Dr. Ralph Ghadban im Interview: Der Islam ist reformierbar

Islamverbände in Deutschland stehen Integration im Wege

BERLIN. (hpd) Immer wieder ist in den Debatten der letzten Wochen die Frage nach dem Verhältnis von Islam und Islamismus aufgeworfen worden. Je nach Interessenlage gab es sehr unterschiedliche Antworten, die Spanne der Antworten reichten von einer Gleichsetzung bis dahin, dass beides nichts miteinander zu tun habe. Der hpd hat, um der gängigen interessegeleiteten Schwarz-Weiß-Malerei entgegenzuwirken, jetzt zu dieser Thematik den Berliner Philosophen und Islamwissenschaftler Dr. Ralph Ghadban befragt.

Dr. Ghadban, als exzellenter Kritiker eines traditionellen Islam und der orthodox-konservativen deutschen Islamverbände bekannt, argumentiert seit Jahrzehnten gegen Veinfachungsvorstellungen. Die These eines “Kampfes der Kulturen” bezeichnet er als eine islamistische Konstruktion, hält dem Westen vor, die Islamisten hochgezogen zu haben und lehnt strikt die multikulturalistische These ab, nach der aus “Respekt” vor anderen Kulturen das Beharren auf den Menschenrechten unterbleiben oder eingeschränkt werden müsse. Ansichten, die dies fordern, führen für ihn zur “Selbstdemontage der Würde des Menschen”.

Im hpd-Interview sagt er aber andererseits deutlich, dass der Islam reformierbar sei, auch wenn er die aktuellen Schwierigkeiten dabei – auch und gerade in Deutschland – keineswegs unterschätzt. Der größte Teil der Muslime habe die demokratischen Werte verinnerlicht, sei integriert. Diese Entwicklung, so Ghadban, hätten die Islamverbände jedoch theologisch nicht begleitet, sie beharrten stattdessen auf archaischen Islamvorstellungen und stellten sich somit als Integrationshindernis heraus. Pessimistisch ist der Islamwissenschaftler aber dennoch nicht. Er sagt: “Das Leben ist stärker als die Ideologie”. Was seiner Auffassung nach aber sonst noch getan werden muss in der Politik, kann man dem folgenden Interview entnehmen.

 

hpd: Herr Dr. Ghadban, ist “der Islam” eine grundsätzlich gewalttätige Religion, die sowohl ihre Gegner als auch Anders- und Nichtreligiöse entweder nur bekehren kann oder liquidieren muss?

Dr. Ralph Ghadban: Die Muslime aller Glaubensrichtungen glauben, dass die Mission Muhammads sich in zwei Phasen aufteilt: Die erste Phase von Mekka, in der die Gewaltanwendung verboten war; und die zweite Phase von Medina, in der Gott die Gewaltanwendung erlaubt hat.

In Mekka hatte Muhammad nach dreizehn Jahren Mission circa einhundert Anhänger und konnte keine Gewalt anwenden. Deshalb gab es keine Scharia. Man wollte ihn sogar töten, er flüchtete nach Medina. Dort musste er sich verteidigen (Dschihad) und er begann, eine Herrschaft aufzubauen, basierend auf einem göttlichen Rechtssystem und auf der Solidarität seiner Anhänger (Umma). Es gab keinen Platz für Außenstehende, in diesem Fall die Juden, so mussten diese sich bekehren lassen, die Oase Medina verlassen oder wurden umgebracht.

Nachdem die islamische Herrschaft sich verfestigt hatte und Mekka erobert worden war, nahm der Dschihad einen offensiven Charakter an und wurde zu einer religiösen Pflicht. Damit war der Weg frei für die Eroberung der Welt.

So hat der Islam in Mekka als Religion begonnen und wurde in Medina zu einem Herrschaftssystem. Was die Mehrheit der Muslime heute antreibt, ist das Vorbild Medina und nicht Mekka.

Wenn man sich auf die offenbarten Koranverse in Medina beruft, ist die Gewaltbereitschaft bei den Muslimen vorprogrammiert, egal welcher Glaubensrichtung sie angehören. Deshalb lehnen die meisten liberalen Islamreformer die Scharia von Medina ab und richten sich nach der Phase von Mekka.

 

Der “IS-Staat”, die nahöstlichen “Gottesstaaten”, Salafisten, die Attentäter von Paris führen der Weltöffentlichkeit einen Islam vor, der totalitär und menschenverachtend, freiheits- und menschenrechtsfeindlich ist. Gibt es auch einen anderen Islam?

Was diese Terroristen uns zeigen, ist ein Islam, der die Schariagrundlagen von Medina ad absurdum führt: Anstatt den Menschen zu erretten, dient die Religion seiner Vernichtung. Der koranische Text wird so interpretiert, dass die ganze religiöse Botschaft auf ein verbrecherisches Herrschaftsverständnis reduziert wird. Auf diese Weise leistet diese salafistische Strömung eine neue Exegese der heiligen Schriften als negative Reaktion auf die Moderne, um sie zu zerstören.

Eine neue Exegese leisten auch die liberalen Islamreformer, sie stellt aber eine positive Reaktion auf die Moderne dar und beabsichtigt, den Islam dieser anzupassen.

Damit haben wir zwei Hauptströmungen des Islam erwähnt, die dritte und größte bildet aber der traditionelle Islam, der auf seinem Islamverständnis des Mittelalters beharrt und glaubt, er könne damit die Moderne bewältigen. Was übrigens bis heute noch nicht geschehen ist.

Der Islam ist reformierbar

In den letzten Wochen hört man in Deutschland häufiger als zuvor Stimmen, die fordern, der Islam in Deutschland müsse sich reformieren. Manche Islamkritiker äußern, “der Islam” sei nicht reformierbar. Was meinen Sie dazu?

Wie jede Ideologie ist der Islam auch reformierbar. Die liberalen Islamreformer haben uns gezeigt, wie es geht. Sie haben eine ganze Reihe von Modellen entwickelt, konnten sie aber nirgends umsetzen. Und das ist das Hauptproblem.

Es reicht nicht aus, sich etwas Neues auszudenken, man braucht soziale Kräfte, um dies politisch durchzusetzen. Die liberalen Kräfte in der islamischen Welt sind zu schwach und haben die Demokratie nicht einmal ansatzweise in ihren Ländern errichten können. Wir beobachten mit angehaltenem Atem die Entwicklung in Tunesien. In der Türkei haben wir einen Rückschlag erlebt und sehen, wie ein islamisches autoritäres Regime das alte säkulare autoritäre Regime ablöst.

 

Sie haben vor Jahren in einem Interview mit der Zeitschrift “Das Parlament” darauf hingewiesen, dass eine Reform des Islam eine “neue Ethik” erfordere, während die Grundlagen des islamischen Glaubens nicht geändert werden müssten und auch nicht das islamische Menschenbild. Was meinen Sie damit?

Das Herrschaftssystem muss auseinandergenommen werden. Wir nennen das in unserer westlichen Sprache Trennung von Religion und Politik. Das bedeutet, dass die Schariavorschriften nicht mehr als Gesetze verstanden werden sollen, sondern als Gebote.

Im Koran steht z.B.: “Und hackt dem Dieb und der Diebin die Hände ab” (5:38). In der Bibel steht unter dem siebten Gebot: “Du sollst nicht stehlen”. In der islamischen Geschichte haben die islamischen Herrscher schnell gemerkt, wie unproduktiv und belastend es für die Gesellschaft ist, ständig Behinderte zu erzeugen und haben das Handabhacken durch Geldstrafen ersetzt.

Die Trennung von Religion und Politik wird die Muslime zwingen, ein Ethiksystem zu entwickeln, basierend auf Gut und Böse anstatt ihres Schariasystems, basierend auf Erlaubtem und Verbotenem.

Was das Menschenbild betrifft, ob der Mensch das Abbild Gottes ist, wie es in der Bibel steht, oder nach dem Koran der Vertreter Gottes in dieser Welt ist, in beiden Fällen ist ihm ausreichend Würde zugeteilt, dass man daraus die Menschenrechte unserer Demokratie ableiten kann. Der Islam ist nicht per se anti-demokratisch.

Scharia neu interpretieren

Damals sagten Sie auch, es müsse ständig eine neue Koran-Auslegung vorgenommen werden und eine Änderung der Scharia erfolgen. Nun hören wir aber immer wieder, dass es weltweit einheitliche Scharia-Regelungen gar nicht gäbe. Was also soll geändert werden? Und als Nächstes: von wem, denn eine Struktur mit Organen, die verbindliche Festlegungen treffen können, gibt es im Islam bekanntlich nicht.

Ein Kirchenrecht wie bei der katholischen Kirche gibt es im Islam nicht. Es herrscht trotzdem kein Chaos in Schariafragen. Die regulierenden Instanzen bilden die Rechtsschulen und die Qadis haben nach den Lehren der verschiedenen Rechtsschulen verbindlich Recht gesprochen. Wobei trotzdem ein großer Handlungsraum für sie bestand, weil es sich im Islam um ein Juristen- und kein positives Recht handelt.

Selbst heute folgen die Schariagerichte in allen islamischen Ländern den Lehren der Rechtsschulen, wobei in manchen Ländern die Lehre in ein positives Recht umgewandelt wurde. Selbst in Saudi-Arabien mehren sich die Stimmen zugunsten eines positiven Rechtes, um der Willkür der Richter zu entkommen. In den Nichtschariastaaten beschränkt sich allerdings die Zuständigkeit der Schariagerichte auf das Vormunds- und Schenkungsrecht und auf das Ehe- und Erbschaftsrecht. Nur in der Türkei wurden diese Gerichte 1926 ganz abgeschafft.

Eine liberale Koranauslegung kann dann die Scharia von einem Rechtssystem in ein Ethiksystem umwandeln. Das Problem des islamischen Rechtes stellt sich dann nicht mehr. Diese Aufgabe müssen die Muslime selber meistern. Die Frage lautet nun: Welche Muslime?

Es gibt keine Kirche im Islam, aber die Existenz einer kirchenähnlichen Gestalt ist nicht verboten und hat auch existiert. Heute sehen wir wie alle islamischen Länder durch die Schaffung von Fiqhräten versuchen, die Glaubenslehre mindestens in ihren Hoheitsgebieten zu vereinheitlichen.

Ähnlich ist der Weg im Westen, wo die Muslime aufgefordert sind, sich in Religionsgemeinschaften zu organisieren. Ihnen ist die Pflicht auferlegt, die Religion von der Politik zu befreien. Die islamischen Verbände machen leider das Gegenteil und blockieren hartnäckig diesen Prozess.