BERLIN. (hpd/gbs) Der Philosoph und Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung, Michael Schmidt-Salomon, hat seine Beteiligung am Festakt zur Verleihung eines Tierschutzpreises an den australischen Philosophen Peter Singer abgesagt. Grund ist ein aktuelles Interview mit Singer, das die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) am gestrigen Sonntag veröffentlichte.
„Peter Singer hat in diesem Interview Positionen vertreten, die meines Erachtens nicht nur im Widerspruch zu einem humanistisch-emanzipatorischen Politikverständnis, sondern auch im Widerspruch zu seinen früheren Standpunkten stehen“, sagte Schmidt-Salomon. „In dieser Situation muss ich die Reißleine ziehen, denn ich kann keine Laudatio auf einen Preisträger halten, bei dem ich nicht einschätzen kann, welche Positionen er tatsächlich vertritt.“
Michael Schmidt-Salomon hob in seinem Statement hervor, „dass Peter Singer die ethische Debatte über Tierrechte, Anti-Diskriminierung, Bekämpfung der absoluten Armut, Schwangerschaftsabbruch und Sterbehilfe befruchtet hat wie kaum ein anderer Philosoph weltweit“. Seine Impulse für eine zeitgemäße ethische Debatte seien unverzichtbar, seine aktuellen Äußerungen jedoch unverständlich, wenn nicht gar unverantwortlich: „Falls Peter Singer tatsächlich die Auffassungen vertritt, die in dem aktuellen NZZ-Interview zum Ausdruck kommen, muss man seine Argumente nicht nur auf philosophischer, sondern auch auf politischer Ebene entschieden kritisieren.“
Peter Singer hatte in dem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung erklärt, dass die Geburt „keine scharfe Grenze“ markiert und „andere Faktoren“ entscheidend sind, etwa „ob das Kind Schmerz empfindet oder Selbstbewusstsein entwickelt“. Ein „Frühgeborenes im Alter von 23 Wochen“ habe „keinen anderen moralischen Status als ein Kind mit 25 Wochen in der Gebärmutter“. Die NZZ fasste dies – von Singer unwidersprochen – mit den Worten zusammen: „Ein Neugeborenes halten Sie nicht für schützenswerter als einen Embryo.“
Schmidt-Salomon wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Peter Singer in der 1993 erschienenen Ausgabe des Buchs „Muss dieses Kind am Leben bleiben?“ den Einwand des deutschen Philosophen Norbert Hoerster akzeptiert hatte, dass nur die Geburt „als Grenze sichtbar und selbstverständlich genug“ sei, „um ein sozial anerkanntes Lebensrecht zu markieren“ (S.251). Singer bestätigte damals, dass es problematisch sei, den rechtlichen Status eines Menschen vom Alter abhängig zu machen. Denn: Würde die Vorstellung in das öffentliche Denken eingehen, „dass ein Kind mit dem Augenblick der Geburt nicht zugleich auch ein Lebensrecht besitzt, sinke möglicherweise die Achtung vor kindlichem Leben im allgemeinen“ (S.251f.)
Lebensrecht für alle, Lebenspflicht für niemanden
Als Peter Singer 2011 zusammen mit Paola Cavalieri den Ethikpreis der Giordano-Bruno-Stiftung erhielt, habe er den Eindruck erweckt, er könne der Positionierung der gbs in dieser Frage zustimmen, erklärte Schmidt-Salomon. „Unser Standpunkt lässt sich auf einen einfachen Nenner bringen: ‚Lebensrecht für alle, Lebenspflicht für niemanden!‘ Selbstverständlich sollte jeder Mensch, ob behindert oder nicht, ab der Geburt ein unverbrüchliches Recht zu leben besitzen, aber er sollte nicht gezwungen sein, weiterleben zu müssen, wenn dies nicht in seinem eigenen Interesse ist. Dies ist eine klare, unmissverständliche Position, für die man auch in der Bevölkerung großen Rückhalt finden kann! Deshalb ist es mir völlig unverständlich, warum Peter Singer das Recht auf Leben ab der Geburt so scharf angreift! Sollte er in dem Interview gemeint haben, dass Säuglinge noch keine Personen im empirischen Sinne sind, weil sie noch nicht über ein Bewusstsein ihrer selbst verfügen und die Zukunft nicht antizipieren können, so hätte er dies exakt so formulieren müssen – und zwar verbunden mit dem Hinweis, dass wir trotzdem alle Säuglinge von Geburt an im normativen Sinne als Rechtspersonen behandeln sollten, weil eine Aufhebung des Menschenrechts auf Leben, selbst wenn sie sich nur auf die ersten vier Wochen beziehen würde, mit katastrophalen sozialen Konsequenzen verbunden wäre!“
Als „nicht minder verstörend“ bezeichnete Schmidt-Salomon Peter Singers Antwort auf die NZZ-Frage: „Würden Sie so weit gehen, ein Baby zu foltern, wenn es der ganzen Menschheit dauerhaftes Glück verschafft?“ Singer hatte darauf geantwortet: „Ich wäre vielleicht nicht in der Lage, das zu tun, weil ich durch meine evolutionär entwickelte Natur Kinder vor Schaden bewahren will. Aber richtig wäre es. Denn wenn ich es nicht täte, würden in der Zukunft Tausende Kinder gequält.“
„Das klingt so, als wolle Peter Singer ein weiteres Menschenrecht, nämlich den Schutz vor Folter, zur Disposition stellen“, erklärte Schmidt-Salomon. „Selbst wenn Peter Singer dies nicht beabsichtigt haben sollte, ist eine derartige Antwort aus dem Munde eines renommierten Ethikers unverantwortlich. Zudem dürfte man von ihm wohl erwarten, dass er die falschen Voraussetzungen der Frage angreift. Denn es ist beim besten Willen nicht vorstellbar, dass die Folterung eines Babys der Menschheit zu dauerhaftem Glück verhelfen könnte. Geht man aber von falschen Alternativen aus, kann die Wahl zwischen ihnen schwerlich richtig sein.“
Die Überbetonung des Kollektivs
„Hinter der Radikalität, die in dem NZZ-Interview zum Ausdruck kommt – im Unterschied etwa zu dem Interview, das Peter Singer 2011 der FAZ gab“, vermutet Schmidt-Salomon eine „Abkehr Singers von den präferenz-utilitaristischen Positionen“, die er einst vertreten hat: „Im Mittelpunkt des Singerschen Ansatzes standen früher die ‚Interessen der Individuen‘ – nicht der ‚Nutzen der Gesellschaft‘. Ich habe den Eindruck, dass sich dies in den letzten Jahren geändert hat. Singers Argumentation zielt zunehmend auf den größtmöglichen Nutzen innerhalb eines abstrakten Gesamtsystems ab. Die Individuen erscheinen in seinem Denksystem nicht mehr als einzigartige Lebewesen mit ureigenen Interessen, sondern als anonyme Container für quantifizierbare Wohl- oder Unwohlempfindungen, die gegeneinander verrechnet werden. So sehr ich es nachvollziehen kann, dass Peter Singer angesichts der erdrückenden Ungerechtigkeit und Armut in weiten Teilen der Welt eine Überwindung des Egoismus einfordert, halte ich es sowohl ethisch als auch politisch für höchst problematisch, wenn die Anforderungen des Kollektivs so sehr über die Interessen des Individuums gestellt werden.“
Die „strukturelle Überbetonung des Kollektivs“ zeige sich auch in der Antwort, die Peter Singer auf die NZZ-Frage zur Sterbehilfe gegeben habe, meinte Schmidt-Salomon. Auf den Einwand der Interviewerin Nina Streeck, durch eine weitere Verbreitung der Sterbehilfe „könnte Druck auf alte Menschen entstehen, sich selbst das Leben zu nehmen“, antwortete Singer: „Das kann passieren. Empfindet sich jemand als Belastung für seine Familie, ist es nicht unbedingt unvernünftig, dass er sein Leben beendet. Wenn seine Lebensqualität eher schlecht ist und er sieht, wie seine Tochter viel Zeit aufwendet, um sich um ihn zu kümmern, und dabei ihre Karriere vernachlässigt, dann ist es vernünftig, ihr nicht weiter zur Last fallen zu wollen.“
„Ich hätte von Peter Singer eine deutlich andere Antwort erwartet“, sagte Schmidt-Salomon. „Denn erstens gibt es in keiner Gesellschaft, die Sterbehilfe legitimiert hat, einen erhöhten Druck auf alte Menschen, sich selbst zu töten. Zweitens müsste man, falls ein solcher Druck wirklich entstehen würde, alles unternehmen, um ihm entgegenzuwirken. Denn jeder Aktivist, der sich für ‚Humanes Sterben‘ einsetzt, kämpft für das Recht des Individuums, selbstbestimmt sterben zu können – keineswegs für die Pflicht, zugunsten eines kollektiven Nutzens sterben zu müssen! Doch genau in diese Richtung zielt Singers abschließende Bemerkung zur Sterbehilfe. Im Hinblick auf die Lebensqualität alter oder kranker Menschen fragt Peter Singer allen Ernstes, wie viel eine Gesellschaft zahlen sollte, ‚um die Lebensqualität der Bürger zu heben, wenn sie mit dem gleichen Geld das Leben von Menschen in armen Ländern viel stärker verbessern könnte‘. Mit dieser Aussage erweckt Singer nicht nur den fatalen Eindruck, dass sich alte Menschen aus ethischen Gründen suizidieren sollten, bevor sie anderen zur Last fallen. Er ruft geradewegs dazu auf, unsere Solidarität mit Hilfsbedürftigen innerhalb unserer Gesellschaft aufzugeben, weil wir angeblich nur so unseren ethischen Verpflichtungen gegenüber hungernden und entrechtenden Menschen in den Entwicklungsländern nachkommen könnten. Ich halte diese Auffassung nicht nur für politisch und ökonomisch falsch, sondern auch für ethisch untragbar.“
Kein Solidaritätsbruch mit den Hilfsbedürftigen in unserer Gesellschaft
Schmidt-Salomon erinnerte in diesem Zusammenhang an ein Interview, das er bereits vor eineinhalb Wochen dem Humanistischen Pressedienst gegeben hat. Schon in diesem Interview hatte er angemerkt, dass es doch wohl nicht im Sinn des von Peter Singer propagierten „effektiven Altruismus“ sein könne, die Solidarität mit den Hilfsbedürftigen in unserer Gesellschaft aufzukündigen, um mehr Hilfsbedürftige in anderen Teilen der Welt zu retten. Es sei geradezu absurd, das eine gegen das andere auszuspielen, da die Hilfsgelder nicht aus demselben Topf stammen würden und die finanziellen Ressourcen nach ihrem Einsatz keineswegs aus der Welt verschwunden seien, sondern bloß bei anderen Marktteilnehmern landen würden, die sie wieder einsetzen könnten – nicht zuletzt auch zu altruistischen Zwecken.
Seine im selben hpd-Interview aufgestellte Behauptung, Peter Singers Position sei nicht „behindertenfeindlich“, sondern sogar „behindertenfreundlich“, müsse er nach der Lektüre des NZZ-Interviews leider revidieren, sagte Schmidt-Salomon. Denn Singer habe seine Argumente offenkundig so stark zugespitzt, dass sie sich tatsächlich zum Nachteil von Behinderten auswirken könnten: „Indem Peter Singer dazu aufruft, die notwendigen Ressourcen zur Verbesserung der Lebensbedingungen in der Dritten Welt ausgerechnet aus den spärlichen Mitteln zur Unterstützung von alten, kranken und behinderten Menschen zu schöpfen, legitimiert er einen Solidaritätsbruch mit jenen Gesellschaftsmitgliedern, die unsere Hilfe am dringendsten benötigen. Unterfüttert wird dies noch mit einer unzulässigen Negativbewertung der Lebensqualität kranker und behinderter Menschen. Früher nahm ich wohlwollend an, dass sich Peter Singer in diesem Zusammenhang auf einige wenige Extremfälle bezieht. Doch wenn er offenbar selbst die Lebensqualität von Menschen mit Down-Syndrom anzweifelt und in der NZZ meint, dass diese nur ‚ziemlich glücklich‘ sein könnten (die Erfahrung lehrt jedoch, dass sie im Durchschnitt fröhlicher sind als Menschen ohne Trisomie 21!), kann ich ihn auch in dieser Hinsicht nicht mehr verteidigen. Früher orientierte ich mit an der guten, alten hermeneutischen Regel ‚im Zweifel für den Autor‘, aber mittlerweile sind meine Zweifel am Zweifel so sehr gewachsen, dass ich Singers diesbezügliche Positionen selbst bei wohlwollendster Betrachtung nicht mehr mittragen kann.“
Zur Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs
Nicht revidiert hat Schmidt-Salomon seine Kritik an jenen Linken, die Peter Singer für seine Unterscheidung von personalem und nicht-personalem Leben angegriffen haben: „Wer davon ausgeht, dass eine Frau das Recht haben sollte, einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen, kann auf diese Differenzierung gar nicht verzichten! Zwar meinen einige Linke offenbar, dass für die Legitimierung der Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs der Slogan ‚Mein Bauch gehört mir!‘ ausreichen würde, aber das ist definitiv nicht wahr. Denn wäre der Embryo/Fötus tatsächlich eine eigenständige Rechtsperson, so besäße er ein unverbrüchliches Recht auf Leben wie jeder andere Mensch. Daran würde auch die Tatsache nichts ändern, dass sich diese Rechtsperson im Körper einer anderen Rechtsperson befindet. ‚Mein Bauch gehört mir!‘ kann man also nur dann mit einigem Recht sagen, wenn man davon ausgeht, dass sich in diesem Bauch keine andere Person befindet, die einen eigenen Rechtsanspruch auf Leben besitzt. Dies jedoch ist rechtsphilosophisch nur durch das Singersche Argument zu begründen, dass den personalen Interessen der Mutter in der ethischen Güterabwägung sehr viel größeres Gewicht zukommt als den nichtpersonalen „Interessen“ des Embryos/Fötus (was natürlich insbesondere auf die frühen Entwicklungsstufen zutrifft, in denen Embryonen über keinerlei Empfindungsfähigkeit und somit auch über keinerlei Interessen verfügen, die ethisch berücksichtigt werden könnten).“
Aufruf zu einer rationalen Debatte
Schmidt-Salomon gab an, dass er es sehr bedauerte, die Teilnahme an der Preisverleihung in der Urania Berlin so kurzfristig absagen zu müssen, denn zum einen sei die Minderung des Tierleids ein wichtiges Ziel einer zeitgemäßen Ethik, zum anderen habe er in seiner eigenen Entwicklung als Philosoph Peter Singers Werken viel zu verdanken: „Ich habe mich in den letzten Jahren immer wieder dafür eingesetzt, Peter Singer gegen ungerechtfertigte Kritik zu verteidigen. Sein gestriges Interview in der Neuen Zürcher Zeitung hat nun jedoch Differenzen aufgezeigt, die sehr viel größer sind, als ich es angenommen hatte. Gerade weil die Fragen der Interviewerin so offensiv waren, bot dieses Gespräch eine wunderbare Gelegenheit, um alten, kranken, behinderten, hilfsbedürftigen Menschen (und ihren Unterstützern) hier in Deutschland zu verdeutlichen, dass eine wohlverstandene utilitaristische Philosophie nicht darauf hinausläuft, ihre Lebensbedingungen zu verschlechtern. Stattdessen aber hat dieses Interview Anlass zu noch größerer Sorge gegeben. Ich hoffe noch immer, dass die verstörenden Aussagen in dem NZZ-Gespräch auf Sprachprobleme oder einen ungeschickten Umgang mit den Medien zurückzuführen sind, kann aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht ausschließen, dass Peter die Dinge tatsächlich so meint, wie er sie dort zum Ausdruck gebracht hat. Solange diese Punkte nicht geklärt sind, sehe ich mich außerstande, eine Laudatio auf Peter Singer zu halten, so gerne ich dies im Hinblick auf seine herausragende Bedeutung als Philosoph auch getan hätte.“
Schmidt-Salomon verband seine Absage an die Veranstalter mit einer Bitte an die Anti-Singer-Protestler: „Bitte protestieren Sie friedlich und überziehen Sie Peter Singer nicht mit Nazivergleichen, die in seinem Fall nicht nur völlig unangebracht, sondern auch absolut geschmacklos sind! Es gibt in der Tat nur sehr wenige Menschen auf diesem Planeten, die sich so redlich und erfolgreich wie Peter Singer darum bemüht haben, dem großen Ideal der Ethik zu folgen, das Leid zu vermindern und die Freude zu vermehren. Ich fürchte, dass er dabei mittlerweile falsche Wege eingeschlagen hat, aber das ist beileibe kein Grund, eine Hexenjagd auf ihn zu veranstalten!“
Der gbs-Vorstandssprecher erinnerte in diesem Zusammenhang an einen Vorschlag, den die Giordano-Bruno-Stiftung bereits vor vier Jahren im Zuge der damaligen Singer-Debatten unterbreitet hatte: „Wir haben damals eine Konferenz vorgeschlagen, auf der Behinderte und Nichtbehinderte, Singer-Kritiker und -Befürworter, Philosophen, Biologen, Soziologen, Heilpädagogen, Politiker und interessierte Laien miteinander über die drängenden Fragen der Bioethik diskutieren. Die Vorkommnisse der letzten Wochen haben, wie ich meine, deutlich gezeigt, dass eine solche Konferenz noch immer dringend erforderlich wäre.“
42 Kommentare
Kommentare
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Überspritzt ausgedrückt geht es hier um "Gesellschaft vs. Individuum", vorausgesetzt, es gab keinen medialen Unfall bei dem Interview mit Peter Singer.
Das Ganze erinnert mich an klassische Fangfragen religiöser Kreise, ob man einzelne Menschen opfern darf, um eine größere Anzahl von Menschen zu retten. Doch gerade Religion sollte hier schweigen, weil sie in ihrer Geschichte stets die Interessen der Gruppe vor die des Individuum stellte.
Ethik sollte sich aber nicht ausschließlich - im Umkehrschluss - nur am Wohl des Einzelnen orientieren, sondern möglichst ausgewogen vermittelnd argumentieren - unter Einbeziehung des ganzen Planeten inkl. seiner Tier- und Pflanzenwelt. Während Religion vorgibt, bereits die letzten Antworten zu besitzen, kennt die Philosophie meiner Meinung nach noch nicht einmal die letzten Fragen.
Ich finde gut, dass MSS nicht auf Distanz zu Peter Singer geht, sondern sich (und damit die GBS) vor falschen Schritten schützt. Wenn Irritationen - wie durch das NZZ-Interview - auftauchen, dann müssen die verantwortlich geklärt werden. Das wird sicher geschehen, da bin ich sicher.
Und Peter Singers "Gegner" sollten wissen, dass es in diesem Bereich der Ethik nicht um Schlagworte geht, sondern um die schwierigsten Fragen, die wir uns als denkende und mitfühlende Wesen stellen können. Möglicherweise werden wir nie befriedigende Antworten finden, sondern stets nur möglichst ethische Kompromisse.
Ich bin mir sicher, dass jetzt eine Debatte in Gang kommt, die im Idealfall zu schärferen Resultaten führt, zu einer klaren Positionierung für das zentrale Anliegen: Das Leid zu vermindern. Jegliches Leid!
Tabus und religiöse Vorstellung eignen sich hierbei nicht als Ratgeber oder Leitlinien. Diese Debatte muss mit maximaler Ergebnisoffenheit geführt werden. Das sind wir der Welt, die wir verbessern wollen, schuldig...
Julian Estragon am Permanenter Link
Ich bin sehr enttäuscht von diesem Rückzieher, in dem ich eine opportunistische Reaktion auf die Hexenjagd der letzten Wochen sehe.
Die Empörung über Singers hypothetische Aussage zur Folter von Neugeborenen ist ebenfalls Ausdruck philosophischer Unkenntnis. Denn es ist gerade der Witz am Utilitarismus, dass es keine unbedingten Rechte gibt, und dass jede Handlung legitim sein kann, wenn der Nutzen groß genug ist. Man muss diese Denkweise nicht übernehmen, aber Singer zu unterstellen, er würde damit vom Präferenzutilitarismus abweichen - während er diesen in Wirklichkeit konsequent zu ende denkt - , ist ein Beweis für die philosophische Ahnungslosigkeit von MSS.
Dieser späte Rückzieher erinnert an den demonstrativen Austritt von Norbert Hoerster aus der GBS vor einigen Jahren, den ich aufgrund seiner öffentlichen Inszenierung ebenfalls als unfair und geschmacklos empfunden habe. Hier kommt allerdings noch das krasse Unwissen und die hypokritische Empörung hinzu. Für mich bestätigt sich damit, dass Schmidt-Salomon ein PR-Talent ist, aber kein Philosoph.
Dr. Nathan Wars... am Permanenter Link
MSS muss die gbs, der er vorsteht, vor Schaden schützen.
Julian Estragon am Permanenter Link
MSS ist nicht identisch mit der GBS. Auch wenn man zuweilen (leider) diesen Eindruck bekommt.
Defragmentierung am Permanenter Link
Bravo Herr Schmidt-Salomon! Sie beweisen wahre Größe. Zuerst schon mutig in der Verteidigung, ist die schnelle Einsicht nach veränderter Lage m.E. noch lobenswerter.
So stelle ich mir einen wahrhaften (!) Menschen vor. Ein herzliches Dankeschön an dieser Stelle, für Ihre gesamte wichtige Arbeit und Ihr fortgesetztes Engagement.
Dr. Bernd Vowinkel am Permanenter Link
Stichpunkt "Aufruf zu einer rationalen Debatte":
Was bitte ist unter rationalen Gesichtspunkten falsch, wenn Singer sagt:
Gita Neumann am Permanenter Link
Das Wesen der utilitaristisch-rationalen Position von Peter Singer war doch schon immer klar - dafür wurde er ja gerade so angefeindet.
Gita Neumann
Dr. Bernd Vowinkel am Permanenter Link
...was für eine Vorstellung haben Sie vom Humanismus??
Thomas am Permanenter Link
Und man könnte auch mal überlegen, ob der Humanismusbegriff mit seinem speziesistischen Odeur nicht überhaupt ungeeignet ist, eine konsistente ethische Position zu repräsentieren.
Gita Neumann am Permanenter Link
Jedenfalls die, dass der Einzelne nicht zugunsten einer Anzahl von vielen geopfert werden darf - nicht Mittel zum Zweck werden darf, wie hochtrabend dieser Zweck auch sein mag.
Dr. Bernd Vowinkel am Permanenter Link
...da gebe ich Ihnen weitgehend recht. Singer vertritt einen überholten Steinzeitutilitarismus. Ich habe dazu vor einiger Zeit mal geschrieben:
"Bei der Abwägung von Freud und Leid bei der Frage der Tötung von behinderten Neugeborenen kann man z.B. so gegen eine Tötung argumentieren, dass den eher geringen Nachteilen für die Gesellschaft der Vorteil des Gefühls aller Beteiligten, human zu handeln, überwiegt. Wichtig ist dabei natürlich auch die Erfahrung, wie Behinderte ihr eigenes Leben sehen und da gibt es ja sehr positive Beispiele für ein erfülltes Leben. Es ist eben so, dass es im Utilitarismus keine absoluten Werte gibt, sondern es muss bei jeder Regel überlegt werden, ob sie für die Gesellschaft gut oder schlecht ist. Im Gegensatz dazu werden in Religionsgemeinschaften absolute Werte dogmatisch festgelegt, über die dann nicht mehr diskutiert werden darf, egal wie schwachsinnig sie auch sein mögen."
...das widerspricht durchaus nicht der Tatsache, dass eine Grenzziehung z.B. bei der Geburt oder bei einer zeitlichen Frist während der Schwangerschaft letztlich willkürlich ist. Aber irgendwo muss man aus rein pragmatischen Gründen eine Grenze ziehen .
Stephan Hüsler am Permanenter Link
Und wer bitte schön kann beurteilen, wie meine Lebensqualität ist? Ich wäre jedenfalls nicht in der Lage, die Ihrige zu beurteilen.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Ich weiß nicht, wie das Interview zustandegekommen ist und ob P. Singer einen Einfluss auf die Endfassung hatte.
Auf ethische Dilemmata (wie die Babyfolter), auf die es per se keine klare Antwort gibt, hätte ich mich eh nicht eingelassen. Das klang hier in den Kommentaren schon an. Dem Kommentar von Bernd Vowinkel kann ich mich anschließen.
Auf jeden Fall aber hätte ich die Chance ergriffen, mit Singer (von MSS lange sehr hoch geschätzt) persönlich über das Interview und dessen Inhalt zu reden. Der Beitrag gibt mir darauf leider keinen Hinweis.
Schade eigentlich.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Hans, ich kann die Irritation nachvollziehen, die Michaels Absage hervorrief.
Denn er - MSS - stünde am Mikrofon und sollte eine Laudatio (lat. Lobrede) auf Peter Singer halten. Ist ihm das wirklich zuzumuten nach einem in vielen Punkten verstörenden Interview - dessen Entstehungsgeschichte, wie du richtig schreibst uns allen nicht bekannt ist? Ich weiß selbst, wie Aussagen verzerrt werden können.
Ich frage mich: Gibt es keine Stellungnahme von P. Singer NACH dem Interview, in der er sich von der gedruckten Version distanziert? Das muss ihm doch zu Ohren gekommen sein, was GEDRUCKT wurde. Wäre es verfälscht oder missverständlich gewesen, hätte er es doch (vermutlich) geraderücken können/geradegerückt.
Ich lese aus Michaels Stellungnahme den Wunsch, die Sache zu klären. Doch bis dahin muss das NZZ-Interview ernstgenommen werden. Dort sollte nichts hineininterpretiert werden, weder anklagend noch verteidigend. Und Michael hat seine Bauchschmerzen - wie ich finde - nachvollziehbar dargelegt, weil er das Interview wörtlich versteht (was nach aktuellem Kenntnisstand das einzig Vernünftige ist). Diese Bauchschmerzen gipfelten in der Absage der Laudatio.
Ich vermute, dass sich die Sache in Bälde klären lässt, denn P. Singer wird sich sicher dazu äußern, wie das Interview zustande kam. Dann sollte man noch eine Stellungnahme der NZZ abwarten und zu einem abschließenden Urteil kommen.
Stefan Neudorfer am Permanenter Link
Singer war halt ehrlich ... und wer seine Gedanken mit ihm zu Ende denkt, muss ihm Recht geben.
Aber eben weil es unmenschlich ist was letztendlich daraus erwächst, ist es schon in den Anfängen falsch.
Bernd Lauert am Permanenter Link
Ich sehe nicht, dass es falsch ist. Auch ich würde im genannten Gedankenexperiment das Baby foltern.
Dass diese Aussagen hart klingen, negativ interpretiert werden können und medienstrategisch unklug sein können, ist allerdings klar.
Nur: Die Feinde Singers bekleckern sich da auch nicht mit Ruhm. Leute wie Oliver Tolmein haben ja auch keine Probleme, Menschen ihre individuelle Selbstbestimmung abzusprechen und sie unter eine kollektivistisch-symbolische Moral zu zwingen, wenn es z.B. um das Thema freiwillige Sterbehilfe geht.
Michel W. am Permanenter Link
Liebe Demonstranten gegen Peter Singers Ideen,
Thomas am Permanenter Link
Auch ich bin enttäuscht von MSS' Absage und peinlich berührt von seinen Unterstellungen, die darauf schließen lassen, daß er Singers Ethik in ihrer logischen Struktur und Konsequenz nie richtig erfaßt haben kann.
Micki am Permanenter Link
MSS: „[...]Sein gestriges Interview in der Neuen Zürcher Zeitung hat nun jedoch Differenzen aufgezeigt, die sehr viel größer sind, als ich es angenommen hatte.
Wieso tritt Herr Schmidt-Salomon denn nicht einfach unmittelbar mit Herrn Singer in Kontakt und diskutiert mit ihm diese Punkte im persönlichen Gespräch? Ist es üblich, dass ein Laudator seine Erfahrungen über den Preisträger nur von Lektüre hat?
Kvothe am Permanenter Link
Die meisten Punkte die Singer genannt hat, halte ich nicht für kritikwürdig. Man sollte allerdings zwischen zwei Arten des Utilitarismus unterscheiden:
Bsp: Ein knappes Medikament einem Erwachsenen vorenthalten um stattdessen 5 Kinder zu retten.
und
(2.) Dem direkten Zufügen von Leid/Folter einer Minderheit gegenüber, um so Schaden für eine Mehrheit abzuwenden.
Bsp: Töten eines Menschen um mit dessen Organen 5 andere zu retten.
Bsp2: Foltern eines Kindes um tausend andere vor Leid zu bewahren.
Bsp3: Auslöschen einer Minderheit um einer Mehrheit zu dauerhaftem Glück und Wohlstand zu verhelfen.
Ersteres ist natürlich vollkommen legitim und hier befürworte ich Singers Positionen auch, letzteres hingegen lehne ich ganz entschieden ab.
Sollte Singer schon immer diese Position gegenüber dem 'Babyfolter-Dilemma' vertreten haben, wäre es natürlich eine Nachlässigkeit von MSS, wenn er dies jetzt erst erkannt hat. Mir persönlich waren solche Argumente von Singer allerdings auch noch nicht bekannt - weswegen ich an Quellen dazu interessiert wäre.
Man sollte auch bedenken, dass Singers Antwort hier sehr gut seinen Gegnern in die Taschen spielt. Diejenigen, die Nazivergleiche anbringen, brauchen nur das Wort "Baby" durch "Juden" ersetzen und schon bekommt das Ganze einen sehr unangenehmen Beigeschmack:
>>Würden Sie so weit gehen, >>alle Juden<< zu foltern, wenn es der ganzen Menschheit dauerhaftes Glück verschafft?<<
>>Ich wäre vielleicht nicht in der Lage, das zu tun, weil ich durch meine evolutionär entwickelte Natur >>alle Menschen<< vor Schaden bewahren will. Aber richtig wäre es. Denn wenn ich es nicht täte, würden in der Zukunft >>Millarden<< andere Menschen gequält.<<
Auch wenn das nur ein unrealistisches Gedankenexperiment ist, geht es hier doch ums Prinzip. Und jemand der es prinzipiell für legitim hält, eine Minderheit für das Glück einer abstrakten Mehrheit bluten zu lassen, ist für mich einfach untragbar. Ich kann MSS Entscheidung daher sehr gut nachvollziehen. Was seine Bedenken an den anderen Äußerungen von Singer betrifft, kann ich seine Kritik jedoch nicht teilen.
Michael Fischer am Permanenter Link
Ich bin kein Philosoph, aber ich bin auch eher von Schmitt-Salomons Reaktion peinlich berührt.
"Würden Sie so weit gehen, ein Baby zu foltern, wenn es der ganzen Menschheit dauerhaftes Glück verschafft?", ist ja wohl eine völlig idiotische Frage, auch wenn sie aus einem literarischen Klassiker stammt.
Wenn es etwas geben sollte, was der Menschheit dauerhaftes Glück verspricht, dann wäre wohl alles bis einschließlich des Jüngsten Gerichtes Gottes an den Lebenden zum Erreichen dieses Zieles gerechtfertigt.
Das Interview erinnert mich sehr an die mündlichen Prüfungsausschüsse für Kriegsdienstverweigerer in den 70er/80ern.
Peter Singer hat auf idiotische Fragen korrekte Antworten geliefert. Ich weiß nicht, was es daran zu bekritteln gibt.
Michael Fischer am Permanenter Link
Noch eine Anmerkung: In obigem Artikel wird Singer im Gegensatz zum NZZ-Interview unvollständig zitiert: Singer sagte nicht: "Das kann passieren.
War das ein Versehen oder wurde dieser Satz, der m.E. durchaus ein emotionales Element in sich birgt, bewußt ausgespart?
Michael Schmidt... am Permanenter Link
Hier sind einige Fragen aufgetaucht, die ich gerne beantworten möchte:
1. Mein vielleicht größtes Problem mit dem NZZ-Interview besteht darin, dass Peter Singer, wie er mir schrieb, keine Probleme mit dem Interview hat, sondern findet, dass seine Positionen darin adäquat wiedergegeben werden. Wohlwollend könnte man hier vielleicht noch einräumen, dass er die Brisanz dieses Interviews (möglicherweisen aufgrund von Sprachproblemen) falsch einschätzt, aber irgendwann ist selbst bei mir das Reservoir an wohlwollenden Interpretationen aufgebraucht - und dies, obwohl ich Peter sowohl als Mensch als auch als Philosophen sehr schätze. Ich habe viel von ihm gelernt, aber die Schlussfolgerungen, die er in manchen Punkten zieht, kann ich (siehe den obigen Artikel) beim besten Willen nicht mittragen.
2. Ich habe bereits 2005 im "Manifest des evolutionären Humanismus" einige Anschauungen Singers deutlich kritisiert (S. 126ff.) Zur Vergabe des gbs-Preises an ihn und Paola Cavalieri habe ich diese kritischen Einwände wiederholt, siehe http://www.giordano-bruno-stiftung.de/meldung/diskutieren-statt-diffamieren
Dennoch könnte man mir vorwerfen, dass ich die problematischen Aspekte in Singers Philosophie allzu lange zu wohlwollend "weginterpretiert" habe im Sinne der hermeneutischen Regel "Im Zweifel für den Autor!". Allerdings dachte ich, dass Peter die Einwände seiner Kritiker zunehmend berücksichtigen würde (wofür auch die zweite Auflage der "Praktischen Ethik" spricht, die sich deutlich von der Erstauflage unterscheidet).
Auch als wir Peter 2011 zusammen mit Paola Cavalieri mit dem Ethikpreis der gbs auszeichneten, vermittelte er im persönlichen Gespräch exakt diesen Eindruck. Das spiegelt sich auch wieder in dem Interview, das er 2011 im Zuge der gbs-Preisverleihung der FAZ gab (Link im obigen Artikel). Bei diesem alten Interview konnte ich nahezu jeden Satz unterschreiben, beim aktuellen NZZ-Interview muss ich nahezu jedem Satz widersprechen.
3. Ich habe mir die Entscheidung nicht leichtgemacht. Persönlich wäre es für mich sehr viel angenehmer gewesen, noch einmal beide Augen zuzudrücken und die Laudatio in Berlin zu halten, als sei nichts gewesen. Jedoch sehe ich mich als Philosoph in besonderer Weise dazu verpflichtet, mich am Prinzip der intellektuellen Redlichkeit zu orientieren – auch wenn dies, wie im aktuellen Fall, mit schmerzlichen Nebenwirkungen verbunden ist, die ich liebend gern vermieden hätte.
Mit besten Grüßen an die Mitdiskutierenden
Michael Schmidt-Salomon
Gita Neumann am Permanenter Link
Lieber Michael,
Was können wir lernen? M.E. ist es von kategorialer Wichtigkeit, unsere Intuition bei ethischen Bewertungen als wertvolles evolutionäres Potential zu sehen. Diese muss sich natürlich immer die Auseinandersetung mit Vernunft/Logik/Verstand gefallen lassen (und vis versa). Humanismus bedeutet für mich auch die Einsicht, dass "das Individuum" bzw. Einzelne nicht zu opfern sind zugunsten eines "höheren" Prinzips, sei es des Sieges über die "Klassen- oder Rassenfeinde", sei es des utilitaristischen Prinzips der "Vermehrung von Glück" für möglichst viele. U.a. aus einem sehr einfachen Grund: es funktioniert einfach nicht. Und daraus ergibt sich, dass Menschen nicht Mittel zum Zweck für ein Utopia oder sonstwas gemacht werden dürfen. Zudem: Das Programm der Beglückung der ganzen Menschheit (und Tierwelt) - entgegen des Bezugs auf unseren sozialen Nahbereich - überfordert uns maßlos und hätte den Preis der Abspaltung aller "natürlichen" Empfindungen und moralischen Intuitionen. Also: Eine sehr ernste Gefahr, in ein Programm für "Unmenschen" abzudriften.
Lieben Gruss
Gita
Heribert Süttmann am Permanenter Link
Zunächst Respekt für Michael Schmidt-Salomon, dessen Absage der Laudatio richtig ist, und einen für ihn schmerzlichen Bruch markiert. Das beeindruckt. In der Sache Stimme ich aber der Linie Gita Neumanns zu.
Befremdlich ist es auch, dass die behindertenrechtlichen Proteste gegen Singers Sozialdarwinismus is heute mehr oder weniger höflich ignoriert werden.
Ich selber bin Protestant, erwarte aber, dass Sie sich hier diskursfähig machen. Oder besser gesagt menschenrechtskonform. Singers Thesen sind unvereinbar mit der UN-Behindertenrechtskonvention. Diese aber ist die Grundlage für bioethische Diskurse und Politiken. Ich selber mag mich nicht ernsthaft mit Menschen sachlich beschäftigen, welche die AEMR und die BRK - wohl möglich nicht einmal kennen?
Freundliche Grüße
Heribert Süttmann, Ev.-ref. Pfarrer
Thomas am Permanenter Link
"Niemand darf geopfert werden."
Das ist eine rigoristische Position, und Rigorismus ist ANTI-ethisch, denn er besteht in der Anwendung eines Prinzips ohne Rücksicht darauf, wie viel Leid das zur Folge hat.
"Befremdlich ist es auch, dass die behindertenrechtlichen Proteste gegen Singers Sozialdarwinismus is heute mehr oder weniger höflich ignoriert werden."
Sozialdarwinismus ist mit dem Ziel der Leidvermeidung nach dem Gleichheitsprinzip unvereinbar, und deshalb KANN Peter Singer gar kein Sozialdarwinist sein. Folglich sind auch behindertenrechtliche Proteste gegen ihn ethisch gegenstandslos. Offenbar haben Sie seine Werke nicht gelesen und/oder nicht verstanden. Überraschend ist das nicht, denn sobald Sie begriffen hätten, was Ethik ist, müßten Sie Ihren Job aufgeben. Immerhin schließen Religion und Ethik einander insofern aus, als eine Handlung oder Unterlassung nur ENTWEDER religiös, ODER ethisch motiviert sein kann (also entweder einer religiös begründeten Anweisung folgt, oder auf bestmögliche Leidvermeidung nach dem Gleichheitsprinzip abzielt). Überdies kann Ethik nur dann funktionieren, wenn sie von hinreichend zutreffenden Annahmen über die Welt ausgeht. Es liegt in der Natur spezifisch religiöser Aussagen, unprüfbar oder falsch zu sein, und daher ist es falsch, sie für wahr zu halten und Normatives aus ihnen abzuleiten. Kleriker sind Multiplikatoren des Irrationalismus, und als solche entfalten sie in gleich doppelter Hinsicht anti-ethische Wirkung. Wenn ausgerechnet Sie ausgerechnet hier und ausgerechnet so Partei gegen Peter Singer ergreifen, sollten Sie nicht damit rechnen, besonders ernst genommen zu werden.
"Oder besser gesagt menschenrechtskonform."
Rechte (welcher Art auch immer) sind keine Naturgesetze, sondern kulturelle Produkte des Menschen. Stellt sich heraus, daß irgendein Recht mehr Leid erzeugt als vermeidet, muß es - SELBSTVERSTÄNDLICH! - modifiziert oder abgeschafft werden. Eine andere Haltung wäre anti-ethisch, weil rigoristisch.
Heribert Süttmann am Permanenter Link
Hallo Thomas,
der Tonfall Ihrer Antwort an mich ist für mich erschreckend. Kann man mit Ihnen überhaupt vernünftig und im gegenseitigen Respekt kommunizieren? Gleichwohl will ich noch einmal antworten.
Ich bin der menschenrechtlichen Position verpflichtet. Richtig ist zwar, dass die Menschenrechte gewissermaßen verabredet sind, aber nur insofern, als sie als solche schon von je her existierend festgestellt vereinbart sind. Menschenrechte hat jeder Mensch deshalb, weil er aus sich selber heraus Träger der Menschenwürde ist.
Die Menschheit in der Form der "internationalen Gemeinschaft", der Vereinten Nationen, hat sich auf dieses Verständnis der universalen und unteilbaren Menschenrechte geeinigt. Auch ist weit und breit keine Alternative zu diesem Konzept in Sicht. Im Ergebnis stehen wir als Gattung und als Individuen vor der Alternative Umsetzung der Menschenrechte oder Barbarei und globaler Bürgerkrieg.
Dennoch ist dieses Konzept umstritten, um es vorsichtig zu formulieren, sowohl in meiner Religionsgemeinschaft, als auch offenkundig in Ihrer Weltanschauungsgemeinschaft.
Hier trennen sich m.E. die Geister. Der Geltungsanspruch der Menschenrechte markiert nach meiner Überzeugung den Hauptgegensatz der heutigen Zeit, nicht der Glaube oder Nichtglaube an einen Gott oder die Menschen.
Ich selber bin schon aus familiären Gründen ein entschiedener Gegner des Nationalsozialismus. Eine sogenannte Ethik, welche die Rahmung der Menschenrechte nicht anerkennt, insbesondere nicht die Vorgabe der Unantastbarkeit des menschlichen Individualrechts auf Leben, ist nach meinem Dafürhalten in ihrer Spitze eine nationalsozialistische Kampfpropaganda. Sie kann sich natürlich szientistisch, philosophisierend oder auch theologisierend geben ...
Peter Singer agiert nach meinem Dafürhalten schon lange als ein nationalsozialistischer Theoretiker mit jüdischen Wurzeln (weswegen man ihm sein Tun bis heute auch durchgehen ließ, sowohl wegen der nationalsozialstischen, sozialdarwinistischen Imprägniertheit seiner Ideologie, als auch wegen deren verstärkter Legitimation durch seinen Familienhintergrund).
Es ist zwar nicht für Sie, aber für mich erfreulich, aber auch überfällig, dass einige seiner Freunde ihm seine Vernichtungsideologie ("mit menschlichem Antlitz ...") endlich so nicht mehr durchgehen lassen.
Beste Grüße
Heribert Süttmann
Thomas am Permanenter Link
Mit jeder weiteren Lektüre des NZZ-Interviews wird mir unbegreiflicher, wie Sie 1. überhaupt und 2. erst jetzt zu Ihrer Ablehnung dessen kommen, was Singer dort äußert und im Prinzip schon immer vertreten hat.
Michael Fischer am Permanenter Link
"Mit jeder weiteren Lektüre des NZZ-Interviews wird mir unbegreiflicher, wie Sie 1. überhaupt und 2.
Thomas, ich habe das Interview jetzt auch zum dritten Male durchgelesen und mir geht es diesbezüglich genau wie Ihnen.
Michael Fischer am Permanenter Link
Mich würde ja interessieren, wie Dostojewski zu der Frage inspiriert wurde, ob es legitim sei, ein Baby zu foltern, wenn es der ganzen Menschheit dauerhaftes Glück verschafft.
Letztlich ist das ja nur eine Abwandlung der Jesus-Geschichte. Jesus wurde brutal gefoltert und getötet, um die Menschheit von ihren Sünden zu erlösen. Alle Christen sind sich einig, daß das zwar ein schreckliches Schicksal, aber trotzdem unumgänglich war. Es war Gottes Wille zu unser aller Wohle.
Alle finden das in Ordnung, aber wenn ein Philosoph wie Peter Singer eine rein philosophische Frage in philosophischer Art und Weise beantwortet, gibt es einen Aufschrei der Empörung.
Merkwürdig.
Gita Neumann am Permanenter Link
Ja genau, darum geht es!
Tommy am Permanenter Link
Bei Jesus ging's ja nicht darum, dass seine Jünger ihn quälten, damit sie es besser haben sollten (höchstens der jüdische Hohepriester schien dies damals so utilitaristisch zu verstehen, wenn er sagte: "Es i
Der Ansatz der Nazis, von denen hier auch schon die Rede war, war hingegen darwinistisch geprägt und utilitaristisch motiviert: Eine höhere Rasse muss sich gegenüber minderwertigen Rassen durchsetzen, damit am Ende etwas Höheres dabei herauskommt! Die minderwertigen Rassen und Kranke mussten deswegen geopfert werden! Dies erinnert natürlich schon an das, was auch Singer hier zum Besten gegeben hat: Bestimmte Menschen dürfen "gefoltert" oder beseitigt werden, wenn es dem gesellschaftlichen Wohl oder Fortschritt dient!
Michael Fischer am Permanenter Link
"sondern es ging darum, Leid freiwillig zu ertragen"
Nein!
Primär ging es bei Jesus um die Opferrolle. Der Witz ist doch der Deal - Leid gegen Erlösung!
Es war ein Auftrag und ohne dessen Erfüllung gab es keine Erlösung für die Menschheit. Darum ließ ja der Vater auch den Kelch nicht an ihm vorübergehen.
Wenn es nur darum gegangen wäre, Leid freiwillig zu ertragen...das hatten wir ja wohl schon zur Genüge bei Hiob...
Tommy am Permanenter Link
Gott braucht den blutigen Tod Jesu nicht, den haben Ihm die Menschen zugefügt! - Gott wollte durch Seine Liebe den Menschen aus ihrer Bosheit heraushelfen!
Was Gott mit der Menschwerdung Jesu wollte, sagt Jesus deutlich, indem er aus dem Alten Testament Hosea 6,6 zitiert: "'Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer!' - Denn ich bin nicht gekommen, Gerechte zu berufen, sondern Sünder!" (Matth. 9,13).
Dass Jesus dennoch am Kreuz sterben musste, war nicht Gottes Schuld, sondern die der Menschen! Gott verzeiht aber den Reumütigen selbst diese Bosheit und macht aus dem Kreuz Jesu noch ein Mittel der Gnade:
Wo wir selbst nicht mehr fähig sind, Böses wieder gut zu machen oder zu sühnen, da tritt Jesus Christus für uns ein, um durch Seine Güte uns den Zugang zu unserer ursprünglichen Bestimmung wieder zu eröffnen!
Michael Fischer am Permanenter Link
Tut mir leid Tommy, aber Paulus hat das etwas anders gesehen als Du. Ohne Opfer keine Erlösung von den Sünden!
Frag am besten mal Deinen Pfarrer!
Davidus am Permanenter Link
Peter Singer ist ein beachtenswerter Mann, der eintritt für das, was er als angemessenes Denken und Handeln erkannt hat.
Ich erinnere mich noch, wie wir ein Referat an der Uni nur noch notdürftig zu einem Ende bringen konnten, als es um Singers Wunsch ging, die Geburt NICHT als Grenze für ein Recht auf Leben zu akzeptieren:
Peter Singer hat bereits in der im Interview genannten Schrift "Muss dieses Kind am Leben bleiben" sehr deutlich werden lassen, dass ihm daran gelegen ist, den Eltern und den Ärzten eine "nachgeburtliche" Frist von 28 Tagen einzuräumen.
Nur unter zwei Bedingungen konnte er den Vorschlag Norbert Hoerster als "möglich" (!) akzeptieren, die Geburt gleichsam als 'point of no return' zu akzeptieren und dem Neugeborenen ein Lebensrecht einzuräumen. Singer selbst hatte damals bereits eine andere Auffassung und hat dies unmissverständlich geäußert - auch in dem "Anhang" zu dem Buch "Muss dieses Kind am Leben bleiben."
Martin Beesk am Permanenter Link
Mir fällt gerade auf: Die Frage nach dem Baby, das zu foltern wäre, "wenn es der ganzen Menschheit dauerhaftes Glück verschafft" ist gar nicht so theoretisch oder abstrakt, sondern stellt sich (natürlich nic
Thomas am Permanenter Link
Am besten wär's vielleicht, Herr Singer ließe sich gar nicht mehr auf die Beantwortung von Fragen ein, die von Absurditäten oder grundsätzlich behebbaren Mißständen ausgehen, denn wie man sieht, kann man dabei nu
Michael Fischer am Permanenter Link
Das habe ich spontan auch gedacht, aber dann dachte ich mir, hätte er kein Philosoph zu werden brauchen (sondern eher Politiker).
Thomas am Permanenter Link
"Ist es nicht die Pflicht eines Philosophen, sich auch hypothetischen Fragen zu stellen?"
Aber natürlich! Nur sollten sie in so engem Bezug zur Wirklichkeit stehen, wie irgend möglich, denn letztlich ist es eben diese Wirklichkeit, die es durch moralisches Verhalten zu ändern gilt. Es wäre schon viel gewonnen, wenn man die Prämissen einer Frage erst einmal auf Realitätsgehalt und Relevanz prüft. Möglicherweise erledigt sie sich dann von selbst, oder sie muß neu formuliert werden.
Gita Neumann am Permanenter Link
Mich haben - bin selbst auch u.a. philosophische Ethikerin - oft auch die völlig unrealistischen Fragestellungen gestört, die in unserer Zunft gang und gäbe sind.
Beliebtes Beispiel des Rechtsphilosophen Reinhard Merkel: Ein LKW-Fahrer gerät durch einen Unfall so eingeklemmt in das brennende Wrack, dass er von Umstehenden nicht befreit werden kann. Er fleht und verlangt, ihn zu schnell töten, damit er keinen qualvollen Feuertod erleiden muss. Dem darf man keineswegs nachkommen, sagte daraufhin bei einer öffentlichen Veranstaltung mit Merkel mal der damalige Behindertenbeauftragte der PDS (selbst als Behinderter im Rollstuhl). Seine Begründung war (sinngemäß): Niemand weiß, ob der arme Mann seine letzten 5 oder 10 Sterbeminuten noch für - was weiß ich - geistige Einkehr, Abschiednahme, sinnvolle Auseinandersetzung mit Tod, Leid, Ende nutzen könne ...
Dass so eine Haltung "rauskommt" und provoziert wird, ist Sinn solcher ethischen Dilemma-Konstrukte.
Thomas am Permanenter Link
" Dass so eine Haltung "rauskommt" und provoziert wird, ist Sinn solcher ethischen Dilemma-Konstrukte."
Das ist mir schon klar, nur läßt sich daraus nichts für die erhische Praxis lernen. Logisch betrachtet GIBT es auch gar keine ethischen Dilemmata im Sinne echter und unauflöslicher Widersprüche, sondern höchstens extrem schwierige Enrscheidungssituationen. Das LKW-Beispiel gehört übrigens NICHT dazu, denn sollte sicher absehbar sein, daß schweres Gerät zur Befreiung des Fahrers nicht mehr rechtzeitig vor Ort sein wird, liegt das ethisch Notwendige klar auf der Hand. Ob sich einer der Anwesenden auch dazu durchringen kann, es zu tun, ist eine ganz andere Frage, nämlich eine psychologische und eben keine ethische.