Darwins Kosmos

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Cover (Ausschnitt) "Darwis Kosmos"

FRANKFURT. (hpd) Im „Darwin-Jahr“ wird die Auseinandersetzungen um Darwins wissenschaftliche Revolution intensiv geführt. Franz M. Wuketits leistet mit seinem neuen Buch „Darwins Kosmos. Sinnvolles Leben in einer sinnlosen Welt“ seinen Beitrag dazu. Ab dem 14. Oktober stellt er seine Thesen auf einer Lesereise zur Diskussion. Peter Menne ist von der einen Hälfte begeistert – und formuliert Einwände gegen die andere Hälfte.

Der Wiener Evolutionsbiologe Professor Franz M. Wuketits führt in seinem 162 Seiten starken Buch „Darwins Kosmos“ in die Grundbegriffe der Evolution ein und setzt sich mit kreationistischen Vorstellungen auseinander. Dann folgen Empfehlungen, wie ein Mensch sein individuelles Leben sinnvoll gestalten kann in einer Welt, die keinen objektiven Sinn hat.

In den ersten drei Kapiteln führt Wuketits in die Grundbegriffe biologischen Denkens ein: er erläutert den Stellenwert der Frage nach der Zweckmäßigkeit für die Erforschung biologischer Phänomene. Gerade auch für Nicht-Naturwissenschaftler sehr anschaulich werden die auf Darwin zurückgehenden Begriffe der Selektion und der Variation eingeführt. Einem Biologen könnte dabei manches selbstverständlich erscheinen – doch für Städter sind anschauliche Beispiele wie daß „bei den Geparden ... nur jedes zehnte Junge seine ersten drei Lebensmonate überlebt“ (S. 36) sehr wertvoll: Von ausgebautem (Universitäts-)kliniksnetz verwöhnt, ist in Mitteleuropa auch eine Frühgeburt kein Problem. Wuketits schreibt, „in der Natur ist es eher die Regel als die Ausnahme, dass viele Kinder ihre Eltern nicht überleben“ (S. 36) – solche Informationen sind dem Alltagsbewußtsein fremd. Zugleich sind das aber Fakten, die für das Verständnis der Selektionstheorie nötig sind. Genauso einfach nachvollziehbar wird die Variation erläutert, deren Theorie von späteren Biologen zur genetischen Rekombination und zur Mutation weiterentwickelt wurde. Wuketits zeichnet ein schlüssiges Bild von der Evolution als ergebnisoffener Entwicklung – voller Zufälle, voller „Sackgassen“ (S. 49): „die Evolution des Lebens war kein geradliniger Vorgang, kein planvoller Prozess, sondern im Grunde eine Abfolge von vielen kleinen, mittleren und großen Katastrophen“ (S. 49).

Schon in den ersten drei Kapiteln schießt Wuketits den einen oder anderen Pfeil gegen Schöpfungsmythen ab und stellt in einer Tabelle S. 64-65 die häufigsten Einwände gegen die Evolution zusammen. Das kulminiert im vierten Kapitel „Unintelligent Design“ in einem Generalangriff auf kreationistische Vorstellungen. Pointiert legt Wuketits dar, daß – wenn es einen Schöpfer gäbe – dieser kein „intelligenter Planer“, sondern ein ungeübter Pfuscher gewesen wäre. Nicht nur die Dinosaurier, sondern „die allermeisten Arten sind wieder ausgestorben“ (S. 33). Auch der moderne Mensch wäre ein Fall für eine großangelegte Rückrufaktion: “ Sein aufrechter Gang nämlich hat unangenehme Begleiterscheinungen. Er belastet die Wirbelsäule, und besonders beim zivilisierten Menschen, der viel Zeit sitzend verbringt, kommt es dadurch immer wieder zu schmerzhaften Bandscheibenschäden“ (S. 72).

Indem Wuketits die Evolution des Lebens mit all ihren Wirrungen und Irrläufen darstellt und die Evolution des Menschen darin einbettet, schließt er alle Vorstellungen von einem Schöpfer, einem „intelligenten Planer“ gar, aus: sein wissenschaftliches Weltbild bleibt offen für Neues - doch Fehler wie den Schöpfungsglauben kann es definitiv ausschließen.
Das Thema des Buches ist mit „sinnvolles Leben in einer sinnlosen Welt“ deutlich breiter gefaßt als nur die Grundbegriffe der Evolution und eine abermalige Widerlegung des Kreationismus: interdisziplinär schneidet Wuketits im fünften und sechsten Kapitel Fragen von Soziologie und Ökonomie, von Macht und Moral an. Im Ergebnis formuliert Wuketits sehr sympathische, liberale Auffassungen zu Staat und Gesellschaft. Doch leider wird seine Argumentation hier schwächer: viele Themen reißt Wuketits an, ohne sie mit der nötigen Sorgfalt zu durchdringen.

Einerseits scheint es begrüßenswert, wenn staatliche Kontrollmöglichkeiten wie „Rasterfahndung, Videoüberwachung, Lauschangriff“ (S. 110) fächerübergreifend kritisiert werden. Andererseits ist Wuketits’ Skizze des „Diktats der Wirtschaft“ (S. 111) gar zu plakativ: „Konzerne schließen sich zu immer größeren Konzernen zusammen, entlassen tausende Mitarbeiter und vermehren dadurch nur ihr eigenes Kapital, das bloß sehr wenigen zugute kommt“ (S. 111). Jede weitere Auswertung ökonomischer Zusammenhänge fehlt, der Satz steht allein in einem Absatz von Staats- und Bürokratiekritik. Auch Wuketits’ Beschreibung von Repräsentanten der Europäischen Union klingt populistisch: „Dem realen Leben zunehmend entrückt, schwirren sie durch die Gegend, eilen von einer Sitzung zur anderen und treffen 'wichtige Entscheidungen', deren Relevanz immer weniger nachvollziehbar ist“ (S. 111).

Großorganisationen als „Akteure aus eigenem Recht“

Nachvollziehbar werden die Invektiven gegen Staat, Wirtschaft und Bürokratie, wenn man bedenkt, daß das alles Großorganisationen sind – Wuketits aber über keinen Begriff von „Organisation“ verfügt: „Real ist nur das Individuum, der Staat und alle über- beziehungsweise zwischenstaatlichen Institutionen und Organisationen sind Konstrukte. 'Der Staat' kann nichts wollen, nichts tun und niemanden bestrafen; nur konkrete Menschen mit ihren jeweils eigenen Vorstellungen, Wünschen, Absichten und Zielen können handeln“ (S. 111). Damit widerspricht Wuketits der soziologischen Forschung: „Organisationen müssen auch als Akteure aus eigenem Recht begriffen werden, als 'korporative Personen'“, faßt zum Beispiel W. Richard Scott zusammen (Scott, Grundlagen der Organisationstheorie, Frankfurt/New York: Campus, 1986, S. 27). Wenn Wuketits postuliert: „Aber 'der Staat' ist keine Person!“ (S. 111), übersieht er die feinsinnige rechtswissenschaftliche Unterscheidung in natürliche und in juristische Personen – die auch für soziologische Analyse fruchtbar gemacht werden kann: in komplexer, zivilisierter Gesellschaft kann ein einzelnes Individuum ganz individuell mit einem anderen einzelnen Individuum in Interaktion treten. Kann – ein Großteil der Interaktionen passiert zwischen Menschen und Organisationen.

Das mag einerseits als „dem realen Leben entrückt“ (S: 111) beklagt werden, bietet andererseits ganz erhebliche Erleichterungen im Alltag: man denke bloß an jemanden, der in einer Großstadt per Straßen- oder U-Bahn in ein anderes Stadtviertel fahren möchte. Selbstverständlich verläßt der sich auf den Fahrplan. Weiter verläßt sich unser jemand darauf, daß der U-Bahn-Fahrer an der Weiche eben nicht ganz individuell entscheidet, ob er heute lieber links oder rechts fahren möchte. Für das Funktionieren einer komplexen Infrastruktur ist es geradezu notwendig, daß die Organisationsmitglieder nicht ihren je individuellen Willen, sondern das Organisationsziel ausführen. Luhmann vermerkt: „Wahrheit, Geld, politisch organisierte und in Rechtsform ausgeteilte Macht wirken als Handlungsauslöser selbst dann, wenn es um ein Verhalten geht, daß der Mensch, anthropologisch gesehen, von sich aus nie ausführen würde“ (Niklas Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, München/Wien: Olzog, 1981, S. 21). Sozialverhalten im Organisationskontext verlangt dem Individuum einiges ab – und erleichtert ihm zugleich vieles: wie mühselig wäre es, müßte jeder Fahrgast mit dem Lokführer seine Strecke ausdiskutieren? Komplexe Organisationen haben sich im Laufe soziokultureller Evolution entwickelt, lassen sich nicht auf Handlungen einzelner Mitglieder reduzieren – und sind in modernen Gesellschaften einfach vorhanden, also vom Individuum zu berücksichtigen.

So richtig und sympathisch Wuketits’ Empfehlung ist, „dass man 'Führern' grundsätzlich mit Skepsis begegnen sollte“ (S. 131), daß man Kants Aufforderung, sich des eigenen Verstandes zu bedienen (S. 109), dringend wieder beherzigen sollte: im kleinen Kreis ist es sicher „die gesündere Lösung moralischer Konflikte“ (S. 99), gemeinsam wahlweise einen Cognac oder ein Glas Milch zu trinken und den Dissens auszudiskutieren. Für Gesellschaften ist das nicht praktikabel – das Ziel größtmöglicher individueller Freiheit ernstgenommen, gilt es hier, Organisation und ihre Entscheidungsprozesse (mit-) zu gestalten. Das wird wichtig, wenn man wie Wuketits die evolutionstheoretische Perspektive auch als Beitrag versteht, „die Bedeutung des Individuums und seiner geistigen und gesellschaftlichen Potentiale in den Vordergrund [zu] rücken.“ (S. 112). Denn damit sind wir bei Werten: „sinnvolles Leben in einer sinnlosen Welt“ verkündet der Untertitel. Wie sieht das aus? In gekonnter Satire empfiehlt Wuketits zunächst, „nicht auf den Tag zu warten, an dem etwa die Bürokraten der Europäischen Union in Brüssel den Sinn des Lebens normieren“ (S. 113)