Entwicklungspsychologie als Schlüssel zum Verständnis eines Menschheitsrätsels

Wie ist Religion wissenschaftlich erklärbar?

Die gesamte Forschungsbranche „Religion des Kindes“ hat im 20. Jahrhundert gezeigt, dass Kinder tief religiös sind und moderne Jugendliche eine demgegenüber abgeschwächte Religion haben. K. Hyde (1990) und Goldman (1964) haben einen umfassenden Überblick über diese Forschungslandschaft vorgelegt. Demzufolge zeigen buchstäblich tausende Untersuchungen, dass Kinder elementare Vorstellungen von Gott und göttlichem Handeln haben, von der Macht des Gebetes, von der göttlichen Regierung der Welt, von der Wirksamkeit der Magie und von der Fortexistenz der Seele. Ferner, dass moderne Jugendliche eine religiöse Entwicklung durchlaufen, in der die ursprünglichen, magischen, animistischen und konkreten Ideen und Praktiken blasser, schwächer und abstrakter werden.

Schon das Buch „Das Weltbild des Kindes“ von Piaget (1981) hatte die Übereinstimmungen zwischen der Religion des Kindes und der des vormodernen Menschen gezeigt. Schon dieses Werk hatte aufgewiesen, dass moderne Kinder spätestens nach dem 10. Jahr dieses ursprüngliche archaische Weltbild verlassen, während vormoderne Menschen ihm lebenslang verhaftet bleiben.

Ich habe in mehreren Aufsätzen und in einem Buch, das 2015 fertig gestellt werden wird, gezeigt, dass sämtliche Bausteine, aus denen Religionen zusammengesetzt sind, ihren Ursprung im kindlichen Denken und in der kindlichen Psyche haben. Alle Kinder dieser Welt glauben genauso wie vormoderne Erwachsene, die Welt sei ein Artefakt, aus Handlungen von Personen und Mächten hervorgegangen. Beide Gruppen glauben daran, das Weltgeschehen unterliege der Magie von Personen und Mächten. Beide Gruppen glauben an Belohnung und Bestrafung im Dies- und Jenseits. Kinder glauben an Gott, Geister und an die Magie ihrer Eltern und Erwachsenen gleichermaßen (Oesterdiekhoff 2009a, 2013: 215–240; Hyde 1990). Kinder bis zum sechsten Jahr halten Eltern und Erwachsene für allwissend und allmächtig, perzipieren sie als eine Art Götter (Bovet 1951; Piaget 1981; Goldman 1964; Hyde 1990). Danach setzt eine skeptische Krisis ein. Die gestiegenen geistigen Fähigkeiten des Kindes zeigen ihm die Grenzen, die Eltern, Erwachsenen und Menschen gesetzt sind. Nun überträgt das Kind seine religiösen Gefühle auf den imaginären Gott der Kultur. Wie auch das Vorschulkind haben Steinzeit- und Stammesvölker die Idee eines Himmels- und Herrschergottes. Alle vormodernen Kulturen, Steinzeitvölker und Zivilisationen wie das alte China, Indien, der antike Mittelmeerraum und das präkolumbianische Amerika, pflegen aber parallel auch den Ahnenkult. Dieser beinhaltet die Verehrung der verstorbenen Eltern, Großeltern, Tanten, Onkel und Vorfahren als Götter, die aus dem Jenseits das Leben der Nachfahren beherrschen (Frazer 2010; Jensen 1992). Ich habe gezeigt, dass dieser Basisbaustein der alten Religionen in der Mentalität des Kindes verwurzelt ist, in seiner religiösen Haltung gegenüber den Eltern vor der skeptischen Krisis (Oesterdiekhoff 2013: 223–230). Die Psychologie des Ahnenkultes beleuchtet aber auch die Psychologie des Hoch- und Weltgottglaubens.

Kinder können sich wie Naturvölker zunächst den Tod nicht als Auslöschung der Persönlichkeit vorstellen. Es handelt sich um eine voraussetzungsreiche abstrakte Denkleistung (Anthony 1940). Ferner verfügen sie über eine blühende Phantasie und die Kraft des Wunschdenkens. Kinder malen sich daher ein Leben nach dem Tode aus, mit ganz konkreten Vorstellungen und Bildern vom Jenseits (Goldman 1964; Hyde 1990). Die bildhaften Vorstellungen der alten Völker vom Paradies und Jenseits wurzeln daher in einer kindlichen Psyche. Das Absterben des Glaubens an Jenseits und Unsterblichkeit in der Kulturmoderne stammt daher aus der Evolution der adoleszenten Stufe der formalen Operationen (Oesterdiekhoff 2009a, b, 2013a: 236–240).

Die kindliche Phantasie ist auch der Quellgrund des Glaubens an Märchen und Legenden. Kinder zwischen dem 3. und 8. Jahr leben in einer Welt der Märchen und glauben an Zauberer, Feen, Geister und göttliche Wesen (Blair et al. 1986; Dieckmann 1995; Hyde 1990, von der Leyen 1995; Werner 1959). Nicht nur der Gründervater der Psychologie, W. Wundt (1914), hat aufgezeigt, dass Göttermythen und Kindermärchen sich historisch zunächst nicht voneinander unterschieden haben. Der Glaube an die Götter wurzelt zunächst in Mythen und Legenden. Der vormoderne Mensch besaß die Fähigkeit, solche Märchen zu erfinden und an sie zu glauben. Religion und Göttermärchen gründen daher in einem anthropologischen Entwicklungsstand, der dem eines Kindes unterhalb des achten Jahres entspricht. Reifen Erwachsene weiter, dann wird ihr mythologischer Sinn schwächer und verschwindet schließlich ganz. Moderne Atheisten und Agnostiker können nicht mehr an Götter glauben, da ihr anthropologischer Entwicklungsstand verunmöglicht, Mythen und Märchen als Reportagen verstehen zu können (Oesterdiekhoff 2006a, b, 2007, 2012, 2009a, b, 2013: 232–236).

Wie man sieht, Religion wurzelt in einem psychologischen Entwicklungsstand von Menschen, die auf der kindlichen Stufe stehen geblieben sind. Sämtliche Bestandteile der Religion gründen in psychologischen Mechanismen, die Teile der kindlichen Entwicklungsstufe sind. Religiöse Menschen der Industriemoderne haben daher eine blassere und schwächere Religion als die unserer Vorfahren. Die moderne Restreligion ist aber nicht von psychologischer Entwicklung entkoppelt, sondern reflektiert Übergangs- und Zwischenstufen. Atheismus und Agnostizismus resultieren nun eindeutig aus der psychologischen Weiterentwicklung, aus der Evolution der adoleszenten Stufe der formalen Operationen.

Die Entwicklungspsychologie liefert den Schlüssel zum Verständnis der Religion. Religion kann man nicht soziologisch, allgemeinpsychologisch, phänomenologisch, evolutionsbiologisch oder anthropologisch erklären, sondern nur entwicklungspsychologisch. Nur die Entwicklungspsychologie erklärt auch die Evolution von Agnostizismus und Atheismus. Sie erklärt Glauben und Unglauben aus einem Guss.

 


Übernahme von richarddawkins.net