Mehrheit gegen Reichweitenbegrenzung

BERLIN. Bei der ausführlichen Debatte über Patientenverfügungen im Bundestag am gestrigen Donnerstag zeichnete sich

quer durch alle Fraktionen sogar eine Mehrheit für eine unbeschränkte Verbindlichkeit von Patientenverfügungen ab. Dies stellt auch Reuters-Deutschland in den Mittelpunkt seiner Berichterstattung. Einige Medien beschreiben die Bundestagsdebatte mit: „Keine klare Linie zu Patientenverfügungen“

In der ersten Grundsatzdebatte des Parlaments, zu der seit Jahren umstrittenen Gewissensfrage, unterstützten zahlreiche Vertreter von SPD, FDP, Grünen und Linkspartei einen entsprechenden Antrag des SPD-Rechtspolitikers Joachim Stünker.

Der Gegenantrag des stellvertretenden Unions-Fraktionschefs Wolfgang Bosbach, der einen Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen nur bei unumkehrbar tödlichem Krankheitsverlauf erlaubt, fand über die Parteigrenzen hinweg weniger Anhänger. Einige der insgesamt dreißig Redner zogen in Zweifel, ob eine Gesetzesregelung überhaupt notwendig sei. Stünker und Bosbach betonten dagegen zum Auftakt der dreieinhalbstündigen Debatte vor mäßig gefüllten Rängen, eine klare Vorgabe sei dringend nötig.

Nach Stünkers Gesetzesantrag soll eine Patientenverfügung zum Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen unbegrenzt gelten. "Im Mittelpunkt steht das uneingeschränkte Selbstbestimmungsrecht des Patienten", unterstrich der SPD-Politiker und wurde hierbei von der Justizministerin Zypries ausdrücklich unterstützt, die unmittelbar vor der Debatte eine entsprechen Erklärung abgab.

Nach Auffassung von Stünker ist es unerheblich, ob die Krankheit schon unumkehrbar einen tödlichen Verlauf genommen hat. Eine so genannte Reichweitenbegrenzung, wie sie Bosbach fordert, widerspreche geltendem Recht. Der Staat dürfe das Leben nie gegen den Willen des Betroffenen schützen, ansonsten müsse auch Selbstmord unter Strafe gestellt werden. Die Patientenverfügung stoße nur dort an Grenzen, wo die Rechte anderer verletzt würden. Das Grundgesetz „gewährt ein Recht zu leben, es begründet aber nicht die Pflicht zu leben“, sagte Stünker.

Justizministerin Brigitte Zypries warnte, bevor ein Gesetz mit einer Reichweitenbegrenzung beschlossen werde, solle es aus ihrer Sicht lieber gar keine Regelung geben. Die FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, eine Zypries-Vorgängerin, betonte, nur eine unbeschränkte Verbindlichkeit bringe Klarheit. Angehörige und Ärzte müssten vor einer Situation bewahrt werden, in der um juristische Fragen gestritten werde. "Ich will doch nicht einen Anwalt am Krankenbett haben." Ähnlich äußerten sich die übrigen FDP-Redner sowie die meisten von SPD und Grünen. Die Abgeordnete der Linkspartei Luc Jochimsen formulierte unter vielfachem Beifall aus den Reihen der Linken, der Grünen und der FDP, und mehrfachem Einzelbeifall von Stünker, objektive Anforderungen an Patientenverfügungen, die in Teilen dem entsprechen, was Spezialisten aus dem Umfeld des Humanistischen Verbandes und auch das Justizministerium dazu meinen, Anhang1.

Die Grünen-Abgeordnete Irmingard Schewe-Gerigk sprach die Ängste an, die viele Menschen zu Patientenverfügungen bewegen. Die meisten Menschen wünschen sich Umfragen zufolge einen Tod ohne Schmerzen im Kreise ihrer Lieben. Tatsächlich befürchteten aber viele, dass sie in Pflegeheimen nicht in Würde leben können und in Krankenhäusern nicht in Würde sterben.

Der FDP-Abgeordnete Michael Kauch erklärte unterstützend, dass mit der Finanzierung der ambulanten palliativmedizinischen Versorgung ein Anfang gemacht sei. Jetzt komme es darauf an, dass auch in der Aus- und Weiterbildung von Ärzten und Pflegekräften hier Akzente gesetzt werden. All diese Maßnahmen seien aber kein Gegensatz zu einer Politik für mehr Patientenautonomie. Beides gehöre zusammen, das Angebot einer optimalen Versorgung an die Gesellschaft, aber eben auch die Freiheit des Einzelnen, bestimmte Behandlungen, die er nicht wünscht, ablehnen zu dürfen. Selbstbestimmung sei untrennbarer Teil der Menschenwürde.

Als Schlussredner der SPD unterstützte und erläuterte Rolf Stöckel, Bundesvorstandsmitglied des HVD, das Anliegen einer gesetzlichen Regelung der Patientenverfügungen, Anhang2.

Unterstützung des Bosbach-Antrags kam – wie nicht anders zu erwarten – besonders aus der Union. Er bekräftigte sein Plädoyer für eine begrenzte Verbindlichkeit. So müssten der aktuelle Wille des Patienten und die konkrete Krankheit berücksichtigt werden. Schrankenlosigkeit berge erhebliche Risiken. "Menschen, deren Leben entgegen einem früheren Beschluss gerettet wurde, sind damit im Nachhinein oft sehr einverstanden." Eine begrenzte Gültigkeit sei nicht nur verfassungsrechtlich möglich, sondern diene auch dem Wohle des Patienten. "Deshalb sagen wir: Im Zweifel für das Leben." Auf Vorhaltungen besonders aus dem juristischen Bereich an seinem Entwurf ging Bosbach nicht näher ein.

Der rechtspolitische Sprecher der Union, Jürgen Gehb, verwies darauf, dass Staat und Medizin bereits heute vielfach in das Selbstbestimmungsrecht des Bürgers eingriffen, etwa im Erbrecht oder auch bei Selbstmördern, wenn beispielsweise Feuerwehrleute mit einem Sprungtuch versuchten, den Lebensmüden vor einem Sturz in den Tod zu bewahren. Auch der SPD-Politiker Rene Röspel warb für eine beschränkte Verbindlichkeit.

Die Koalition strebt eine Novelle bis zum Ende der Wahlperiode 2009 an. Die Spitzen von Union und SPD wollen ihre Abgeordneten dafür vom üblichen Fraktionszwang freistellen. Dies bedeutet, dass die Debatte über Patientenverfügungen virulent bleibt, und dass sich vielleicht die gegensätzlichen Haltungen weiter zuspitzen. In diesem Zusammenhang ist auf die Initiative „Pro Sterbehilfe“ zu verweisen, die versucht, Unterstützer für eine kulturell positiv besetzte Auffassung von Sterbehilfe in unideologischer Manier zu gewinnen

Gegen solches pragmatisches, an den Bedürfnissen von Ärzten und Patienten entwickelte Herangehen wendet sich v.a. der Ratsvorsitzende der „Evangelischen Kirche in Deutschland“, Bischof Wolfgang Huber. Er warnte vor einer Überschätzung der Patientenverfügungen. Wenn Menschen sich nicht mehr äußern könnten, helfe auch eine gesetzliche Regelung nicht weiter, sagte Huber im Deutschlandfunk.

Die katholische „Deutsche Bischofskonferenz“ plädiert sogar für strenge rechtliche und formale Anforderungen an Patientenverfügungen. Keinesfalls dürfe die Einstellung lebensnotwendiger Behandlungen bei Patienten im Wachkoma und Menschen mit schwerster Demenz erlaubt werden, erklärten die Bischöfe in Bonn gegenüber „Radio Vatikan".

Unmittelbar nach der Bundestagsdebatte wies die „Humanistische Union“ jede Reichweitenbeschränkung von Patientenverfügungen als verfassungswidrig zurück.

Der Bundesvorsitzende des „Humanistischen Verbandes Deutschlands“, Dr. Horst Groschopp, hatte dem „Bonner Generalanzeiger“ vorab erklärt: „Beim Thema Reichweitenbeschränkung sehe ich keine Kompromissmöglichkeit. Entweder der Patientenwille gilt oder er wird, von wem auch immer, eingeschränkt.“

Der „Humanistische Verband“ vermeldet große Nachfragen nach seinen Positionen und seinen praktischen Leitfäden zu “Patientenverfügungen“. Bei der kontrovers geführten Gesetzesdebatte möchten Vorsorgewillige gern durchblicken, auf was heute in jedem Fall zu achten ist. Besonders gefragt sind zur Zeit deshalb die praxisorientierten Leitfäden zur Abfassung und zur Prüfung von Patientenverfügungen, wie sie seit einigen Jahren schon die Deutsche Hospizstiftung und aktuell der „Humanistische Verband Deutschlands“ anbieten. Allein der „HVD Nordrhein-Westfalen“ hatte an einem Tag über 400 Anfragen.

 

GG