Rezension

Der "Islamische Staat" und die Staatenbildung

BONN. (hpd) Die Terrorismusexpertin Loretta Napoleoni beschreibt in ihrem Buch "Die Rückkehr des Kalifats. Der Islamische Staat und die Neuordnung des Nahen Ostens" die Terror-Miliz als Akteur zur Bildung eines homogenen islamistischen Staates. Dabei arbeitet die Autorin auch durch vergleichende Betrachtungen eine Fülle an bislang noch nicht genügend beachteten Besonderheiten heraus, wobei nicht jede Einschätzung in den meinungsstarken, aber reflexionswürdigen Ausführungen genauer belegt ist.

Die brutalen Gewaltakte des "Islamischen Staates" (IS), die sich etwa in dem Abschneiden von Köpfen oder dem Verbrennen von Menschen artikulieren, dominieren immer wieder die tägliche Medienberichterstattung. Dabei erfolgen nicht selten Gleichsetzungen mit "Al Qaida", frei nach dem Motto: eine andere, noch menschenverachtende terroristische Organisation. Doch diese Auffassung vermittelt eine falsche Sicht, denn es gibt gravierende Unterschiede zwischen den beiden djihadistischen Phänomenen.

Auf diese Besonderheiten will Loretta Napoleoni, die durch ihre Studie "Die Ökonomie des Terrors. Auf den Spuren der Dollars hinter dem Terrorismus"(2004) bekannt wurde, aufmerksam machen. Ihre neueste Publikation "Die Rückkehr des Kalifats. Der Islamische Staat und die Neuordnung des Nahen Ostens" analysiert die Terror-Miliz im Lichte von Umbruchprozessen in der arabischen Welt. Dabei erklärt sich Napoleoni die Durchschlagskraft des IS durch seine Modernität und seinen Pragmatismus bei dem Bemühen der Staatenbildung.

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Denn dessen Absicht sei es, die politische Karte des Nahen Ostens durch die Etablierung eines eigenen politischen Systems neu zu zeichnen: "Der IS legt großen Pragmatismus an den Tag, wenn er die Peitsche der Gewalt und der Scharia mit dem Zuckerbrot der propagandistischen sozialen Medien sowie einer Vielzahl von sozialen Programmen verbindet, die auf die Verbesserung der Lebensumstände der im Kalifat in die Falle geratenen sunnitischen Bevölkerung abzielen" (S. 18). Dies sei auch ein Punkt, der den IS von "Al Qaida" unterscheide. Es ginge ihm ganz offensiv darum, mit politischen und sozialen Reformen die Akzeptanz bei der sunnitischen Bevölkerung zu gewinnen. In diesem Kontext verweist Napoleoni auch auf Aktivitäten des IS, die angesichts der Fixierung auf brutale Gewaltakte in der Medienberichterstattung kaum auftauchen. Als Beispiel dafür nennt sie Impfkampagnen gegen Kinderlähmung, welche die politische Begleitmusik zur zunächst einmal beabsichtigen und schon weit gediehenen Etablierung eines Protostaates seien.

Dem IS gehe es somit um Nationenbildung im Sinne eben eines islamischen Staates, dem eine politische und religiöse Homogenität eigen sein soll. Hierbei komme dem brutalen Agieren eine taktische Dimension zu. Der entfesselte Glaubenskrieg habe "weniger mit der radikalen Doktrin des Salafismus zu tun, sondern mit dem Genozid als Taktik, um den Widerstand unter Kontrolle zu bringen …" (S. 108). Als Handlungsorte wählte der IS nicht zufällig den Irak und Syrien, so die Autorin, kann ebendort doch der voranschreitende Zerfall der dortigen Nationalstaaten konstatiert werden. Gegenüber diesen Entwicklungen empfiehlt sich die Terror-Miliz als Ordnungsmacht. In der Gesamtschau gibt es nach Napoleoni denn auch viele Gemeinsamkeiten mit dem Prozess der Bildung moderner Nationalstaaten, wobei das Mittel des Terrorismus aber einen herausragenden Unterschied darstelle. Dieses Modell könne auch andere bewaffnete Gruppen inspirieren. "Das Versäumnis des Westens, sich diesem Problem zu stellen, wird für die Weltordnung verheerende Folgen haben" (S. 129).

Wie diese Passage exemplarisch veranschaulicht, handelt es sich um einen meinungsstarken und pointierten Text. Nicht jede Auffassung wird breiter diskutiert und inhaltlich entwickelt. Gleichwohl verweist die Autorin zutreffend auf einige Besonderheiten des IS, die bislang in der Debatte noch keine genügenden Aufmerksamkeiten fanden. Sie vergleicht auch ihr Untersuchungsobjekt mit anderen Gruppen in Geschichte und Gegenwart. Hier klingt immer wieder der hohe potentielle Erkenntnisgewinn komparativer Betrachtungen an, so heißt es etwa: "Es lohnt sich, die Geschichte der finanziellen Eigenständigkeit der PLO in Erinnerung zu rufen, um die absurde Behauptung von Terrorexperten zu entkräftigen, sie hätten den Aufstieg des Islamischen Staates am Firmament des Dschihadismus nicht vorhersehen können" (S. 41). Nicht alle Einschätzungen wird man teilen können, was insbesondere für die Betrachtungen zu einem potentiellen Gesprächspartner IS gilt. Gleichwohl lohnt die argumentative und kritische Auseinandersetzung mit Napoleonis Sicht.

 


Loretta Napoleoni, Die Rückkehr des Kalifats. Der Islamische Staat und die Neuordnung des Nahen Osten, Zürich 2015 (Rotpunktverlag), 158 S., 18,90 Euro