Säkulare Horizont-Erweiterung

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Diskussionsrunde / Fotos: gbsKöln / Collage: Ricarda Hinz

KÖLN. (hpd) Die gbs-Regionalgruppe Köln hat letzten Samstag und Sonntag zum zweiten Mal ihr hedonistisch-intensives Fortbildungs-Wochenende in dem idyllischen und musealen Ausflugslokal „Bergische Schweiz“ samt Übernachtung im Fachwerk-Hotel verlebt.

Die Fortbildung bestand aus Referaten, Diskussionen und einem von dem Psychologen Frank Hichert durchgeführten Diskussionstraining. Im wunderschönen beinah 360°-Panorama-Glaspavillon stritten die 21 anwesenden gbs-Förderer über Ethik, Sinn und Naturalismus und rangen um Perspektiven und Argumente.

Mahlzeiten und Gespräche in ausgiebigen Pausen auf der sonnendurchfluteten Terrasse des an einem Waldhang über den Höhen des Bergischen Landes liegenden Tagungsortes lockerten den massiven Input auf. Vis-a-vis mit Damwild, Böcken und Hühnern.

Über die Herleitung von Ethik

Gleich am Samstagvormittag ging es in die Vollen: Der Physiker Bernd Vowinkel lieferte in seinem Referat „Kann die Naturwissenschaft Werte und Sinn ergründen“ einen Überblick über die Entwicklung vom Dualismus zum Monismus, und führte uns in die Tiefen der Differenzierungen innerhalb des Utilitarismus und des Physikalismus.

Seine auf Sam Harris und sein Buch „The moral landscape“ gestützte These, dass Wissenschaft durchaus in der Lage sei, objektive Werte definieren zu können, musste er dann allerdings von Robert Maier kontern lassen: Werte seien grundsätzlich unerkennbar und nicht wahrheitsfähig und somit niemals objektiv. Wer das Gegenteil behaupte, lande in derselben Intoleranz-Falle, in der die Religionen stecken. Werte müssten immer wieder von neuem erarbeitet und entschieden werden; allerdings helfe uns die Wissenschaft dabei wesentlich, obwohl es schon verlockend wäre, auch den kulturellen Relativismus in unverrückbare Schranken zu weisen.

So wurde noch intensiv über die Relevanz der Wissenschaft, über „kulturell“ begründete Grausamkeiten wie die Genitalverstümmelung und über die Natur und Definition des sogenannten „freien Willens“ diskutiert.

Frank Hichert räumte in dem Zusammenhang mit der beliebten kulturrelativistischen Mär auf, dass die unterdrückte Frau glücklich sei, solange sie von keiner Alternative wüsste, schließlich ergäben ja Erhebungen, dass die Menschen, inkl. Frauen, in weniger hoch entwickelten Kulturen nicht unglücklicher seien als die in den Industrie-Nationen. Hichert erklärte jedoch, dass sich das persönliche Unglück dieser Frauen, das sie aber nicht einmal benennen könnten, sich dann sehr oft in Form von massivem körperlichem Schmerz äußere.

Schatten über Europa

Mit wundervoll griffigen wie schlüssigen Thesen wie „Das Infragestellen ist der Erzfeind aller Religionen“, „Die Religionen begehen Weltflucht, weil sie im Diesseits nicht mithalten können“ oder „Das Christentum hat sich nicht durchgesetzt - es wurde durchgesetzt“ im Mittelpunkt referierte Frank Hichert am Nachmittag über Rolf Bergmeiers Buch „Schatten über Europa“. Dabei war es wieder sehr inspirierend, wie jeder Anwesende ein etwas anderes Fragment seines individuellen Wissen-Mosaiks beisteuern konnte, und wie dabei vielleicht unser aller Horizont über das von der „Sieger-Kirchen-Schul-Geschichte“ geklittertes und häufig zementiertes Partikulargeschichtswissen hinaus erweitert werden konnte.

Neben der Tatsache, dass bei Durchsetzung des Christentums eine Wissens- und Buch-Vernichtung unvorstellbaren Ausmaßes stattgefunden hatte, die Bevölkerung durch Schließung aller öffentlichen Schulen gezielt unwissend gemacht werden sollte, erfuhr man von der faszinierenden Existenz so genannter Palimpseste in den mittelalterlichen Klöstern: Entgegen der herrschenden Meinung, dort seien die heidnischen Schriften teilweise aus Wertschätzung verwahrt worden, geschah dies vielmehr vor dem Hintergrund einer pragmatischen Nutzung des Materials; sie wurden abgeschabt und dann mit christlichem Inhalt überschrieben – Pergament war teuer.

Ein mehr als erhellendes und lohnendes Buch, gespickt mit hervorragenden und für manche sicher noch neuen Argumenten. Etwa dieses, das zu merken sich bestimmt lohnt: Die "Nächstenliebe" wurde nicht zuerst von Jesus betont, sondern zuvor schon von Seneca.

Als irritierend wurde allerdings empfunden, dass Bergmeier mit seiner so entschiedenen Ansicht zu dem Thema (ähnlich wie Colin Goldner bezogen auf den Dalai Lama) praktisch mehr oder weniger allein auf weiter Flur steht; er belegt sämtliche seiner Aussagen sehr gut, aber diesen Thesen beipflichtende oder gar untermauernde Ausführungen von seriösen Historikern stehen bisher bedauerlicherweise noch aus.

Erratischer Block

Auf ebenso beeindruckende Weise sprach am Sonntag dann Dominik Grottian über Steven Pinkers Buch „Geschichte der Gewalt“, einen 1000-Seiten-Wälzer, den er in der englischen Originalsprache gelesen hatte. Ein umfangreiches Kompendium mit vielschichtigen Informationen, Tabellen und Grafiken, die überzeugend die im zeitlichen Zusammenhang stehende Korrelation von Bildungsfortschritt und Aufklärung mit dem massiven Rückgang von kriegerischer Gewalt aufzeigt.

In der anschließenden Diskussion wurde die Verblüffung deutlich, dass dieses Buch mit seiner bei der Allgemeinheit völlig unbekannten positiven Nachricht quasi als „erratischer Block“ mitten in einer Welt aus negativen Nachrichten steht.

Daher wurde die Tatsache diskutiert, warum der Mensch eine negative Nachricht um ein Vielfaches schneller und intensiver wahrnimmt, als eine positive.

Dem Fakt, dass dies ein evolutionärer Vorteil sei, denn auf positive Nachrichten müsse man nicht reagieren, auf schlechte meist jedoch sehr wohl, was letztendlich zu Entwicklung und Fortschritt führe, wurde entgegengesetzt, dass wir leider genetisch nicht darauf vorbereitet seien, die via Medien zur Schau gestellten „Leichenberge der Welt“ verarbeiten zu können. Nicht zu reden von den in den Unterhaltungs-Medien aufgetürmten Leichenbergen, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt, als Teil der dort allgemein zur Schau gestellten Gewalt. Sogar die nach wie vor auf breiter Linie akzeptierte Durchführung und Sendung von Box-Kämpfen wurde thematisiert, deren Bedeutung als „Ventil-Funktion“ oder gar einer Art Katharsis versus Nachahm-Effekt diskutiert, , wobei letzterer Standpunkt eindeutig die Oberhand hatte, ersterer also auf breiter Front abgelehnt wurde.

Das Ergebnis der weiteren Diskussion legte schließlich die sich mit der Alltagserfahrung deckende Vermutung nahe, dass für die ‚gesunde‘ Entwicklung eines Kindes, mehr noch als Gewaltfreiheit, die enge Bindung an liebende Erwachsene in der sozialen Gruppe ausschlaggebend ist, da Kinder während der Entwicklung unseres an die Umwelt angepassten Genoms anscheinend mit sehr viel realer Gewalt aufwuchsen: nach Pinker ist die Vorstellung vom ‚edlen Wilden‘ nämlich nicht aufrecht zu erhalten.

Selbst in der grausamsten Diktatur werde der Einzelne weniger das Opfer von Gewalt, als in einer Jäger-und-Sammler-Gesellschaft. Diese letztere Erkenntnis ziehen nicht einmal Kritiker Pinkers in Zweifel.