Teil 2: Fantasie und Realität

Ist virtuelle Gewalt die Ursache für reale Gewalt?

 

Willkommen in der Matrix

Man bietet Ihnen zwei Pillen an, von denen Sie sich eine aussuchen dürfen. Die blaue Pille wird Sie wieder in Ihre gewohnte Welt zurück versetzen und Sie werden sich nicht an diese zitatenreiche Einleitung erinnern können. Die rote Pille dagegen eröffnet Ihnen das Tor zur Welt der Wissenschaft und Philosophie, in der Sie die wahre Natur der Realität erfahren dürfen, so weit sie bekannt ist. Welche Pille nehmen Sie?

Gibt es einen Löffel?

Sie waren mutig und haben die rote Pille geschluckt. Also halten Sie sich fest: Es gibt keine Realität. Sie ist nur ein Konstrukt, das Ergebnis unserer durch die Kultur bestimmten Art und Weise, wie wir Zeichen deuten. Die herrschende Klassenallianz aus Regierung, Großunternehmen, Kirchen und Medien gaukelt uns eine Welt vor, von der sie will, dass wir sie als Realität auffassen. Manche Lesarten von Zeichen, von Wörtern, Bildern und Symbolen, sind so weit verbreitet, dass sie für uns natürlich erscheinen. Lange Zeit war man etwa der Ansicht, es sei die natürliche Rolle der Frau, ein Leben zwischen Bett und Küche zu fristen. Heute hat sich die dominante Lesart verändert und Frauen sind den Männern offiziell ebenbürtig. Auch die Naturwissenschaft und ihre Ergebnisse sind nur kulturelle Produkte, mit denen ihre Urheber Macht ausüben wollen.

Im Gegenteil, es gibt es sehr wohl eine objektive Realität, nur sind wir nicht in der Lage, diese Realität vollständig zu erfassen, vor allem nicht allein mit unseren Sinnen. Die effektivste Methode, so viel wie möglich von dem in Erfahrung zu bringen, was real ist, nennt sich Naturwissenschaft. Beispielsweise können wir Ultraschallwellen nicht wahrnehmen, wir können sie jedoch messen und so feststellen, dass sie existieren. Die Naturwissenschaft leugnet nicht, dass es biologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt, unterlässt jedoch eine Wertung und steht somit der Gleichberechtigung der Geschlechter offen gegenüber. Der Einfluss der Kultur auf den Menschen ist im Vergleich zum Einfluss seiner Natur vernachlässigbar gering. Da Geisteswissenschaftler offenbar nur Unsinn im Kopf haben, sollen sie von Naturwissenschaftlern im intellektuellen Diskurs abgelöst werden, um eine "dritte Kultur" zu ermöglichen.

Wenn Forscher Sandburgen bauen

Der erste dieser beiden Standpunkte wird so oder ähnlich von Kulturalisten vertreten. Das sind Kulturwissenschaftler, die ihr Fach ganz besonders hoch schätzen und von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen auffallend wenig wissen. Besonders eifrige Naturalisten bevorzugen hingegen die zweite Sichtweise und fragen sich, warum Geisteswissenschaftler in der Hängematte liegen und Schiller lesen dürfen, während sie die tausendste Statistik auswerten müssen.

Um Sie komplett zu verwirren: Es gibt auch Leute, die glauben, dass beide Sichtweisen miteinander vereinbar sind und dass sich die Differenzen aus einer jeweiligen Verabsolutierung des Standpunktes, genannt Kulturalismus und Biologismus, ergeben. Es erscheint sinnvoll, das Thema von dieser Position aus anzugehen.

Die Verarbeitung von Information

Unsere subjektive Wahrnehmung der objektiven Realität ist es demnach, die unser Leben entscheidend beeinflusst. Diese Wahrnehmung wird im Zusammenspiel von Umweltfaktoren und Genen erzeugt. Es ist angesichts der individuellen Auswahl- und Deutungsprozesse unseres Gehirns ausgeschlossen, dass alle Informationen direkt in unseren Denkapperat übertragen werden. Mit anderen Worten: Der Beobachter entwirft seine eigenen Bilder als Ergebnis seiner Erfahrungen und angesichts seiner Erwartungshaltung. Dies bedeutet, dass der Beobachter, Zuhörer und Leser nur das sieht, hört oder liest, was sein Gehirn für wichtig hält. Demzufolge kann niemand manipuliert oder instrumentalisiert werden, wenn seine Erfahrungen, sein Wissen und/oder seine Ideale nicht mit dem Gegenstand der Beeinflussung vereinbar sind. Wolf Singer, Direktor des Max-Planck-Instituts in Frankfurt am Main, ist sogar der Meinung, dass der Gesichtssinn der am wenigsten verlässliche aller Sinne ist. Er bezweifelt prinzipiell die Macht der Bilder (Vgl: Rudolf Maresch: "Medien der Gewalt - Gewalt der Medien" in Virtuelle Welten - Reale Gewalt, Seite 174).

Ein Generationenkonflikt

Ein Beispiel für die Verarbeitung von Information könnte so aussehen: Frank, 12 Jahre alt, spielt für sein Leben gerne Max Payne, einen cineastischen, brutalen Shooter und Index-Bewohner. Als er die Kugeln in Zeitlupe im Ziel einschlagen sieht und das Blut an die Wand spritzt, denkt er: "Das ist ja so cool!" Nun betritt Franks Mutter das Zimmer. Sie kennt Gewalt nicht im Kontext eines künstlichen Spielplatzes, sondern aus den Nachrichten, wo sie gerade von steigenden Verbrechensraten gehört hat. Sie ist wütend und nimmt ihrem Kind das Spiel ab. Genau hier liegt der Hund begraben: Das Kind möchte das Spiel spielen, weil es merkt, was es tatsächlich ist: Ein Spiel, das seinen eigenen Regeln folgt, das in seiner eigenen Fantasiewelt spielt und das nichts mit dem wahren Leben zu tun hat. Franks Mutter dagegen ist darüber besorgt, was sie sieht: Gewalt gegen menschliche Feinde. Sie ist besorgt darüber, dass ihr Sohn derartige Spiele mag, vielleicht auch deshalb, weil es offiziell nicht für sein Alter geeignet ist. Warum jedoch mag Frank das Spiel? Welcher evolutionäre Mechanismus ist dafür verantwortlich, dass Frank etwas gut findet, was seine Psyche angeblich schädigt?

Monster töten

Jeder Spieler wählt Spiele aus, die zu seiner Lebenswelt, zu seinen Fähigkeiten und zu seinen Gefühlen passen. In diesem Fall bedeutet dies nicht, dass Frank ein Polizist ist, der sich für den Mord an seiner Frau rächt, wie der Charakter Max Payne es tut. Es bedeutet viel mehr, dass der Junge ein Alter erreicht hat, in dem sein Bedürfnis, sich stark zu fühlen, groß ist, denn es ist notwendig, um eine individuelle Persönlichkeit zu entwickeln und Ängste zu bekämpfen. Und das "Töten" von Hundertschaften waffenstarrender Gegner in einer virtuellen Welt lässt ihn sich stark fühlen.

Weg mit der Glotze, her mit dem PC

Seine Mutter macht sich auch deshalb Sorgen, weil sie befürchtet, dass Frank Fantasie und Realität nicht auseinander halten kann. Tatsächlich ist er dazu sehr wohl in der Lage und er tut es auch: Über diese Eigenschaft verfügen Kinder ab dem dritten Lebensjahr. Unter diesem Alter sollte man Kinder allerdings von Fernseher und Konsole fern halten, denn wie Studien zeigen, hat dies negative Auswirkungen auf ihre späteren Schulleistungen. Auch in Franks Alter, für Kinder bis zum 15. Lebensjahr, empfiehlt es sich nicht, ihnen eigene Fernseher in ihr Zimmer zu stellen. Dosierter Fersehkonsum jedoch kann in den Altersgruppen zwischen drei und fünf Jahren einen positiven Einfluss auf Lesekompetenz und Kurzzeitgedächtnis haben. Auch über diesem Alter spricht nichts gegen gelegentliches Fernsehen. Jedoch: Kinder, die statt einen eigenen Fernseher einen Computer ihr Eigen nannten, zeigten bessere Fähigkeiten im Lesen und Rechnen.

Sollte Frank nun trotzdem noch versuchen, die Regeln seiner Spiele auf die Realität zu übertragen, obwohl er es besser weiß, zum Beispiel die Regeln von einem Beat 'em up wie Dead or Alive, indem er seine Freunde verprügelt, dann wird er über die Reaktionen seiner und ihrer Eltern mäßig begeistert sein und es in Zukunft unterlassen. Sehr bald wird er auch die Regeln der Realität kennen lernen, die ihm bislang entgangen sind. Dieser Vorgang heißt Lernen. Und Lernen ist nicht immer angenehm.

Mediengewalt und Aggression

Es gibt Medienvertreter, - vor allem beim Nachrichtenmagazin Frontal 21 des ZDF, das schon lange mit unausgewogenen Kommentaren zum Thema auffällt und sich rühmt, für die Kurzschlussreaktionen der Politik verantwortlich zu sein - die behaupten, dass Videospiele aggressiv machen. Dies kann tatsächlich passieren. Aber was ist Aggression? Aggression ist ein Zustand von Körper und Geist, in welchem die Konzentrationsfähigkeit aktiver ist, die Aufmerksamkeit höher ist und in welchem wir insgesamt aufgeregter sind, als im "Normalzustand". Action in Medien führt normalerweise zu höherer Aggression. Aktionsreiche Handlung kann sowohl gewalttätige Züge tragen, ob nun in Form eines Spiels, Films oder Buchs, oder sie kann aus einer Kreatur namens Tinky-Winky bestehen, die umher springt und winkt. Das ist unwichtig, denn alles hat den selben Effekt: Aggression. Im Falle von Tinky-Winky gilt dies besonders für erwachsene Zuschauer...

Nun sollten wir uns bewusst machen, dass dieser Zustand von Körper und Geist völlig normal ist und nicht notwendigerweise zu gewalttätigem Verhalten führt. Aggression kann auch durch Sport reduziert werden, oder durch die Teilnahme an einer politischen Demonstration, oder einfach dadurch, dass man das Spiel beendet, das sie ausgelöst hat, respektive die spannende Stelle zu Ende liest oder den Film fertig ansieht. Wenn diese Aggression jedoch in Gewalt gegen Menschen umschlägt, so ist das nicht das Ergebnis irgendwelcher Fantasiewelten. Es ist das Ergebnis unserer subjektiven Vorstellung von dem, was Realität ist! Ein gutes Beispiel dafür ist das Fernsehen der Vereinigten Staaten nach den Anschlägen auf das World Trade Center: Nichts als einseitige Berichte über Kriminalität, Kriege, Kämpfe und Terror, teils sogar auf fiktiver Grundlage. Der eigentliche Psycho-Terror ist eine solche Berichterstattung und es verwundert nicht, dass sie die Menschen verängstigt. Wie die Schlange in der Ecke werden sie nach dem Feind schnappen. Geliefert wird der Feind von den Medien, denn vor allem sie sind für die Konstruktion der Wirklichkeit, insbesondere der fernsehbegeisterten Amerikaner, verantwortlich. Dies ist einer der Gründe, warum es eine Verbindung zwischen der Menge an Medienkonsum und sozialer Aggression gibt. Und es ist der Grund, warum so viele Menschen brutale Videospiele verbieten wollen: Sie sind die neuen Feinde, welche die Medien geschaffen haben, die neuen Verantwortlichen für jedes Problem, die Sündenböcke des 21. Jahrhunderts.

Die Ursprünge medialer Gewalt

Woher kommt die hohe Nachfrage nach gewalttätiger Unterhaltung? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir eine Reise zurück in die Zeit der maßgeblichen Entwicklung des menschlichen Gehirns unternehmen und den Menschen der Steinzeit besuchen. Hier steht er nun, nennen wir ihn Fred, auf einem kleinen Hügel und betrachtet eine Mammut-Herde, die er jagen und töten muss, damit sein Stamm überleben kann. Bevor er seinen ersten Speer schleudert, greift eine konkurrierende Gruppe Jäger in das Geschehen ein. Sie erschlagen Fred mit einer Keule. Freds Stammesangehörige können das nicht dulden und springen aus ihrem Versteck hervor. Sie werfen ihre überlegenen Speere auf die Konkurrenten und zeigen ihnen, was es heißt, zur technischen Elite zu gehören.

Etwa zwei Millionen Jahre später steht das virtuelle Gegenstück unseres Jungen Frank, ebenfalls Fred genannt, auf einem kleinen Hügel und betrachtet die gegnerische Flagge. Er plant, sie zu stehlen, um sie mit in seine eigene Basis zu nehmen und so zu punkten. Bevor er jedoch eine erste Granate auf den Flaggenwächter schleudert, greift das gegnerische Team ins Geschehen ein. Sie erschießen Fred mit einer Rakete. Freds Team-Mitglieder können das nicht dulden und springen aus ihrem Versteck hervor. Sie feuern mit einem Redeemer, einer Massenvernichtungswaffe, auf ihre Gegner, und zeigen ihnen, was es heißt, zur technischen Elite zu gehören.

Der Unterschied zwischen diesen beiden Geschichten besteht darin, dass Frank nur einen Ego-Shooter spielt, namentlich den Index-Bewohner Unreal Tournament, in welchem die Gegner sehr viel simpler handeln als echte Menschen, weil sie Computer-Programme sind - den Online-Modus des Spiels vergessen wir für einen Moment. In Franks Fantasie jedoch wird die Spielfigur Fred zu einer Reflektion seiner primitiven Natur, die noch irgendwo in ihm schlummert. In unserer Zivilisation ist nicht mehr viel übrig geblieben, um einem Mann die Chance zu geben, so zu handeln, wie es ihm seine Natur befiehlt. Und das ist gut so: Gewalt ist in der Regel keine Lösung für die Probleme des realen Lebens, außer in speziellen Fällen wie Notwehr.

Auf der einen Seite ist es ein großes Glück, dass unsere Gesellschaft echte Gewalt nicht toleriert. Auf der anderen Seite ist es unbedingt notwendig, uns den Rückzugsort Fantasie zu lassen. Es ist unabdingbar, dass wir einen Ort haben, in dem wir so handeln können, wie es unsere Kultur-unabhängigen Instinkte von uns verlangen. Dies gilt natürlich auch für Frauen, denn wie man an den zahlreichen weiblichen Anhängern der Gothic-Szene erkennen kann, sind auch diese für Horrorvideos und -spiele zu haben.

Selbst, wenn sich die wichtigsten Prozesse nur in unserer Fantasie abspielen: Virtuelle Welten bieten uns einen Platz, wo wir unsere Gefühle verarbeiten können. Es gibt eine Korrelation zwischen echter Gewalt, den Ängsten, denen wir ausgesetzt sind und der Nachfrage nach gewalttätiger Unterhaltung. Hier die große Überraschung: Gewalt ist nicht das Resultat blutiger Unterhaltung, sondern die Nachfrage nach blutiger Unterhaltung ist, neben anderen Faktoren, das Resultat echter Gewalt! Lassen Sie uns Gerard Jones das Wort erteilen, Autor eines der besten Bücher über fiktive Gewalt. Er analysiert die Korrelation zwischen den Ereignissen der 1960er Jahre und den Filmen dieser Zeit:

"[...] steigende Verbrechensraten, Auftragsmorde und der Krieg in Vietnam haben die Ängste der Öffentlichkeit vor Gewalt zu unvorhergesehenen Ausmaßen ansteigen lassen - worauf äußert brutale, schockierende Filme wie Bonnie und Clyde, The Wild Bunch und Rosemary's Baby alle Box-Office-Erwartungen weit hinter sich gelassen haben." (Übersetzt aus dem Englischen: Gerard Jones: Killing Monsters, Seite 97-98)

Psychopathen?

Jones präsentiert auch die Gründe für weitere Trend-Wellen brutaler Filme, die sehr ähnlich aussehen. Außerdem zeigt er auf, dass Menschen, vor allem Jugendliche, die täglich mit realer Gewalt konfrontiert werden und dieses Verhalten nicht übernehmen möchten, sehr viel öfter gewalttätige Unterhaltung konsumieren als Jugendliche in "normalen" Verhältnissen. Dies ist der Fall, weil solche Unterhaltung ihnen hilft, ihre Spannungen zu kontrollieren. Insgesamt betrachtet sind brutale Medienprodukte eine Metapher für den Wunsch, in einer einfachen Welt zu leben. Die Menschen wissen sehr genau, dass sie ihrem verhassten Chef nicht einfach eine Keule an den Kopf donnern können. Sie brauchen jedoch die Möglichkeit, sich das vorzustellen, so hart es auch klingen mag. Es gibt ein weiteres, sehr schönes Zitat von einer Freundin von Gerard Jones, die er einfach "Anne" nennt. Sie ist, laut Jones, heute eine Englisch-Professorin und eine bekannte Autorität auf dem Gebiet "Wechselnde Vorstellungen des Geschlechts und des Körpers in der Massenkultur". Auf Jones Frage, warum sie wütenden Punk, Death Metal, Gothic-Stil und brutale Horror-Filme in ihrer Jugend mochte, antwortete sie:

"[...] es hat mir gezeigt, dass ich mit diesen Gefühlen nicht allein war. Ich hatte Worte, oder zumindest Bilder, für das, was ich fühlte. Und ich fand andere Menschen, die meinen Geschmack teilten. Wenn ich in einem Club oder einem Film war, oder wenn ich mir mit meinen Freunden eine Kassette anhörte, dann wollte ich mich nicht mehr umbringen." (Übersetzt aus dem Englischen: Gerard Jones: Killing Monsters, Seite 5)

Sebastian B. favorisierte ebenfalls brutale Unterhaltung, lief jedoch Amok. Was hat er zu dem Thema zu sagen?

"Ich bin kein verdammter Psychopath! Es sind nicht die Airsoft-Waffen oder die Musik, die mich Leute umbringen lassen, du bist es! Airsoft-Waffen haben mir geholfen, zu treffen, worauf ich ziele! Musik hat mir geholfen, wenn es mir miserabel ging." (Übersetzung aus dem Englischen von Sebastian B.s Tagebucheintrag vom 17.11.06, veröffentlicht bei Stern.de)

Die Aussagen eines Amokläufers werden offenbar nicht bewusst gelesen oder als Äußerungen eines Verrückten abgetan. Eine schnelle und bequeme Antwort, die uns davon abhält, ernsthaft über das Thema nachzudenken und womöglich zum selben Ergebnis zu kommen wie der Kriminalpsychologe Thomas Müller in seinem brillianten Buch Die Bestie Mensch:

"Wir verwenden zu rasch die Worte: 'er ist anders, krank, irre und ein Psychopath', dabei vergessend, dass wir uns selbst damit der Normalität bezichtigen." (Thomas Müller: Die Bestie Mensch, Seite 212)

Es ist endlich an der Zeit für unsere Gesellschaft, ihr negatives Bild gewalthaltiger Medienprodukte zu überdenken. Es gibt, im Gegenteil, zahlreiche positive Zwecke von Gewalt-Fantasien: Zunächst einmal geben sie uns Zugang zu unseren Emotionen. Beispielsweise der Film Equilibrium: Er zeichnet das Bild eines Mannes, der lange Zeit Teil der Elite-Kämpfer einer fiktiven Regierung war. Es handelt sich dabei um eine Schein-Demokratie, welche die menschliche Emotion verbot, offiziell, um Kriege und Straßengewalt zu bekämpfen. Tatsächlich missbraucht sie das Gesetz, um ihre Macht als Diktatur zu erhalten. Eines Tages hört der genannte Mann, Joe Preston, auf, seine Anti-Gefühls-Droge zu nehmen. Er beginnt, an seiner Aufgabe, dem Mord an fühlenden Menschen, zu zweifeln. Am Ende tötet er allein über 50 Polizisten in einem beeindruckenden Gefecht. Er befreit die Menschen.

Dieser Film befiehlt uns nicht, Polizisten zu töten. Er sagt uns vielmehr, dass wir als Individuen die Macht haben, auch große Probleme zu lösen. Er gibt uns ein positives Bild von unserer Fähigkeit, die Welt zu verändern. Wir befinden uns auf einer psychologisch-metaphorischen Ebene und auf keiner anderen Ebene ist Kunst zu verstehen. Man kann zum Beispiel feststellen, dass Leonardo Da Vincis Porträt einer Dame mit Hermelin mit Ölfarben auf Holz gemalt wurde. Wer ernsthaft meint, damit das Wichtigste zu dem Gemälde gesagt zu haben, der sollte einen Respektsabstand von 1000 Metern von jedem Kunstmuseum einhalten. Das gleiche Prinzip wie für Equilibrium gilt auch für Superhelden-Comics oder Shooter-Videospiele: Sie können unser Selbstvertrauen erhöhen, was besonders bei pupertierenden Jugendlichen wichtig ist. Sie sagen uns, dass nicht alles verloren ist. Mit Hilfe solcher Filme, Comics, etc. können wir unsere Spannungen und Gefühle kontrollieren. Indem wir das tun, beruhigen wir uns angesichts echter Gewalt, so dass wir in der Lage sind, sie besser einzuschätzen und vernünftiger auf sie zu reagieren, anstatt einfach jemandem umzubringen oder etwas zu verbieten, was wir für unsere Probleme verantwortlich machen. Mit Hilfe der Kunst, die wir individuell und frei wählen, überstehen wir emotionale Herausforderungen und erreichen einen höheren Entwicklungsgrad.

Die Bestie Mensch?

Wenn dem so ist, warum haben dann auch Befürworter eines Spieleverbots Studien im Angebot, die ihre Kritikpunkte scheinbar belegen? Der Kulturwissenschaftler Lawrence Grossberg erklärt, wie wissenschaftliche Erkenntnisse missbraucht und verfälscht werden können:

"(...) die akademischen Auseinandersetzungen zeigen, wie einfach es ist, empirische Unterstützung für viele Interpretationen der Welt zu finden; einen Aspekt der Realität isolierend, ihn aus seinem konkreten Zusammenhang heraus abstrahierend und sein spezifisches Wesen ignorierend, kann man bequem 'Beweise' finden, mit ihrer absoluten Macht, die Welt zu definieren und zu interpretieren." (Übersetzt aus dem Englischen: Lawrence Grossberg: MTV: Swinging On A (Postmodern) Star)

Wir leben noch immer in einer repressiven Gesellschaft. Einer Gesellschaft, die Kindern sagt, dass sie die Unterhaltung, die ihnen gefällt und die nützlich für ihre natürliche Entwicklung ist, nicht nutzen dürfen und dass Personen, die gewalthaltige Unterhaltung mögen, irgendwie "psycho" sind. Sie sind aber keine Psychopathen und Leute, die sie für solche halten, sind ebenfalls keine Psychopathen, sondern sie missverstehen Kunst als wörtlich und eindimensional. Tatsächlich ist sie im psychologischen Sinne metaphorisch und mit vielen komplizierten, individuellen Bedeutungs- und Wirkungsebenen versehen. Lasst uns diesen Teil beenden mit einem weiteren Zitat:

"In der Einbildung böse und zerstörerisch zu sein ist ein heilsamer Ausgleich für die Wildheit, die wir alle auf unserem Weg aufgeben müssen, der zum Ziel hat, uns zu guten Menschen zu machen. [...] Die friedlichsten, einfühlsamsten, humansten Kinder sind oft diejenigen, die von der gewalttätigsten Unterhaltung angezogen werden." (Übersetzt aus dem Englischen: Gerard Jones: Killing Monster, Seite 11)

 

Ausblick

Teil 3 unserer Artikelreihe zum Thema Mediengewalt klärt über die Gründe auf, warum sich so viele Menschen für gewalttätige Videospiele begeistern, was ihre Vor- und Nachteile sind und wie sich reale und virtuelle Gewalt voneinander unterscheiden.

Andreas Müller

 

 

Quellen (Teil 2)

Rötzer, Florian: Virtuelle Welten - Reale Gewalt. Heinz Heise. Hannover 2003

Jones, Gerard: Killing monsters: why children need fantasy, super heroes and make-believe violence. Basic Books. United States of America 2002

Müller, Thomas: Bestie Mensch. Tarnung. Lüge. Strategie. Rowohlt Taschenbuch Verlag. Reinbek bei Hamburg 2006

Grossberg, Lawrence: MTV: Swinging On A (Postmodern) Star. Cultural Politics in Contemporary America. Hrsg.: Angus and S. Jhally. New York: Routledge, 1989.

Im Artikel verlinkte Webseiten und weiterführende Literatur