Geschichte, Vordenker und Organisationen des Islamismus

(hpd) Der Islamwissenschaftler Tilman Seidensticker legt mit “Islamismus. Geschichte, Vordenker, Organisationen” eine knappe Einführung zum Thema mit inhaltlichen Schwerpunkten auf die im Untertitel genannten Aspekte vor. Es handelt sich um eine informative und kenntnisreiche Arbeit, der aber noch Ausführungen zur Einschätzung des Extremismus- und Gefahrenpotentials gut getan hätten.

Bereits vor den Anschlägen vom 11. September 2001 hätte man aus der deutschen Islamwissenschaft heraus einen Band zum Islamismus erwarten dürfen. Nach diesen Ereignissen hätte man ihn erwarten müssen. Bemerkenswerterweise mangelt es daran – sieht man von einigen Detailstudien und Sammelbänden ab – bis in die Gegenwart.

Mit dem Buch legt der an der Universität Jena lehrende Tilman Seidensticker einen einführenden Band zum Thema vor. Er erschein in der Reihe “Wissen” des C. H. Beck-Verlages, die den Autoren einen maximalen Umfang von 128 Druckseiten vorschreibt. Insofern wäre auch jede Kritik, die sich auf eine zu knappe Darstellung des komplexen Gegenstandes bezieht, rein formal schon einmal unangebracht. Darüber hinaus beabsichtigt der Autor, das behandelte politische Phänomen im Lichte der historischen Entwicklung abzuhandeln. Dadurch ist ihm schon von vornherein viel Raum für die Beschreibung und Erörterung der unterschiedlichen Facetten genommen.

Den Einstieg ins Thema unternimmt Seidensticker durch eine Definition: “Beim Islamismus handelt es sich um Bestrebungen zur Umgestaltung von Gesellschaft, Kultur, Staat oder Politik anhand von Werten und Normen, die als islamisch angesehen werden” (S. 9).

Diese Begriffsbestimmung ist demokratietheoretisch ein wenig unbestimmt, würde sie doch eine Art islamische CDU einschließen. Der Autor nimmt dann aber noch eine entscheidende Ergänzung um weitere Punkte vor, wobei folgende Gesichtspunkte von besonderer Bedeutung sind: “Eine Verabsolutierung des Islam für die Gestaltung des individuellen, gesellschaftlichen und staatlichen Lebens, kombiniert mit dem Ziel einer weitgehenden Durchdringung der Gesellschaft.” und “die Forderung statt der westlichen Volkssouveränität die ’Souveränität Gottes’ ins Werk zu setzen”* (S. 10). Dadurch wird die Begriffsbestimmung viel trennschärfer und macht auch als Unterscheidung zu der Sammelbezeichnung “islamischer Fundamentalismus” mehr Sinn, was Seidensticker zurecht betont.

Der Definition folgt eine Beschreibung des historisch-politischen Hintergrundes, wobei neben dem Aufstiegs- und Niedergangsprozess der islamischen Welt und dem kolonialen Kontext auch der Entstehung von Salafismus und Wahhabismus besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Danach stehen die prägenden Protagonisten als ideologische Stichwortgeber des Islamismus von Al-Afghani und Rashid Rida über Hasan al-Banna und Sayyid Qutb bis zu Ruhollah Khomeini und Hasan at-Turabi im Zentrum des Interesses. Dem folgt eine Beschreibung und Kommentierung der bedeutenden Organisationen und Parteien, wobei es um die Muslimbruderschaft mit ihren Ablegern in verschiedenen Ländern, islamistische Parteien in der Regierungsverantwortung wie die AKP in der Türkei oder die Hamas in Palästina, aber auch um die internationale Al-Qaida und die libanesische Hisbollah geht. Und schließlich behandelt der Autor die Rechtfertigung und Umsetzung von Gewalt, wobei das Jihad- und Märtyrer-Verständnis besondere Aufmerksamkeit finden.

Insofern hat man es endlich einmal mit einer knappen Einführung und Gesamtdarstellung zum Thema zu tun. Seidensticker erweist sich als guter Kenner der Materie, wobei aber manche Gewichtungen im Stoff irritieren. Der so bedeutsame Ideologe Abu l-A’la al-Maududi kommt nur kurz bei den Ausführungen zu Sayyid Qutb vor. Im Abschnitt über die türkische AKP fehlt es eigentlich an Darstellungen und Einschätzungen zur aktuellen Regierungspartei, währenddessen die “Milli Görüs”-Bewegung ohne deren Nennung mehr Aufmerksamkeit findet.

Bemerkenswert ist die differenzierte Einschätzung zum Verhältnis von Islam und Islamismus: Seidensticker spricht davon, dass der Rekurs auf die Religion als Begründung für Gewalt manchmal “eine Alibifunktion” habe, die “Einkleidung” durch den Glauben in “vielen Fällen” (S. 105) aber auch die Wahrnehmung forme. Bedauerlich ist, dass der Islamismus in Deutschland nur sehr kurz bei den Ausführungen zum Salafismus angesprochen wird (vgl. S. 27f.). Ansonsten handelt es sich um eine gute und informative Einführung.

 


Tilman Seidensticker, Islamismus. Geschichte, Vordenker, Organisationen, München 2014 (C. H. Beck-Verlag), 127 S., 8,95 Euro