Eine Antwort in 25 Thesen mit dem "Kompatibilitätstheorem"

Hat der islamistische Terrorismus etwas mit dem Islam zu tun?

BONN. (hpd) Nach jedem Anschlag entbrennt eine Debatte darüber, ob der islamistische Terrorismus etwas mit dem Islam zu tun hat. Die einen meinen, hier würde eine Religion nur missbraucht. Die anderen sagen, letztendlich seien Islam und Islamismus identisch.

Die folgenden Ausführungen fragen nach den Gründen für und gegen diese Deutungen, lehnen sie als Interpreationen aufgrund ihrer eindimensionalen Perspektive ab, fragen aber gleichzeitig nach den Aspekten der Kompatibilität von Islam und Islamismus.

  1. Am Beginn steht folgende Erkenntnis: Den Islam gibt es nicht, handelt es sich doch erstens um eine Abstraktion, die nicht agieren kann. Es sind immer Menschen, die im Namen einer Religion in einem moralisch guten oder schlechten Sinne handeln.

  2. Den Islam gibt es darüber hinaus auch nicht, weil er nicht nur diverse Grundrichtungen (Sunniten, Schiiten etc.) aufweist, sondern ihm auch individuell und sozial unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten (Feministinnen, Salafisten etc.) eigen sind.

  3. Die Auffassung "Religion nur missbraucht" ignoriert, dass die Islamisten sich auf bestimmte Aspekte des Islam (Geschichte, Koran etc.) berufen können und sich auch selbst als gläubige Muslime (Glaubenspraxis, Identitätsbekenntnis) verstehen.

  4. Die Auffassung "Islam und Islamismus identisch" ignoriert, dass die überwiegende Mehrheit der Muslime auf der Welt keine Islamisten sind und die meisten Opfer des islamistischen Terrorismus in der arabischen Welt andere Muslime sind.

  5. Ein Bezugspunkt im Islam für den Islamismus besteht in den allen monotheistischen Religionen strukturell eigenen Dimensionen von Absolutheitsansprüchen und Ausgrenzungstendenzen, die auch Gewaltoptionen beinhalten (Assmann-Debatte).

  6. Das "Doppelgesicht des Religiösen" (Hans Maier) ist auch im Koran auszumachen, gibt es doch Aussagen zur Diffamierung von Andersgläubigen (z.B. Medina-Sure 4, Vers 56) ebenso wie zu Duldung und Toleranz (z.B. Mekka-Sure 109, Vers 6).

  7. Die Frühgeschichte des Islam ist durch eine Kombination mit politischem Herrschaftsinteressen und kriegerischem Vorgehen geprägt, insofern fügt sich das islamistische "Weltbild … passgenau in die … Ursprungsgeschichte" (Tamim Ansary).

  8. In den Gesellschaften der islamisch geprägten Länder kamen Auffassungen von Individualität und Menschenrechten erst relativ spät auf, dominierten demgegenüber doch Kollektivismus und "Totalitätanspruch" (Adel Theodor Khoury).

  9. Die damit entstandene Politische Kultur in den gemeinten Gesellschaften wurde dabei auch, aber nicht nur durch die islamische Religion geprägt, ging es hierbei doch ebenso und vorrangig um die Absicherung politischer Macht von Interessengruppen.

  10. Demnach bestehen in der Geschichte und Theologie des realen Islam formale und inhaltliche Anknüpfungspunkte, die Islamisten zur Entwicklung ihrer Feindbilder (z.B. im Antisemitismus) oder ihrer Praxis (z.B. bei Gewalthandlungen) nutzen können.

  11. Gleichwohl erklärt diese Erkenntnis nicht allein das Aufkommen des Islamismus in Randbereichen der muslimischen Gesellschaften, denn ansonsten müssten alle oder doch die besonders gläubigen Muslime zum islamistischen Terrorismus neigen.

  12. Der Blick auf die Täter macht indessen deutlich, dass es ihnen meist an grundlegenden religiösen Kenntnissen mangelt, daher gilt: "Wir haben es weniger mit der Radikalisierung des Islam als mit der Islamisierung des Radikalismus zu tun" (Oliver Roy).

  13. Die Gewalthandlungen von heute können weder allein noch primär mit dem Blick in den Koran noch auf die Frühgeschichte des Islam – also über tausend Jahre zurückliegende Textproduktionen und Vorkommnisse - erklärt werden.

  14. Die Fixierung auf den beschriebenen "wahren Kern" einer solchen Auffassung führt zu einer "Islamisierung" oder "Religionisierung" eines komplexen politischen und sozialen Phänomens, ohne die gegenwärtigen Bedingungsfaktoren in die Debatte einzubeziehen.

  15. Bei den meisten islamistischen Gewalttätern handelt es sich um Benachteiligte und Sinnsucher, die nach einer "Erleuchtung" im Islamismus aufgrund dessen Erkenntnis-, Identitäts- und Integrationsfunktion eine ideelle und praktische Orientierung finden.

  16. Die entscheidende Determinante für die Entwicklung hin zum Djihadismus ist demnach die Entstehung eines Gefühls der Marginalisierung und Perspektivlosigkeit, das zur Bereitschaft für eine grundlegende Neuorientierung unterschiedlicher Richtung führt.

  17. Demnach ist die Entwicklung hin zum Islamismus nicht die alleinige, sondern eine mögliche Option, denn die latente Bereitschaft zur Radikalisierung als Nachfrage muss auf eine damit kompatible Botschaft mit Interpretationsmöglichkeit als Angebot treffen.

  18. Daher kommt nicht zufällig bestimmten Personen wie charismatischen Predigern eine bedeutsame mobilisierende Dimension zu, liefern sie doch eben das konkrete Angebot des Islamismus für die latente Nachfrage nach Orientierung.

  19. Dabei handelt es sich um Akteure, die eine Deutung des Islam in diesem Sinne präsentieren und dabei an reale Bestandteile dieser Religion anknüpfen – ohne dass ihnen aus der muslimischen Community entschieden genug widersprochen wird.

  20. Denn die erwähnte Ideologisierung des Radialisierungsprozesses ist um so einfacher, je mehr im Alltagsverständnis in anderer Form deren Inhalte bereits präsent sind und dann lediglich neu in einen bestimmten politischen Kontext erweitert werden müssen.

  21. Die konservativ-orthodox ausgerichteten Islamverbände distanzieren sich zwar durchaus glaubwürdig vom Djihadismus als Gewaltphänomen, angesichts einiger Schnittmengen aber nicht deutlich genug vom Islamismus als Weltanschauung.

  22. Die absolute Mehrheit der eher liberal denkenden Muslime in Deutschland ist demgegenüber kaum organisiert und findet bei derartigen Fragen kein Gehör bei öffentlichen Kontroversen um damit einhergehende Probleme.

  23. Eine Auseinandersetzung um die Deutungshoheit über den Islam beginnt erst langsam, wobei die Auseinandersetzung mit Fundamentalisten von Intellektuellen als Modernisierern (Navid Kermani, Mouhanad Khorchide) vorangetrieben wird.

  24. Die aufklärerische Dimension dieser Entwicklung sollten auch Humanisten als erste Schritte begrüßen, denn angesichts der ausgeprägteren Gläubigkeit unter Muslimen ist gegenwärtig die Option einer Säkularisierung unrealistisch.

  25. Die gesellschaftliche Bekämpfung des Islamismus hat in der Gesamtschau einerseits in der Delegitimierung von deren Deutungsangeboten in der Ideologie und andererseits in einer Integrationspolitik mit verbindlichen Grundwerten und sozialen Perspektiven zu bestehen.

Dieses Thesenpapier war die Vorlage des Autors bei Vorträgen beim HVD in Nürnberg und beim HVD in München zum Kontext Islam und Islamismus am vergangenen Wochenende.