Religiöse Paralleljustiz?

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Prof. Dr. Fabian Wittreck (Foto: Exzellenzcluster)

MÜNSTER. (hpd/exc) In einem Vortrag im Rahmen des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ der Uni Münster referierte der Rechtswissenschaftler Fabian Wittreck über religiöse Paralleljustiz in Deutschland. Sein Tenor: u. a. „Muslimische Friedensrichter lassen sich nicht verbieten“. Zudem müsse man auch die Rechtsprechung der christlichen Kirchen in Deutschland betrachten.

Die Tätigkeit muslimischer „Friedensrichter“ in Deutschland lässt sich laut Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Fabian Wittreck „nicht einfach verbieten“. Das Bild sei uneindeutig, sagte der Forscher des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ der Uni Münster am Dienstagabend in einem Vortrag über „Religiöse Paralleljustiz im Rechtsstaat?“. Wenn solche Streitschlichter in zivilrechtlichen Fällen tätig würden, sei das legal, sofern der Schlichter freiwillig eingeschaltet werde. Unproblematisch seien auch strafrechtliche Fälle, in denen ein „Friedensrichter“ vor Einschaltung der Behörden tätig werde. Erst wenn die Ermittler aktiv würden, stehe der Vorwurf der Strafvereitelung im Raum. „Auch bei Schwerstkriminalität ist der Versuch, solche Taten per Schlichtung ‚in der Familie‘ zu regeln, verboten und strafbar.“

Religiöse Paralleljustiz könne im deutschen Recht generell „den Schutz der Glaubensfreiheit“ für sich reklamieren, unterstrich der Jurist. Es gebe keine Gründe von Verfassungsrang, die ein „globales Verbot“ von religiöser Schiedsgerichtsbarkeit rechtfertigten. Vielmehr sei im Einzelfall darzulegen, dass tatsächlich Strafgesetze verletzt oder Grundrechte negiert würden. Oder es müsse nachgewiesen werden, dass Betroffene sich nicht wirklich freiwillig einem geistlichen Gericht unterworfen hätten.

Kein unaufgefordertes staatliches Entgegenkommen

Der Wissenschaftler riet gleichwohl davon ab, den „Friedensrichtern“ von staatlicher Seite unaufgefordert Entgegenkommen zu zeigen. Das sei zwar denkbar, indem der Staat die informelle Schiedsgerichtsbarkeit „aktiv“ dulde, als Kooperationspartner anerkenne oder gar eine staatlich anerkannte religiöse Schiedsgerichtsbarkeit einrichte. Dagegen sprächen aus rechtspolitischer Sicht aber neuere Forschungen: „Sie legen nahe, dass religiöse Gerichtsbarkeit die Kohäsion gerade von Gruppen mit Migrations- oder Diasporahintergrund steigert, zugleich deren religiöses Führungspersonal stärkt und sich dadurch nicht in Richtung einer Integration auswirkt.“ Prof. Wittreck plädierte dafür, der „Versuchung religiöser Paralleljustiz“ zu widerstehen und am „Ideal des gleichen staatlichen Rechtsschutzes für alle“ festzuhalten.

Reaktion der katholischen Amtskirche

Über das Ausmaß der „Anstatt-Justiz“ der „Friedensrichter“ in Berlin und andernorts könne bislang nur spekuliert werden, sagte der Forscher. Berichte darüber seien oft zu „alarmistisch“. Es fehlten belastbare Erhebungen. Statt von „Hinterhofgerichtsbarkeit“ solle von einer „informellen religiösen Schiedsgerichtsbarkeit“ gesprochen werden, die im größeren Zusammenhang der Wechselwirkung weltlicher und geistlicher Gerichtsbarkeit zu sehen sei. „Auch darf der Hinweis nicht fehlen, dass die ‚Friedensrichter‘ zwar überwiegend aus muslimischen Ländern stammen, ihre Entscheidungen aber meist gerade nicht religiös motivieren oder gar aus der Scharia ableiten. Ihre Klientel ist landsmannschaftlich bestimmt, weniger konfessionell.“

Rechtswissenschaftler Prof. Wittreck hob hervor, Konflikte zwischen weltlicher und geistlicher Gerichtsbarkeit habe es oft in der europäischen Rechtsgeschichte gegeben, und auch heute beschränkten sie sich nicht auf „Scharia-Richter“. So gerate derzeit der weitgehende Ausschluss des staatlichen Rechtsschutzes durch kirchliche Arbeitsgerichte unter Rechtfertigungsdruck. „Auch die Reaktion der katholischen Amtskirche auf den Missbrauchsskandal lässt sich als Ausdruck einer ganz spezifischen Auffassung von Zuständigkeitsbereichen weltlicher und geistlicher Jurisdiktion deuten. Mit anderen Worten: Wir würden dem Islam Unrecht tun, wenn wir seine Richter losgelöst von anderen Phänomenen religiöser Gerichtsbarkeit betrachten.“

Formen geistlicher Gerichtsbarkeit

Der Forscher, der am Exzellenzcluster das Projekt C4 „Geistliche Gerichtsbarkeit religiöser Minderheiten – Integrations- oder Segregationsfaktor“ leitet, stellte vier Formen geistlicher Gerichtsbarkeit dar, die unterschiedlich viel Konfliktpotential mit dem Recht des säkularen Verfassungsstaates haben. Dazu gehört erstens die „klassische kirchliche Gerichtsbarkeit“, die auf innere Angelegenheiten wie Glaubenslehre, Organisation und kirchliche Ehe beschränkt ist und ohne Hilfe oder Kontrolle des Staates handelt. Eine zweite Form, die „staatlich anerkannte religiöse Schiedsgerichtsbarkeit“ birgt laut Prof. Wittreck mehr Konfliktpotential und ist in Deutschland nicht vorhanden; in den USA hingegen bestehe eine rege jüdische Schiedsgerichtsbarkeit und in Großbritannien ein „Muslim Arbitration Tribunal“.

Die dritte Form bezeichnete der Forscher als „staatlich angeordnete kirchliche Gerichtsbarkeit“, die etwa in Israel zu finden sei, in Deutschland mit Blick auf kirchliche Arbeitsgerichte zumindest faktisch existiere. Als vierte Form gilt – wie im Fall der „Friedensrichter“ – die Rechtsprechung oder Schlichtung religiöser Akteure ohne jede staatliche Anerkennung oder Kontrolle, „weshalb die ‚Entscheidungen‘ nur durch freiwillige Befolgung oder sozialen Druck umgesetzt werden“.

Viola van Melis
(Exzellenzcluster „Religion und Politik“)