Missbrauch bei den Regensburger Domspatzen

Ein System der Angst

BERLIN. (hpd) Nach achtmonatiger Recherche stellte Rechtsanwalt Ulrich Weber am vergangenen Freitag das Zwischenergebnis seiner Recherchen zum bereits 2010 aufgedeckten Missbrauchsskandal bei den Regensburger Domspatzen vor. Weber geht davon aus, dass etwa jeder Dritte der rund 2.100 Mitglieder des Knabenchors zwischen 1953 und 1992 Missbrauchserfahrungen machen musste. Webers Zahlen liegen damit wesentlich höher als jene, die das Bistum Regensburg vor einem Jahr aufgrund eigener Recherchen veröffentlicht hatte.

Webers Zwischenbericht zeichnet ein Bild des Grauens. Über Jahrzehnte wurden in der Vorschule der Domspatzen in Etterzhausen und Pielenhofen sowie im Internat in Regensburg Kinder und Jugendliche systematisch körperlicher und sexueller Gewalt ausgesetzt. Weber spricht unverhohlen von einem "System der Angst".

Die bisherige Recherchen des Juristen ergaben, dass 231 Kinder des Chors von Priestern und Lehrpersonen des Bistums verprügelt oder sexuell missbraucht worden sind. Allerdings geht der Rechtsanwalt aufgrund der von ihm geführten Gespräche mit rund 70 Missbrauchsopfern von einer hohen Dunkelziffer aus. Er rechnet mit cirka 700 Betroffenen.

Besonders brisant an Webers Recherchen ist nicht nur, dass der Skandal ein erheblich höheres Ausmaß hat als erwartet, sondern auch, dass laut Weber der für den Chor zuständige Domrat spätestens seit den 1980er Jahren von den Misshandlungen gewusst habe, ohne dass es zu personellen oder strukturellen Veränderungen gekommen sei.

Weber geht ebenfalls davon aus, dass der langjährige Leiter des Chores, Georg Ratzinger, von den Missbrauchsfällen unterrichtet war. Georg Ratzinger, Bruder des emeritierten Papstes Benedikt XVI, war von 1964 bis 1994 Domkapellmeister des Regensburger Doms und Leiter der Domspatzen – also in jener Zeit, in der die meisten der bisher dokumentierten Missbrauchsfälle stattfanden.

Der heute 91-Jährige Georg Ratzinger weist den Vorwurf, er habe von den Missbrauchsfällen gewusst, vehement zurück. Weder von sexuellen Übergriffen noch von übermäßiger Gewalt habe er gehört. Lediglich, dass Schläge und Ohrfeigen als erzieherische Maßnahmen zum Einsatz kamen, räumte Ratzinger ein. Diese seien jedoch damals in allen Erziehungsbereichen und auch in den Famlien üblich gewesen.

Zu den üblichen Erziehungsmethoden bei den Regensburger Domspatzen gehörten laut Rechtsanwalt Weber der Entzug von Flüssigkeit bei Bettnässern sowie Schläge mit Rohrstöcken und Siegelringen. Hatte die Anwendung körperlicher Gewalt sichtbare Folgen, so wurden Mitschüler gedrängt, Falschaussagen zu machen und beispielsweise von einem Treppensturz des Opfers zu berichten.

Die ersten Missbrauchsfälle bei den Regensburger Domspatzen wurden im Jahr 2010 bekannt. Bischof Gerhard Ludwig Müller – damals Oberhirte des Bistums Regensburg, heute als Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre oberster Glaubenshüter im Vatikan – hatte damals von Einzelfällen gesprochen und sah die Kirche als Opfer einer Medienkampagne. Nach fünfjährigen Nachforschungen stellte das Bistum Regensburg im vergangenen Februar die Ergebnisse seiner internen Ermittlungen vor: 72 frühere Domspatzen seien in den Jahren 1953 bis 1992 in einem Ausmaß geschlagen worden, dass von Körperverletzung auszugehen sei. Gleichzeitig kündigte die Kirche an, dass man jedem dieser Opfer 2.500 Euro Entschädigung zukommen lassen wolle.

Rechtsanwalt Ulrich Weber hat innerhalb der vergangenen acht Monate dreimal so viele Missbrausfälle aufgedeckt wie das Bistum in fünf Jahren. Weber, der als Anwalt für die Opferschutzorganisation Weißer Ring tätig ist, wurde aufgrund anhaltender Kritik vom Bistum Regensburg im Mai 2015 als unabhängiger Ermittler eingesetzt und erhielt Einblick in Geheimarchive, Personalakten des Bistums und persönliche Notizen des Generalvikars.

Die Pressestelle des Bistums Regensburg ließ Webers Zwischenbericht bislang unkommentiert, da man dem für den 1. Februar einberufenen Kuratorium zur Aufarbeitung der Vergehen nicht vorgreifen wolle.

Kardinal Marx, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, fand in einer Pressemitteilung am 8. Januar hingegen deutliche Worte:

"Die Exzesse (…) sind für unsere Gesellschaft zutiefst verstörend und können in keiner Weise toleriert werden. Wir brauchen eine genaue Aufklärung und eine deutliche Antwort des Rechtsstaates. (…) Alle gesellschaftlichen Kräfte müssen gemeinsam daran arbeiten, solche Vorkommnisse zu verhindern und Sicherheit zu gewährleisten."

Allerdings bezog sich Marx mit diesen Worten auf die Ereignisse am Kölner Hauptbahnhof in der Silvesternacht und nicht auf den Zwischenbericht über den systematischen Missbrauch bei den Domspatzen, der an eben jenem 8. Januar der Presse vorgestellt wurde. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.