Die kurze Geschichte der DDR-Freidenker

WEIMAR. (hpd) Die Geschichte der DDR-Freidenker (Verband der Freidenker – VdF) währte nur gut eineinhalb Jahre – von der Initiierung "von oben" im Herbst 1988 über die offizielle Verbandsgründung im Juni 1989 und ihrem organisatorischen Ende im Sommer 1990. Danach verlieren sich die Spuren ihrer etwa 12.000 Mitglieder und lokalen Organisationen im Nirgendwo bzw. durch individuelle Übertritte in westberliner oder westdeutsche Verbände (DFV-Sitz Dortmund und DFV-Sitz Berlin, nachmalig HVD).

Im Frühjahr 1990 wurde am sogenannten Runden Tisch von klerikal inspirierten "Bürgerrechtlern" über die DDR-Freidenker das Verdikt "Stasi-Organisation" verhängt. Mit verhängnisvollen Folgen bis heute, sowohl für die ehemaligen VdF-Mitglieder und auch für die Verbände, in die viele VdF-Freidenker nach 1990/91 eingetreten sind. Mehr als 20 Jahre nach dem Ende dieser wenig bekannten und zumeist mißgedeuteten Organisation haben nun Horst Groschopp und Eckhard Müller ein sparsam kommentiertes Lesebuch mit dem Titel "Versuch einer Offensive" vorgelegt, in dem sie mehr als 70 zeitgenössische Dokumente für sich sprechen lassen. Zumeist sind es aber Dokumente Dritter, da die Archive des VdF weitgehend verschollen sind.

Zunächst skizziert Horst Groschopp die schwierige Neugründung und Entwicklung der Freidenker in Deutschland-West und -Ost nach 1945 und stellt kurz die verschiedenen Organisationen in den westlichen Besatzungszonen und der Bundesrepublik Deutschland und in Westberlin vor. Er geht auch darauf ein, warum es in der Sowjetischen Besatzungzone und der DDR zu keiner Wiedergründung des Deutschen Freidenker-Verbandes kam und räumt dabei auch mit dem Fehlurteil auf, daß es hierfür ein Verbot gegeben habe. Nein, die politische Führung sah dafür keine Notwendigkeit mehr, weil die Kernthemen der Freidenker (Trennung von Staat und Kirche, Trennung der Schule von der Kirche) hier realisiert worden seien und weil sich der Staat auch als Kultur-Staat verstand... Und in der DDR haben letztlich Verabredungen mit Klerikern aus der Zeit des Nationalkomitees Freies Deutschland nachgewirkt; Stichwort "religiös-weltanschaulich neutraler Staat", der sich weder für noch gegen eine Religion oder Weltanschauung ausspräche...

Warum aber kam es dann - nach Jahrzehnten ohne organisierte Freidenker - Ende 1988 völlig unerwartet zu einem SED-Politbüro-Beschluß, einen DDR-Freidenkerverband zu gründen? Groschopp geht dieser Frage in seinem 30-seitigen Beitrag "Notgeburt per vertraulicher Schlußsache" nach und versucht hier Antworten zu finden. Ausführlich geht er auf die sich schon in der Gründungsvorbereitung auftuenden Probleme ein: Was sollte der Verband sein und was nicht? Welche Erwartungen hegten die politische Führung, welche durchaus interessierte Bürger, welche die Kirchenleitungen und welche bereits damals westdeutsche Institutionen? Welche Prognosen stellten gerade die beiden letztgenannten Stellen an?

Ausführlich geht der Autor auf die Folgen des "Runden Tisches" vom 12. März 1990 ein. Seither gelten die DDR-Freidenker als Kirchenfeinde und als "Stasi", und diese Saat ging auch auf: westdeutsche säkulare Organisationen griffen dieses Verdikt unkritisch auf, distanzierten und distanzieren sich bis heute von den DDR-Freidenkern. Groschopp dazu: "Urteile in der 'Wende' haben sich tradiert bis in die Gegenwart. Alle den VdF betreffenden Vorgänge, seine Aktivtäten entziehen sich seit diesem 12. März 1990 oft jedem sachlichen Urteil. Nahezu jede Erwähnung wird mit tiefem Mißtrauen bedacht, auch innerhalb der 'Szene' selbst. Freidenker werden stärker verurteilt als die ganze DDR." (S. 54)

Warum wohl? Darüber kann man aus heutiger Sicht nur Vermutungen anstellen. Möglicherweise, weil westdeutsche Politik und Kirchenführungen in organisierten Freidenkern die einzig reale Widerstandskraft gegen ihre Klerikalisierungs- und Missionierungsbemühungen im säkularisierten Osten sahen, weil ein Freidenkerverband als sogenannter "Freier Träger" ein starkes Hindernis auf dem Wege der kirchlichen Monopolisierung bisher kommunaler sozialer Einrichtungen hätte sein können.

Insgesamt resümiert Groschopp: "So zu tun, als habe es auch hier die DDR nie gegeben, behindert strategische Überlegungen, zu denen immer auch historische Verortungen gehören." Groschopp und Müller bitten in diesem Zusammenhang ihre Leser auch, ihnen bei der Suche nach regionalen und lokalen VdF-Dokumenten zu helfen bzw. sich als Zeitzeugen zur Verfügung zu stellen. Denn dieser Dokumentenband könne nur ein Anfang kultur-historischer Forschung sein.

Ergänzt werden diese Dokumente durch Groschopps eigene Papiere aus VdF-Zeiten, z.B. zur Kulturarbeit, Fest- und Feiergestaltung. Er wie auch Professor Dietrich Mühlberg zogen sich bereits im Sommer 1990 aus der VdF-Arbeit zurück. Warum, das erschließt sich neben Groschopps eigenen Dokumenten auch aus einem von ihm mit Mühlberg geführten Interview aus dem Jahre 1998.

Und was hat es nun dem Stasi-Verdikt auf sich, mit dem am 12. März 1990 wie aus dem Hut gezauberten "Stasi-Befehl" auf sich? Wenn man dieses auf den Seiten 93 bis 95 im vollen Wortlaut abgedruckte Dokument (Brief an alle Diensteinheiten des MfS: Bildung des Verbandes der Freidenker in der DDR) unvoreingenommen liest, und vor allem in Kontext mit fast gleichlautenden und früher datierten Briefen z.B. der SED-Zentrale an die 1. Sekretäre ihrer Bezirksleitungen, dann geht daraus klar und eindeutig hervor: Der angebliche MfS-Befehl ist nichts anderes als eine interne Information über einen zuvor gefällten Parteibeschluß, der übrigens auch nicht vom Politbüro-Mitglied und Staatssicherheitsminister Erich Mielke eingebracht worden war.

Nach der Lektüre aller Dokumente ÜBER den VdF und ihrer Analyse durch die Autoren kann man deren Schlußfolgerung durchaus zustimmen: "Dessen Gründung stellt sich als letzter Versuch der SED dar, zu einer innenpolitischen Offensive zu kommen – zwischen antikirchlichem Stoßtrupp und Organisation von Lebenshilfe." Wobei sich wohl die wenigsten seinerzeitigen VdF-Mitglieder (zu denen auch der Rezensent gehört) als "antikirchlicher Stoßtrupp" verstanden haben... Dennoch, dieses Lesebuch unterbreitet erstmals ein (und noch dazu fundiertes) Angebot, die damaligen Vorgänge ohne Scheuklappen zu bewerten und ihren Platz in der deutschen Freidenkergeschichte zu finden.

 


Horst Groschopp u. Eckhard Müller: Letzter Versuch einer Offensive. Der Verband der Freidenker der DDR (1988 – 1990). Ein dokumentarisches Lesebuch. 263 S. m. Abb. kart. Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Berlin-Brandenburg Bd.8. Alibri-Verlag. Aschaffenburg 2013. 22,- Euro. ISBN 978-3-86569-171-2

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