KASSEL. (hpd) Ulrich Kutscheras Artikel „Nichts in den Geisteswissenschaften ergibt
einen Sinn außer im Lichte der Biologie" erregte Aufsehen. Das Laborjournal, in dem der Artikel zuerst veröffentlicht worden war, erreichten etliche geharnischte Proteste nach der Melodie "Ich bin kein Geisteswissenschaftler, aber ...". Ausgewählt wurde eine Entgegnung von Remigius Bunia, einem Friedrichshafener Kulturtheoretiker: "Wir Verbalwissenschaftler". Ulrich Kutschera hat dazu eine Antwort verfasst, die er dem hpd zur Verfügung stellte.
Ein Antwort von Ulrich Kutschera
Zur Zeit sind wieder "Semesterferien"; da haben die faulen Studenten und deren nicht minder arbeitsscheue Chef-Ausbilder, sprich Universitätsprofessoren bzw. "Hochschullehrer", über Monate hinweg frei. So ein lustiges Leben wünsche ich mir auch, lautet das Urteil vieler Steuerzahler.
Besuchen wir die Seminar-Räume und Bibliotheken der geisteswissenschaftlichen Fakultäten, so ist dort in der Tat außerhalb der Vorlesungs- und Schulferienzeit kaum jemand anzutreffen. Die fest angestellten Sekretärinnen trinken Kaffee und erzählen sich Geschichten über den dauerabwesenden Chef, die Assistenten weilen im Mutter- bzw. Vaterschafts-Urlaub oder auf Tagungen und die Studenten der Soziologie, Politologie, Germanistik, Anglistik, Geschichte, Philosophie, Theologie usw. sind, bis auf wenige Ausnahmen, verschollen: Wahrhafte "Geister"-Studenten. Nur einige Fleißige schreiben Hausarbeiten oder korrigieren solche.
Ein anderes Bild zeigt sich bei einer kleinen, bescheiden lebenden Studenten-Minderheit, den angehenden Biologen, Chemikern, Physikern und Ingenieuren. Sie haben kein "lustiges Studentenleben": Während der vorlesungsfreien Zeit (das Un-Wort "Semesterferien" gibt es in den Naturwissenschaften nicht) finden Labor-Praktika, Exkursionen und Prüfungen statt und das in einem Ausmaß, dass ich mich als Biologie-Chemie-Student an der Uni Freiburg meistens auf das beginnende Semester gefreut habe. Zumindest jene Professoren naturwissenschaftlicher Fachgebiete, die man als Autoren von Fachbüchern und web of science-Publikationen im Internet findet, forschen in der vorlesungsfreien Zeit und schreiben an Manuskripten und Forschungsanträgen.
Wie ist diese unterschiedliche Nutzung der "Semesterferien", die eine statistisch belegte Tatsache ist, zu bewerten?
Es gibt dazu zwei Theorien:
1. Angehende Geisteswissenschaftler sind im Durchschnitt intelligenter als ihre Kommilitonen aus den Naturwissenschaften. Daher können sie die "Semesterferien" zum Erholen und Geld verdienen nutzen.
2. Die Naturwissenschaften fordern mehr Arbeitsaufwand und persönlichen Einsatz. Der Grund: hier wird Erkenntnis im Wesentlichen über experimentelle Methoden gewonnen. Die Studenten unterwerfen sich strengeren Anforderungen, weil sie etwas Handfestes, Solides, Verwertbares lernen und sich die logisch-rationale Denkweise aneignen wollen.
Für Theorie 1 (höherer IQ bei angehenden Verbalwissenschaftlern) sprechen keine mir bekannten Fakten. Niemand scheint sich die Mühe gemacht zu haben, die Durchschnitts IQ Werte der Studenten verschiedener Fachbereiche zu messen (wobei noch zu klären wäre, was der IQ eigentlich misst). Es ist aber bezeichnend, dass (nicht nur) in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wesentlich mehr Studenten der Geisteswissenschaften ideologische Scheuklappen trugen als solche der Naturwissenschaften. Die Demonstrationszüge in denen Massenmördern wie Stalin und Mao verherrlicht wurden, bestanden hauptsächlich aus Soziologen, Politologen, Pädagogen, Theologen - also aus Studenten deren Expertise darin bestanden haben sollte, es gerade hier besser zu wissen. Wozu ist Politologie gut, wenn sie einem nicht einmal in der Politik Durchblick verschafft? Doch die angehenden Verbalwissenschaftler wussten es nicht besser, sie priesen ein System, dass einige Jahre später ruhmlos zusammenbrach und nichts zurückließ als gebrochene Karrieren und miserable Straßen. Zugegeben, das lässt nicht nur auf geringere Intelligenz und mehr auf mangelnde Urteilskraft schließen, aber immerhin haben sie sich dümmer verhalten als jeder Fabrikarbeiter. Es scheint mir daher nicht berechtigt bei den Verbalwissenschaftlern, im Vergleich zu den Realwissenschaftlern, von einem höheren IQ auszugehen.
Also scheint die Theorie 2 zuzutreffen. Ich betone, dass es auch unter Studenten der Realwissenschaften "Traumtänzer" gibt und manche Verbal-Studenten über die strenge Arbeitsmoral der besten "Realos" verfügen. Wir diskutieren hier den Durchschnitts-Studenten.
Verbal gleich real?
Im dem Beitrag "Wir Verbalwissenschaftler" hat sich der Mathematiker und Literatur-Gelehrte Remigius Bunia zu meiner vergleichenden Bewertung der Geistes- und Naturwissenschaften geäußert. Nach der taktisch zu wertenden Vorgabe Bunias, dass auch "Verbalwissenschaftler die Bedeutung des gesprochenen und geschriebenen Wortes notorisch überschätzen", und der lobenden Bewertung meines Begriffs "Verbalwissenschaften" als Synonym für die Geisteswissenschaften kommt R. Bunia zur Sache. Er ärgert sich über meinen Gegen-Begriff (Realwissenschaftler) und spricht von der "harten Realität des gesprochenen Wortes", dem sich die Verbalwissenschaftler widmen würden. Auch würden "Biologen oft die Wichtigkeit biochemischer Prozesse für das Aussehen unserer Welt" überbewerten. Daher weist Bunia meine Aussage "Nichts in den Geisteswissenschaften ergibt einen Sinn, außer im Lichte der Biologie" zurück und behauptet, dass das "Gegenstück des Experiments beim Realwissenschaftler die Lektüre beim Verbalwissenschaftler" sei. Ja er versteigt sich zu der Aussage, dass "das Experiment des Laborforschers in vielem der Lektüre des Verbalwissenschaftlers ähnelt".
Sind also Büchergelehrte den Real(Natur)-Wissenschaftlern gleichzustellen?
Kritischer Realismus und das Experiment
Zum Verdruss vieler Wissenschaftstheoretiker sind die meisten Naturwissenschaftler erkenntnistheoretisch naiv: Was Denker wie z. B. Karl Popper, die nie im Labor oder Freiland tätig waren, geschrieben haben, interessiert sie kaum. Auch ich habe meine ersten wissenschaftlichen Publikationen zur Populationsdynamik bei Schlundegeln der Gattung Erpobdella als naiver Biologiestudent aus Interesse an der Sache durchgeführt - Lehrveranstaltungen zur Erkenntnistheorie habe ich erst später besucht. Trotz dieser Mängel sind praktisch alle erfolgreichen Labor- und Freiland-Biologen kritische Realisten: Die Belege für die Existenz einer realen Außenwelt, die wir mit unseren Sinnen nur teilweise erkennen können (daher z.B. das Mikroskop), sind derart schlüssig, dass wir nicht daran zweifeln müssen. Auf der Grundlage von Freiland-Untersuchungen bzw. Laborexperimenten werden Daten erhoben, die im Rahmen einer gewissen Variabilität reproduzierbar sein müssen. Daraus leitet der Biologe Hypothesen ab, die wahr oder falsch sein können. Gefälschte Daten und daraus abgeleitete Schlussfolgerungen werden früher oder später verworfen. Dies ist ein zentraler Unterschied zwischen den Real- und Verbalwissenschaften: In den Realwissenschaften gibt es richtige und falsche Fakten bzw. Thesen, innerhalb der Ghost-Sciences werden Meinungen vergleichend bewertet. Es ist nicht möglich wahr oder falsch zu unterscheiden: Zwei Analysen über Shakespeares "König Lear" oder das "Kapital" von Karl Marx können zu diametral entgegen gesetzten Aussagen kommen, ohne dass es je möglich sein wird, die eine mit dem Label falsch zu etikettieren - auch nach endlosen Diskussionen nicht. Es setzt sich vielmehr jene durch, die besser formuliert ist oder optimaler in einen politisch-ideologischen Zusammenhang passt. Daher auch die relativ höhere Ideologieanfälligkeit der Verbalwissenschaftler.
Der Biologe als Literatur-Konsument und Produzent
In der Biologie zählen nur Erkenntnisse, die über ein strenges Begutachtungsverfahren in referierten Fachjournalen publiziert wurden. Diplomarbeiten sind nur Bestandteil der Prüfungsakte und ohne ISBN-Nummer nicht zitierfähig. Nur jene Ausschnitte, die der Nachwuchs-Forscher in einem englischsprachigen Fachjournal veröffentlicht hat, existieren für die Fachwelt. Bei den Verbalwissenschaftlern dagegen ist es üblich, deutschsprachige Magister- oder Staatsarbeiten oder Dissertationen bei Spezialverlagen ohne Lektorat zu publizieren und diese Produkte dann als "Forschungsergebnis" zu deklarieren.
Der Biologe muss, um neue Erkenntnisse zu erarbeiten, zuerst die Fachliteratur studieren und die bekannten Fakten zusammentragen. Das ist aber nur die Grundlage, dann geht es erst richtig los, dann kommt das Experimentieren. Schon deswegen ist der Vergleich des Experiments mit der Literaturarbeit (dem Lesen) völlig unakzeptabel. Ein weiterer Punkt ist die fehlende Reproduzier- und Überprüfbarkeit der Literaturarbeit: man liest "Tacitus" heute so und morgen anders. Dann die Schwammigkeit der Begriffe, die nur über andere schwammige Begriffe "definiert" werden können ...
Dazu ein Beispiel: Vor 80 Jahren hat der niederländische Botaniker Fritz Went (1903 - 1990) den Wuchsstoff Auxin entdeckt und dessen Wirkung an Getreidekeimlingen belegt. Seitdem fragen sich Pflanzenphysiologen, über welche Mechanismen Auxin die Zellstreckung in der Coleoptile des Keimlings auslöst. Tausende Arbeiten zur "Auxinwirkung" sind erschienen, doch diese Frage blieb letztlich unbeantwortet. Auch ich beschäftige mich damit. So kooperiere ich seit einiger Zeit als Visiting Professor mit Kollegen vom Carnegie Institution for Science (Stanford University, USA); meine Fertigkeit im Präparieren von Epidermis-Streifen wird mit der in Kalifornien etablierten Proteom-Analytik/Massenspektrometrie kombiniert. Wir haben inzwischen spezifische Auxin-Effekte auf dem Niveau mikrosomaler Proteine nachgewiesen. Das ist immer noch keine endgültige Lösung, doch Experiment für Experiment kommt man der Sache näher.
Hätten sich die Biologen auf das Lesen der Fachliteratur beschränkt, nach Ansicht des oben zitierten Bücher-Gelehrten ein Analogon zum Experiment, wären wir immer noch auf dem Stand von 1928. Mit diesem Fallbeispiel komme ich auf die eingangs erzählte Geschichte von den Verbal- und Realwissenschaftlern zurück.
Naturwissenschaften und das logisch-analytische Denkvermögen
Die Stundenten der Fächer Biologie/Chemie und verwandter Gebiete erlernen neben dem Faktenwissen die Prinzipien des Erkenntnisgewinns. Diese Denk- und Arbeitsweise basiert auf logisch-analytischem Schlussfolgern und der Überprüfung dieser Denk-Produkte an realen Dingen der belebten bzw. "toten" Natur (d. h. Organismen und Fossilien). Die Gleichsetzung des zu neuen Erkenntnissen führenden Labor-Experiments mit der Bibliotheks-Literaturstudie, wie sie R. Bunia vertritt, ist lebensfremd. Wer nie seine Lieblingsthese an einem Experiment hat scheitern sehen, wird den Unterschied zwischen Real- und Verbalwissenschaften nicht verstehen. Das Experiment ist dem Realwissenschaftler der Halt im geistigen Chaos, der Verbalwissenschaftler dagegen rudert in den Nebeln von Avalon, ohne je ein Ufer zu erreichen.
Welche Bedeutung hat nun die Biologie für den in der Bibliothek "forschenden" Verbalwissenschaftler?
Er analysiert letztendlich immer gedachte Geistesproduktionen des Menschen. Denken aber ist ein biologischer Vorgang und das Verständnis seiner Produkte deswegen Sache der Biologie. Das ist natürlich wegen der Komplexität des Gehirns erst seit kurzem und auch erst in Ansätzen analysierbar. So hat die Biologie dem Problem der Willensfreiheit eine reale Grundlage gegeben. Erst die Biologie wird imstande sein, zu sagen, was "Intelligenz" ist und wie sie zu messen sei. Also gilt: Nur im Lichte der Biologie können geistige Produktionen sinnvoll ergründet und verstanden werden.
Geisteswissenschaftliche "Theorien" ohne faktische (biologische) Grundlage, wie sie z. B. der von vielen Ghost-Scientists verehrte Philosoph Georg W. F. Hegel (1770 - 1831) publiziert hat, sind leere Worthülsen und oft das Papier nicht wert, auf dem sie verbreitet werden. Natürlich gibt es auch sinnvolle geisteswissenschaftliche Forschungen: So arbeiten etwa Historiker, die Dokumentar-Biographien erstellen, analog dem Evolutionsforscher. Dokumente werden entdeckt, geordnet, und zu einem Lebensbild zusammengefasst.
Ich verurteile also keineswegs sämtliche "Humanitäts-Studien". Die Behauptung jedoch, Bücher-Gelehrte seien den im Freiland und Labor arbeitenden Naturforschern gleich zu setzen, weise ich zurück.