Nachruf auf Max Kruse, der der Welt nicht nur das Urmel schenkte

Ein Aufklärer der sanften Art

OBERWESEL. (hpd/gbs) Er entstammt einer berühmten Familie, seine Bücher wurden millionenfach verkauft – und doch blieb Max Kruse ein Leben lang bescheiden. Am vergangenen Freitag starb Urmel-Erfinder und gbs-Beirat Max Kruse im Alter von 93 Jahren in seiner Heimatstadt Penzberg. Michael Schmidt-Salomon erinnert an einen guten Freund und Stiftungskollegen.

Max war ein Mann der leisen, der sanften Töne – als Schriftsteller und als Mensch. Ein Hauch von Melancholie war stets zu spüren, wenn er sprach oder schrieb. Ein wenig erinnerte er mich an den gutmütigen „Seele-Fant“, der in „Urmel aus dem Eis“ seine traurigen Weisen vorträgt: „Öch weuß nöcht, was soll ös bödeutön, dass öch so trauhaurög bön…“

Anders als bei „Seele-Fant“ führte die Wehmut bei Max nicht zur Lethargie. Im Gegenteil: Max legte noch im Alter von über 90 Jahren eine Schaffenskraft an den Tag, die ich bei weit jüngeren Autoren nur in Ausnahmefällen angetroffen habe. Ich erinnere mich gut daran, wie ich ihn darauf ansprach, ob er unserem Projekt „Evokids- Evolution in der Grundschule“ sein Urmel zur Verfügung stellen könne und ob er nicht vielleicht auch Interesse hätte, ein Urmel-Buch zum Thema „Evolution“ zu schreiben. Max war sofort Feuer und Flamme. In Windeseile waren die rechtlichen Fragen geklärt. Und es dauerte nur wenige Monate, bis er meine kurze Skizze einer möglichen Handlung – Urmel entführt unfreiwillig die Zeitmaschine von Professor Tibatong und muss in der evolutionären Vergangenheit zahlreiche Abenteuer überstehen –zu einem 165 Seiten starken Urmel-Buch ausgearbeitet hatte.

Die Mails zwischen uns gingen in dieser Zeit wild hin und her, da bei dem Buch einige knifflige Fragen geklärt werden mussten. Für mich war es ein außerordentliches Vergnügen, Max beim Schreiben von „Urmel saust durch die Zeit“ zu unterstützen – ging damit doch ein Kindheitstraum in Erfüllung. Denn die Max-Kruse-Stücke der Augsburger Puppenkiste hatte ich einst heiß und innig geliebt, u.a. „Der Löwe ist los“, „Gut gebrüllt, Löwe“, „Don Blech“, „Lord Schmetterhemd“ und natürlich „Urmel aus dem Eis“. Ach, was habe ich über das freche „Urmeli“ gelacht, das sich von Hausschwein Wutz so gar nicht erziehen ließ! Oder über Ping und Wawa, die sich so herrlich über die „Mupfel“ streiten konnten!

Als ich selbst zu schreiben anfing, war Max Kruse als Kinderbuchautor eine legendäre Gestalt wie Michael Ende oder Astrid Lindgren. Und so dachte ich, als ich im Jahr 2004 eine Email von einem Absender namens „Max Kruse“ erhielt, beim besten Willen nicht daran, dass es sich um „den“ Max Kruse handeln könnte. In aller Bescheidenheit hatte Max damals angefragt, ob man die Giordano-Bruno-Stiftung auch als Nichtwissenschaftler unterstützen könne – ohne dabei ein einziges Wort über sich selbst zu verlieren. Zufälligerweise fiel mein Blick auf die Endung seiner Emailadresse: „max-kruse-urmel.de“. „Das kann doch nicht sein!“, dachte ich mir. Vorsichtig fragte ich nach – und tatsächlich: Niemand anderes als der Vater des berühmten Urmels wollte die damals noch weithin unbekannte Giordano-Bruno-Stiftung unterstützen!

Ein Meister des Zusammenhangs

Natürlich sagten wir sofort zu und beriefen Max in unseren Beirat! Dabei veränderte schon die erste Mail, die Max an uns schrieb, die Stiftung in nachhaltiger Weise. Denn auf seine Anregung hin beschlossen wir, den gbs-Förderkreis ins Leben zu rufen und den Beirat der Stiftung, der ursprünglich nur aus Wissenschaftlern und Philosophen bestanden hatte, für Künstlerinnen und Künstler zu öffnen. Beides brachte die Stiftung mit Riesenschritten nach vorne.

Dass Max unser erster künstlerischer Beirat wurde und wir uns kurze Zeit darauf auch das erste Mal persönlich treffen konnten, freute mich ungemein – nicht nur wegen des Urmels, sondern auch weil ich in der Zwischenzeit seine vierbändige Kulturgeschichte der Menschheit „Im weiten Land der Zeit“ gelesen hatte. Dieses Werk, das wenig später vom Hessischen Rundfunk mit Peter Fricke als Hauptsprecher in wunderbarer Weise vertont wurde, zeigte eine seiner großen Stärken als Sachbuchautor: Max war nämlich ein Meister des Zusammenhangs, wie es nur wenige gegeben hat, ein Autor, der dort, wo andere den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen, mit Leichtigkeit die wesentlichen Entwicklungslinien herausarbeiten und dem Leser verständlich machen kann. Von dieser Fähigkeit, den großen Bogen zu spannen, ohne die Leserinnen und Leser über Gebühr zu strapazieren, zeugen auch seine späteren Bücher „Antworten aus der Zukunft“, „Gott oder Nichtgott“ und „Besen, Besen, seid's gewesen“ – kleine Meisterwerke der Aufklärung, die im Schatten des Erfolgs seiner Kinderbücher leider meist übersehen werden.

Im Wandel der Zeit

Wer verstehen will, wer Max Kruse war und was ihn so besonders machte, sollte seine Autobiographie „Im Wandel der Zeit – Wie ich wurde, was ich bin“ lesen. Wenn man den unabänderlich dahinfließenden Strom der Zeit überhaupt in Worte fassen kann, dann ist es Max in diesem Buch gelungen. Man erlebt nicht nur mit, wie aus dem kleinen Maxl der große Max wird, sondern sieht im Spiegel dieser Geschichte gewissermaßen sein eigenes Leben an sich vorbeiziehen. Das ist aus zwei Gründen ungewöhnlich: Erstens, weil Max Kruse eine völlig andere Zeit schildert (die meisten seiner Leser dürften den 2. Weltkrieg nicht bewusst erlebt haben), und zweitens, weil die Familie, aus der er stammt, kaum größere Gemeinsamkeiten mit den Familien seiner Leser haben dürfte: Denn beide Eltern waren nicht nur unorthodoxe künstlerische Freigeister, sondern auch regelrechte Berühmtheiten: Sein Vater, der Bildhauer Max Kruse senior, gehörte zu den großen Bildenden Künstlern seiner Zeit, war Mitglied der Secession und der Berliner Akademie der Künste. Er schuf Bühnenbilder für Max Reinhardt, portraitierte Nietzsche, stand in Kontakt mit Thomas Mann und Gerhard Hauptmann, zu seinem 80. Geburtstag gratulierte Reichspräsident Hindenburg persönlich. Mutter Käthe, dreißig Jahre jünger als der Vater, stellte zunächst für den Hausgebrauch, später im großen Stil die weltberühmten „Käthe-Kruse-Puppen“ her, die die Spielzeugindustrie revolutionierten.

Als Kind solch berühmter Eltern wusste Max Kruse junior lange Zeit nicht, was er mit seinem Leben anstellen sollte. Er wollte Dichter werden, scheiterte jedoch an seinen eigenen Ansprüchen. Eher zufällig, weil Mutter Käthe Kruse eine Geschichte für ihre Puppen brauchte, brachte er 1948 „Der Löwe ist los!“ zu Papier. Als Kinderbuch erschien die Geschichte 1952. Der große Erfolg kam jedoch erst 1964, als die Augsburger Puppenkiste das Buch verfilmte – ein Glücksfall für Max persönlich, der sein Brot zuvor als Werbetexter verdiente, und natürlich auch für seine vielen Millionen Leserinnen und Leser, denn sehr wahrscheinlich wären ohne die Augsburger Puppenkiste weder die Urmel-Bücher noch die späteren aufklärerischen Werke „Im weiten Land der Zeit“ oder „Antworten aus der Zukunft“ entstanden.

Der Tod als Erlösung

Ich bin überzeugt: Ohne Max Kruses Werke, ohne seine Phantasie, sein Einfühlungsvermögen, seine Freundlichkeit, sähe die Welt deutlich ärmer aus! Es war eine Ehre und Freude, ihn unter meinen Freunden zu wissen. Ich bin natürlich traurig darüber, dass er gegangen ist, aber es ist ein Trost, zu wissen, dass der Tod für Max eine Erlösung war. Denn in den letzten Monaten hat er zunehmend unter körperlichen Gebrechen gelitten. Das Bett konnte er seit Längerem nicht mehr verlassen. Geistig rege bis zum Schluss, hatte er sich bereits nach den Möglichkeiten der Sterbehilfe erkundigt. Denn es war für ihn (wie wohl für die meisten von uns) eine Schreckensvorstellung, bei vollem Bewusstsein im eigenen Körper eingesperrt zu sein, ohne lesen, ohne schreiben, ohne arbeiten zu können. Zum Glück blieb ihm das erspart. Max starb am vergangenen Freitag so sanft und leise, wie er gelebt hatte: Nach einer Hirnblutung schlief er ein und wachte nicht mehr auf. So, und nicht anders, hätte er es sich gewünscht.