arzt, auch ein Hausarzt, ist jedoch kein “Nahestehender”. Zwischen Arzt und Patient besteht nur in Ausnahmefällen eine dauerhafte emotionale Bindung.

Die Initiatoren des neuen Gesetzes vertreten ihren Entwurf als einen “Entwurf der Mitte”. Dem hat der frühere Hamburger CDU-Abgeordnete Wolfgang Kramer, bevor er von “Dignitas” Sterbehilfe erhielt, entgegengehalten, der Entwurf sei “nicht Mitte, sondern Mittelalter”.

In der Tat fällt es schwer nachzuvollziehen, warum es so vordringlich war, der mehr herbeigeredeten als bestehenden Bedrohung von schwer und unheilbar Kranken durch die in Deutschland bestehende Regelung der Hilfe zur Selbsttötung mit der scharfen Waffe des Strafrechts zu wehren, ohne dass – allen Beteuerungen zum Trotz – dabei doch letztlich die im traditionellen christlichen Denken verankerte moralische Verurteilung der Selbsttötung eine Rolle spielte. Aber selbst noch dann, wenn man Gründe zu haben meint, die Selbsttötung und die Hilfe dazu moralisch zu verurteilen, wäre das – zumindest in einem liberalen Staat – kein hinreichender Grund, sie auch strafrechtlich zu verbieten, solange von der “unmoralischen” Praxis keine nennenswerten Gefährdungen auf Dritte ausgehen.

Dieser Artikel erscheint in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift der DGHS, HLS 01/2016.