Teil 3: Gefahren und Vorzüge virtueller Gewalt

Vorzüge virtueller Gewalt? Warum spielen so viele Menschen brutale Computerspiele?

 

Landschaftsarchitekten

Warum nicht Spiele vorziehen, in denen man Bäume pflanzt oder ähnliches? Zunächst einmal: Es gibt in der Tat Spiele, in denen man Gärten anlegen und pflegen muss. Sie sind keineswegs unpopulär. Beispiele sind Harvest Moon und neuerdings Viva Pinata für die Xbox 360, welche beide hohe Wertungen in Fachmagazinen einheimsen konnten. Beide Spiele sind komplett gewaltfrei. Videospieler lieben es, Gärten anzulegen. Warum lieben sie auch virtuelle Gewalt?

Macht und Kontrolle

Zunächst einmal können Spiele für die Verarbeitung von Aggression eingesetzt werden, was in Teil 2 unserer Artikelreihe bereits erläutert wurde. Sie können auch das Selbstvertrauen erhöhen. Dies ist deshalb möglich, weil Videospiele eine Simulation von Macht und Kontrolle darstellen. Der Spieler hat die Macht, in einer virtuellen Welt ganze Diktaturen zu zerstören oder Figuren zu "töten", die Massenmörder abbilden. Die vielbeschworenen Kinder, die man angeblich in so vielen Spielen erschießen muss, existieren nicht. Es gibt kein einziges Spiel, in denen man Kinder erschießen kann, selbst unter den beschlagnahmten Titeln nicht, wobei diese Behauptung im Kampf gegen böse Computerspiele natürlich sehr effektiv ist. In virtuellen Welten kann der Spieler aktiv handeln, ganz im Gegensatz zu seiner Machtlosigkeit und seinem Zwang, vernünftig zu handeln, denen er in der Realität ausgesetzt ist. Es gibt sogar einige Computerspiele, wie die erfolgreiche GTA-Reihe, welche dem Spieler die Möglichkeit geben, in die Rolle eines Kriminellen zu schlüpfen. Er kann praktisch alles tun, was er möchte, ohne dafür real bestraft zu werden oder echten Schaden anzurichten.

Spiel, Spaß und Spannung

Dies ist der geheime Wunsch vieler Millionen Menschen weltweit, endlich ermöglicht in einer virtuellen Welt und zum Glück nicht in der Realität. Videospiele könnten das Selbstvertrauen jedoch niemals so stark erhöhen, wie es echte Anerkennung vermag. Das ist der Grund, warum viele Spieler eher zurückhaltend über ihr Hobby reden - die Gesellschaft toleriert sie nicht. Auch kaum toleriert werden Ego-Shooter, die online gespielt werden, obwohl sie oft sehr spannend und herausfordernd sind. In diesen Sport-ähnlichen Wettbewerben, nicht ohne Grund E-Sport genannt, können sich Spieler von überall her über das Internet oder Netzwerk bekriegen oder miteinander kooperieren. Videospiele sind Computerprogramme und als solche nicht im Geringsten interessiert an Unterschieden zwischen Rassen, Kulturen oder Religionen. Jeder muss den selben Regeln gehorchen, die jedem bekannt sind. Auf diesem Wege kann man Mitspieler in Japan, den USA oder sogar Brazilien finden, wo kaum jemand einen PC besitzt. Selbst Menschen, die sich im realen Leben nicht gerade freundlich gegenüber stehen, vertragen sich zumindest so lange, wie sie ein virtuelles Gefecht gegeneinander austragen.

Ein Spiel zu gewinnen erfordert nämlich einen hohen Grad an Konzentration, welcher den Konrahenten keine Zeit lässt, ihr Gegenüber zu hassen, weil sie stattdessen Strategien entwickeln müssen, um das Spiel gewinnen zu können. Letztendlich ist es enorm faszinierend, Teil einer Fantasiewelt zu sein und sie aktiv zu beeinflussen. Im Action-Rollenspiel Diablo kann der Spieler entscheiden, ob er andere Spielfiguren, die er online trifft, bekriegen will, mit ihnen handeln möchte, oder sogar mit ihnen gegen den Teufel persönlich anzutreten gedenkt. Währenddessen kann er sich mit seinen Mitspielern in einem Chat in der unteren Hälfte des Bildschirms unterhalten. Es gibt auch Kriegs-Simulationen wie Medal of Honor, von Steven Spielbergs Firma Dreamworks, in welchem die berüchtigsten Schlachten des Zweiten Weltkriegs erneut ausgefochten werden können.

Videospiele als Therapie

Man stelle sich einen Kriegsveteran vor, der sich durch das Spiel kämpft und sagt: "Nein, diesmal werde ich meine Kameraden nicht sterben lassen, diesmal werde ich sie beschützen und die richtigen Entscheidungen treffen". Und all das, ohne an einem weiteren realen Krieg teilzunehmen. Noch einmal muss darauf hingewiesen werden, dass sich ein solches Spielerlebnis von den realen Erfahrungen eines Veteranen grundlegend unterscheidet, aber: In der Kombination seiner eigenen Erfahrungen und seiner Fantasie mit dem Spiel kann er die Grausamkeiten des Krieges endlich verarbeiten und aus seinen Träumen verbannen. Letztendlich kann jeder durch Computerspiele der Realität für ein paar Stunden entkommen und Teil einer fantastischen Welt sein, die ihn mal intensiver, mal weniger intensiv in den Bann zieht, als es Bücher oder Filme können.

Spieler und Zuschauer

Lassen Sie uns zum Beispiel von Frank zurückkehren, der brutale Computerspiele mag und seiner Mutter, die sich über ihre negativen Effekte Sorgen macht. Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen dem passiven Zuschauer, in diesem Fall die Mutter, und dem aktiven Benutzer, hier ein Junge namens Frank. Die Wahrnehmung der Mutter besteht nur aus der visuellen und akustischen Präsentation des Spiels. Franks Wahrnehmung dagegen basiert auf den Regeln und Strukturen des Spiels, mit dem er sich beschäftigt. In diesem Fall folgt seine Konzentration der Spielfigur Max Payne, die er davor bewahrt, von einer feindlichen Figur "erschossen" zu werden, indem er Max dazu veranlasst, sich zu ducken oder den Kugeln durch einen Hechtsprung auszuweichen.

Die Funktion von rotem Blut

Außerdem muss Frank selbst in Schießereien bestehen, indem er Ziele trifft. Blut dient hier als Indikator für Treffer und als optische Dekoration. Wenn Blut läuft, ist das Ziel getroffen. Rot ist die Farbe mit der geringsten Streuung, sie ist also selbst über größere Entfernungen gut sichbar. Dies ist einer der Gründe, warum rot sowohl in der Natur als auch im Straßenverkehr als Signal- und Warnfarbe dient. Man erinnere sich an Ampeln, Stopschilder oder rote Giftschlangen und -Frösche. Blut ist nun einmal rot, was, wenn dies auch im Spiel der Fall ist, die Schießereien glaubwürdiger macht und somit der Dramatik dienlich ist. Der Filmfan würde einen Historienstreifen auch nicht ganz ernst nehmen, in dem Cäsar nicht einmal blutet, nachdem er von Brutus erstochen wurde. Aufgrund deutscher Gegebenheiten wird die Farbe des Blutes oft in blau oder grün verändert, oder die menschlichen Feinde gegen Cyborgs ausgetauscht, was in Zweite-Weltkriegs-Spielen einen ungewollten Effekt erzeugt: Man lacht über dieses auch in Spielen ernsthafte Thema, was man ohne "Entschärfung" nicht getan hätte.

Das virtuelle und das wahre Leben

Im folgenden Abschnitt wollen wir einen Blick auf mehrere Belege für folgende These werfen: Es ist prinzipiell unmöglich für einen durchschnittlichen Spieler, virtuelle Welten mit der Realität zu verwechseln. Durchschnittlich ist ein Spieler, der nicht von Früh bis Spät vor dem Bildschirm hängt und ausschließlich in der World of Warcraft lebt. Zunächst einmal: Die Strukturen und Regeln von Spielen unterscheiden sich grundlegend von denen der Realität. Beispielsweise enthält der Team-Tactic-Shooter Counterstrike folgende Regeln in einem seiner Spielvarianten: Ihr Counter-Terrorist und Ihre Team-Mitglieder müssen eine Bombe ausfindig machen und sie entschärfen, während Terroristen versuchen, Ihre Gruppe davon abzuhalten, indem sie auf Ihre Spielfigur und auf Ihr Team schießen. Das Prinzip ähnelt dem des Kinderspiels Doppeltes E, welches Mancher vielleicht noch aus seiner Grundschulzeit kennt. Eine Spielgruppe muss den Buchstaben E ausfindig machen und zerstören, der mit Hölzern gebildet und irgendwo in der Landschaft versteckt wird. Die gegnerische Gruppe muss ihre Kontrahenten fangen, bevor sie das E erreichen. Dies und nicht mehr ist für die Spieler von Bedeutung, um ihre Ziele zu erreichen und das Spiel zu gewinnen. Es gibt keine toten Menschen, es gibt nur Spielfiguren auf einem virtuellen Spielbrett. Jene werden allein deshalb nicht getötet, weil sie sich kurze Zeit später wieder am Startpunkt einfinden, falls sie getroffen wurden. Spieler sagen oft "Es ist doch nur ein Spiel!", wenn sie ihr liebstes Hobby gegen ungerechtfertigte Angriffe verteidigen. Sie sind sich nicht bewusst, dass sie Menschen erschießen, einfach darum, weil sie keine Menschen erschießen. Wir sollten uns daran erinnern, was ein Spiel eigentlich ist.

Alles nach Drehbuch

Um ein Spiel zu gewinnen, müssen Spieler bestimmte Skripte lernen. Es handelt sich um Abfolgeregeln für Kettenhandlungen aus Aktionen und Reaktionen. Zum Beispiel lernen sie, wann sie den A-Knopf drücken müssen, um ihre Figur Lara Croft springen zu lassen, um den rollenden Felsbrocken in Tomb Raider auszuweichen, und wann sie auf den X-Knopf drücken müssen, um den T-Rex zu erschießen, der auf die rollenden Felsbrocken folgt. Aber wo sind A- und X-Knopf im wahren Leben? Wo sind die rollenden Steine und wo ist der T-Rex? Sie existieren nicht. Darum kann der Spieler Skripte, die er im Spiel gelernt hat, nicht einfach so auf die Realität übertragen.

So leicht ist es allerdings nicht. Es gibt zum Beispiel so genannte Lightgun-Shooter, für welche der Spieler eine Plastikpistole verwendet, von denen manche wie echte Waffen aussehen. Mit dieser zielt er auf den Bildschirm und schießt dort auf Zombies oder den jeweiligen Gegner des Spiels. Dieser verhält sich jedoch in keiner Weise wie ein Mensch. Vor allem nicht in Lightgun-Shootern. Die virtuellen Gegner verfügen über keine Psyche. Sie können sich höchstens ducken, aus den Weg springen oder schießen. Wenn ein Spieldesigner der Presse erzählt, dass er eine künstliche Intelligenz erschaffen habe, wie man sie noch nie zuvor gesehen hat, dann heißt das für gewöhnlich etwa, dass das Spielprogramm nun gegnerische Figuren vom Aufenthaltsort der Spielerfigur informiert, wenn sie von einer Kamera entdeckt wurde. Es handelt sich nach wie vor um vergleichsweise einfache Programme und jeder, der schon einmal eine Programmiersprache verwendet hat, weiß, wie abwegig es ist, von "Menschen, die ermordet werden" zu reden, wenn es um Spiele geht. Wir sind sehr weit davon entfernt, ein Programm zu entwickeln, das der menschlichen Psyche ähnelt und selbst, wenn dies gelänge, würde man diese Figuren nicht einfach so in Ballerspiele einbauen. Wenn der Spieler einen virtuellen Gegner "erschießt", dann ist das nichts weiter als ein Schalten von 0 auf 1, was eventuell eine Todesanimation einleitet.

Was ist reale Gewalt?

Reale Gewalt ist, wenn ein Mensch einem anderen Menschen Verletzungen zufügt, ob psychisch oder körperlich, wenn man möchte, auch die Gewalt zwischen Mensch und Tier oder, man müsste eigentlich sagen, zwischen Menschen, Tieren und Pflanzen. Man erinnere sich an die Erläuterungen über die Verarbeitung von Information in Teil 2 unserer Artikelreihe: Unsere Auffassung der Realität ist auf das beschränkt, was man uns als real präsentiert - auch darauf, was wir uns selbst unter der Realität vorstellen - und was in einem bestimmten Verhältnis zu unseren Erfahrungen steht. In den Nachrichten gibt es normalerweise kein Blut zu sehen, keine Leichenteile und keine brutalen Schießereien. Das Ergebnis dieser Berichterstattung ist, dass unsere Vorstellung von realer Gewalt normalerweise kein oder nur wenig Blut enthält, vor allem keine schweren Verletzungen. Die Nachrichten werden zensiert, hierzulande weniger durch den Staat - allerdings auch, wie wir noch sehen werden -, sondern vor allem durch die Medien, also diejenigen, welche die Informationen letztendlich aufbereiten. Wir verfügen also nur über einen kleinen, noch dazu verfälschten, Ausschnitt der Realität. Natürlich müssen Journalisten sensibel mit dem Thema umgehen und Rücksicht auf die Hinterbliebenen nehmen. Trotzdem: Es ist erforderlich, den Krieg als das zu zeigen, was er nun einmal ist: Ein brutaler Kampf zwischen Menschen, der alles Leben in Kriegsgebieten in Mitleidenschaft zieht. Krieg ist kein sauberes High-Tech-Feuerwerk. Wenn die Unmenschlichkeit und Brutalität eines Krieges geheim gehalten wird, wie wir es während des Irak-Kriegs beobachten konnten, dann wird die öffentliche Meinung den Krieg viel eher befürworten.

Man erinnere sich an die Folterbilder von Abu Ghraib, Guantanamo oder Vietnam. Wir verknüpfen diese Begriffe mit bestimmten Vorstellungen, welche uns die Schrecklichkeit des Krieges vor Augen führen. Dabei sind diese Fotos nichts Besonderes. Solche Grausamkeiten geschehen jeden Tag, worüber zum Teil auch berichtet wird. Diese speziellen Folterbilder jedoch wurden nicht zensiert und sie wurden global gezeigt. Dadurch hatten sie einen erheblichen Einfluss auf die öffentliche Meinung, viele Pazifisten waren die Folge. Für brutale Videospiele heißt das: Die Gewalt eines Spieles hat nichts mit dem zu tun, was uns tagtäglich als echte Gewalt verkauft wird, und auch nichts mit dem, wie echte Gewalt tatsächlich aussieht und wie wir sie wahrnehmen. In besonders brutalen Spielen wie Quake, Doom oder Unreal wirkt die Gewalt übertrieben, Cartoon-ähnlich, fast lächerlich. Zerlegt man eine Spielfigur, ist sie im nächsten Wettkampf wieder da und man kann sie erneut zerlegen.

 

Die Vorzüge virtueller Welten

Bezieht man alle Argumente mit ein, könnte man sagen, dass sich virtuelle Gewalt grundlegend von realer Gewalt unterscheidet und insofern ungefährlich ist, außer in sehr speziellen Fällen, die weiter unten noch erläutert werden. Das bedeutet, dass wir gegenüber realer Gewalt nicht gleichgültig werden oder sie ausüben können, allein dadurch, dass wir gewalthaltige Videospiele nutzen. Es bedeutet ferner, dass ein direkter Transfer zwischen virtuellen Welten und der Realität ausgeschlossen werden kann. Der wichtigste Beleg für diese These sind die unterschiedlichen Regeln und Strukturen von Spiel und Wirklichkeit, die auch bei sehr "realistisch" anmutenden Spielen gegeben sind.

Im Dienste der Kunst

Wenn wir immer nur die Gefahren von Videospielen im Blick haben, fällt es schwer, auch ihre Vorteile zu sehen. Neben den bereits erwähnten gibt es davon zahlreiche: Videospiele erhöhen das Interesse an künstlerischer Betätigung. Zum Beispiel benutzen sehr viele Menschen den Editor von Doom 3, mit welchem man Charaktere und Umgebungen erstellen kann. Allein zur Final-Fantasy-Reihe gibt es unzählige Zeichnungen, Geschichten und musikalische Interpretationen, die Fans auf Grundlage ihrer Spiele gestalten. In diesem Video spielt ein Schulorchester die Titelmusik des Ego-Shooters Halo nach.

Der bildliche Raum

Spiele verbessern des Weiteren das räumliche Vorstellungsvermögen, welches etwa in Geometrie und bildender Kunst unverzichtbar ist. Insbesondere Ego-Shooter trainieren die Fähigkeit des Spielers, Entfernungen abzuschätzen und sich dreidimensionale Umgebungen vorzustellen. Dies liegt darin begründet, dass man diese Spiele in Profi-Ligen nur gewinnen kann, wenn man die Level auswendig kennt und sie während des Spielens im Hinterkopf behält. Außerdem muss man die Geschwindigkeiten der Projektile und ihr Verhalten im Raum richtig abschätzen können.

Probleme lösen

Die Konzentrationsfähigkeit wird ebenfalls durch den Gebrauch von Videospielen verbessert, denn ohne absolute Konzentration sind manche Spiele nicht zu schaffen. Videospiele werden sogar in Therapien benutzt, um das das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS) zu bekämpfen. Vor allem durch die Nutzung von Strategie-, Rollenspiel- oder Adventure-Spielen wird das problemlösende Denken trainiert. Es müssen in diesen Spielen viele Rätsel gelöst werden, was auch Kombinationsfähigkeit erfordert. Die Reaktionsgeschwindigkeit wird vor allem durch Actionspiele erhöht, viele motorische Funktionen werden verbessert. Das ist der Grund, warum das amerikanische Militär Videospiele zum Training ihrer Soldaten einsetzt: Sie können danach besser zielen. Dass sie prinzipiell in der Lage sind, Menschen zu töten, das ist eine Fähigkeit, welche durch andere Elemente ihrer militärischen Ausbildung erzielt wird. Wäre das nicht so, könnten nur amerikanische Soldaten auf Feinde schießen, denn die meisten anderen Armeen verzichten auf Computerspiele zur Ausbildung.

Medienkompetenz

Besonders interessant ist, dass die Fähigkeit, Regeln zu analysieren und zu verstehen durch Videospiele gefördert wird. Das heißt, dass Spieler in der Lage sein müssen, die Regeln und Strukturen des jeweiligen Spieles zu verstehen, um es vernünftig spielen zu können. Ein Resultat davon ist, dass Spieler besonders gut darin sind, auch die Regeln der Realität zu verstehen, weil sich der Analyseprozess gleicht. Aus diesem Grund sind Videospiele auch Trainingsprogramme, um die Fantasie von der Realität besser unterscheiden zu können. Spiele fördern Medienkompetenz.

Die Nachteile virtueller Welten

Erst mit diesem Vorwissen können wir näher auf die möglichen Gefahren von Videospielen eingehen. Zunächst einmal gibt es die oft zitierte Bewegungsarmut, für die Fernsehen und Computerspiele verantwortlich sein sollen. Es ist wahr, dass ein guter Film oder ein gutes Spiel eine Person für eine gewisse Zeit davon abhalten kann, sich großartig zu bewegen. Es ist jedoch nicht wahr, dass sich Personen niemals wieder bewegen können, wenn sie erst einmal einen Film angesehen oder ein Spiel gespielt haben. Es ist ebenfalls nicht wahr, dass ein gutes Buch oder ein schönes Gemälde keine ähnliche Motivation darstellen könnten, die allgemeine Bewegungsfreudigkeit für einen Moment zu mäßigen. Warum sollten wir uns außerdem nicht ausruhen dürfen nach einem harten Arbeitstag?

Schatz, du bist so unsensibel

Ein weiteres schwaches Argument, das zunächst beeindruckend klingt, ist die Reduktion der Empathiefähigkeit durch Langzeit-Solo-Videospielen. Dieses Argument taucht im ansonsten sehr guten Psychologie-Fachmagazin Gehirn und Geist auf (vergl.: Ulrich Kraft: Nachkampf im Kinderzimmer. Gehirn und Geist 2/2003). Gerard Jones geht in seinem Buch Killing Monsters näher darauf ein. Es ist wahr: Eine Person, die mehr als fünf Stunden täglich damit verbringt, Videospiele zu zocken, wird unweigerlich Empathiefähigkeit einbüßen. Dies ist die Fähigkeit, zu fühlen, was andere fühlen, zu ahnen, was jemand anderes wahrnimmt und denkt, die Welt - im metaphorischen Sinne - mit den Augen eines anderen zu sehen. Es ist jedoch nicht wahr, dass diese Reduktion nur durch Videospiele ausgelöst wird. Tatsächlich ist es ganz egal, was eine Person über fünf Stunden am Tag so treibt - wenn es nichts mit sozialer Kommunikation zu tun hat, reduziert jede Aktivität oder Passivität unsere Empathiefähigkeit, aus dem schlichten Grunde, weil sie nicht trainiert wird. Dennoch: Falls eine Person aufhört, mit anderen Menschen zu kommunizieren, wird sie es schwer haben, den Weg zurück in die Gesellschaft zu finden.

Tamagotchi darf nicht sterben

In Japan, dem Land mit dem prozentual höchsten Videospiel-Konsum, gab es einmal einen Mann, der sich umgebracht hat, weil sein Tamagotchi "gestorben" ist, eine simple künstliche Intelligenz im Hosentaschenformat. Hierzulande tendierten die Leute eher dazu, die Batterien heraus zu nehmen oder das Ding einfach weg zu werfen. Man sollte es also nicht übertreiben mit dem Videospielen. Wenn der Kontakt zur Außenwelt verloren geht, wird es gefährlich.

Nur für kurze Zeit

Kommen wir nur zum Kurzzeiteffekt: Eine Person sieht sich einen spannenden Film an oder spielt ein spannendes Spiel und möchte nun das Verhalten kopieren, das sie gerade gesehen hat. Erneut halten sie die unterschiedlichen Regeln und Strukturen von Fantasie und Realität davon ab, sowie die eigenen Werte und Erfahrungen. Nicht selten ist auch folgende Problematik: Der Spieler ist gerade den rollenden Felsbrocken in Tomb Raider entkommen und möchte nun hinaus gehen und den T-Rex im wahren Leben erschießen, weil es gar so spannend ist. Sollte ihm das tatsächlich gelingen, ist ihm zwar eine einmalige Jagdtrophäe sicher, er wird sich jedoch mit schwierigen Fragen von Paläontologen und Tierschützern auseinandersetzen müssen.

Vom Kriegsspiel an die Front

Kommen wir zurück zum Beispiel der Kriegs-Simulationen. Ihr Pseudo-Realismus kann für instabile Persönlichkeiten ein Problem darstellen, vor allem, wenn sie ans Verlieren gewohnt sind oder wenn sie bereits zur Gewalt neigen. Der Grund ist, dass Spiele wie America's Army weitaus eher als Ideenquelle gebraucht werden können als Fantasy-Spiele, vor allem, wenn sie nicht brutal sind, weil sie so der Kriegsberichterstattung noch mehr ähneln. In diesem Fall sind die Verarbeitungsprozesse von Information oder die Regeln und Strukturen von Spiel und Wirklichkeit keine große Hilfe, weil eine solche Person möglicherweise gar keine Werte oder Erfahrungen hat, die sie davon abhalten würden, einen Mord zu begehen oder, wahrscheinlicher, auf die Propaganda hereinzufallen und Berufssoldat zu werden. Vielleicht ist sie nicht einmal mit den Regeln der Realität vertraut. Dies ist ein echtes Argument gegen Kriegs-Simulationen. Gewiss kann eine solche labile Person auch durch befreundete Soldaten auf diese Idee gebracht werden, aber Kriegs-Simulationen wie America's Army sind offen als Propaganda angelegt und sollen wirklich diesen Zweck erfüllen.

Es gibt jedoch keinen Grund, deshalb in Panik auszubrechen. Der Durchschnittsmensch verfügt über eine Tötungsblockade, die nur in Extremfällen durchbrochen werden kann. Diese Gefahr besteht also nur für sehr labile Menschen ohne Realitätsbezug und das auch nur bei diesen speziellen Spielen, die es nur in geringer Anzahl gibt. Das durchschnittliche Kriegsspiel hat nicht viel mit der Realität zu tun und folgt den einfachen Regeln eines Spiels, genau wie andere Action-Titel auch. Das Problem hängt außerdem eng mit der Kultur zusammen. Es dürfte nur selten vorkommen, dass Mord als Lösung für Probleme allgemein gesellschaftlich akzeptiert wird, was auch labile Menschen mitbekommen müssten.

Was auch unrealistische Action-Titel vermögen, ist das Interesse an Waffen zu steigern. Faszination für Waffen ist dennoch nicht das Selbe wie Menschen töten. Es ist kein Wunder, dass man in Shootern eine Vorliebe für eine bestimmte Waffe entwickelt, das bedeutet aber nicht, dass man eine echte Waffe kaufen möchte oder dass man die Legalisierung von Waffen befürwortet.

Es fällt auf, dass es in Deutschland eine weitaus größere Akzeptanz für realistische Kriegs-Simulationen gibt, als für Fantasy-Shooter wie Quake. Während letztgenannter Titel auf dem Index steht, sind Spiele wie America's Army ab 16 Jahren frei zu kaufen. Einfach nur deshalb, weil sie weniger oder kein Blut enthalten. Wenn man sich längere Zeit mit dem Thema Indizierung beschäftigt hat, gewinnt man unweigerlich den Eindruck, dass viele Jugendschützer über eine seltsame Art von Humor verfügen. Warum sollte man ein Spiel, das gezielt und offen Jugendliche für Krieg und Militär begeistern will, ab 16 Jahren freigeben und ein absurdes Fantasy-Gemetzel indizieren oder, wie etwa im Falle von Mortal Kombat, sogar beschlagnahmen?

Die Gefahren des Jugendschutzes

Der Versuch, die Jugend zu schützen, ist in bestimmten Fällen bestens dafür geeignet, die Jugend unnötigen Gefahren auszusetzen. Kehren wir zum Beispiel von Frank und seiner Mutter zurück. Sie verbietet ihrem Jungen das Spiel, das er so gerne spielt und schimpft ihn dafür, dass ihm so ein brutaler Schund gefällt. Es gibt zwei Möglichkeiten, wie Frank darauf reagieren könnte:

Möglichkeit 1: Frank spielt heimlich weiter und verliert sich immer mehr in seiner Fantasiewelt, auf die böse Erwachsene keine Macht ausüben können. Er verliert immer mehr den Kontakt zu seiner sozialen Umwelt, die er als ihm feindlich gesonnen versteht.

Möglichkeit 2: Er tut, was ihm seine Mutter sagt und hört auf zu spielen. Er fühlt sich schuldig, dass ihm so ein brutaler Schund gefällt und muss mit tiefen Selbstzweifeln kämpfen, ob er auch so eine Veranlagung zum Amokläufer hat, wie der Junge im Fernsehen, der seine Lehrer ermordete. Er verliert sein Selbstvertrauen, dessen Training vor allem in seinem Alter von höchster Bedeutung ist. Er hält sich für einen Psychopathen und beginnt, sich auch so zu verhalten, ganz im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung und genau so, wie es die Gesellschaft von ihm als Killerspiel-Fan erwartet.

Eltern und Jugenschützer, die ihre und fremde Kinder vor böser Unterhaltung schützen wollen, sollten lieber mit ihren Kindern reden und versuchen, zu verstehen, warum sie diese Kunstform bevorzugen. Andernfalls werden sie sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, dass sie die Spiele nicht für ihre Kinder verbieten lassen wollen, sondern weil sie selbst ein Problem mit Computerspielen haben und das gute alte Holzspielzeug vermissen, das es schon so lange gibt, dass selbst sie keine Angst davor haben. Terry Pratchett, Autor der Scheibenwelt-Romane, drückt es so aus:

"Viel früher vergaßen die Leute, daß es in den ältesten aller Geschichten früher oder später um Blut geht. Später nahmen sie das Blut heraus, weil sie glaubten, dadurch wären die Geschichten besser für Kinder geeignet - beziehungsweise für die Leute, die sie Kindern vorlasen (...). Anschließend fragten sie sich, was aus den Geschichten wurde." (Terry Pratchett: Schweinsgalopp S. 7)

Ausblick

Der abschließende 4. Teil unserer Artikelreihe klärt darüber auf, wie man den Gefahren von Computerspielen entgegentreten kann und wie sich Medienkompetenz fördern lässt. Es geht ferner um den Jugendschutz in Deutschland und darum, wie man ihn verbessern kann.

Andreas Müller

Quellen (Teil 3)

Rötzer, Florian: Virtuelle Welten - Reale Gewalt. Heinz Heise. Hannover 2003

Jones, Gerard: Killing monsters: why children need fantasy, super heroes and make-believe violence. Basic Books. United States of America 2002

Kraft, Ulrich: Nahkampf im Kinderzimmer. Gehirn und Geist 2/2003

Pratchett, Terry: Schweinsgalopp: Ein Scheibenwelt-Roman. Taschenbuchausgabe. Goldmann. München 2003

Im Artikel verlinkte Webseiten und weiterführende Literatur