Singer-Interview in der Neuen Zürcher Zeitung sorgt für Irritationen

Schmidt-Salomon sagt Laudatio für Peter Singer ab

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Michael Schmidt-Salomon

BERLIN. (hpd/gbs) Der Philosoph und Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung, Michael Schmidt-Salomon, hat seine Beteiligung am Festakt zur Verleihung eines Tierschutzpreises an den australischen Philosophen Peter Singer abgesagt. Grund ist ein aktuelles Interview mit Singer, das die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) am gestrigen Sonntag veröffentlichte.

„Peter Singer hat in diesem Interview Positionen vertreten, die meines Erachtens nicht nur im Widerspruch zu einem humanistisch-emanzipatorischen Politikverständnis, sondern auch im Widerspruch zu seinen früheren Standpunkten stehen“, sagte Schmidt-Salomon. „In dieser Situation muss ich die Reißleine ziehen, denn ich kann keine Laudatio auf einen Preisträger halten, bei dem ich nicht einschätzen kann, welche Positionen er tatsächlich vertritt.“

Michael Schmidt-Salomon hob in seinem Statement hervor, „dass Peter Singer die ethische Debatte über Tierrechte, Anti-Diskriminierung, Bekämpfung der absoluten Armut, Schwangerschaftsabbruch und Sterbehilfe befruchtet hat wie kaum ein anderer Philosoph weltweit“. Seine Impulse für eine zeitgemäße ethische Debatte seien unverzichtbar, seine aktuellen Äußerungen jedoch unverständlich, wenn nicht gar unverantwortlich: „Falls Peter Singer tatsächlich die Auffassungen vertritt, die in dem aktuellen NZZ-Interview zum Ausdruck kommen, muss man seine Argumente nicht nur auf philosophischer, sondern auch auf politischer Ebene entschieden kritisieren.“

Peter Singer hatte in dem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung erklärt, dass die Geburt „keine scharfe Grenze“ markiert und „andere Faktoren“ entscheidend sind, etwa „ob das Kind Schmerz empfindet oder Selbstbewusstsein entwickelt“. Ein „Frühgeborenes im Alter von 23 Wochen“ habe „keinen anderen moralischen Status als ein Kind mit 25 Wochen in der Gebärmutter“. Die NZZ fasste dies – von Singer unwidersprochen – mit den Worten zusammen: „Ein Neugeborenes halten Sie nicht für schützenswerter als einen Embryo.“

Schmidt-Salomon wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Peter Singer in der 1993 erschienenen Ausgabe des Buchs „Muss dieses Kind am Leben bleiben?“ den Einwand des deutschen Philosophen Norbert Hoerster akzeptiert hatte, dass nur die Geburt „als Grenze sichtbar und selbstverständlich genug“ sei, „um ein sozial anerkanntes Lebensrecht zu markieren“ (S.251). Singer bestätigte damals, dass es problematisch sei, den rechtlichen Status eines Menschen vom Alter abhängig zu machen. Denn: Würde die Vorstellung in das öffentliche Denken eingehen, „dass ein Kind mit dem Augenblick der Geburt nicht zugleich auch ein Lebensrecht besitzt, sinke möglicherweise die Achtung vor kindlichem Leben im allgemeinen“ (S.251f.)

Lebensrecht für alle, Lebenspflicht für niemanden

Als Peter Singer 2011 zusammen mit Paola Cavalieri den Ethikpreis der Giordano-Bruno-Stiftung erhielt, habe er den Eindruck erweckt, er könne der Positionierung der gbs in dieser Frage zustimmen, erklärte Schmidt-Salomon. „Unser Standpunkt lässt sich auf einen einfachen Nenner bringen: ‚Lebensrecht für alle, Lebenspflicht für niemanden!‘ Selbstverständlich sollte jeder Mensch, ob behindert oder nicht, ab der Geburt ein unverbrüchliches Recht zu leben besitzen, aber er sollte nicht gezwungen sein, weiterleben zu müssen, wenn dies nicht in seinem eigenen Interesse ist. Dies ist eine klare, unmissverständliche Position, für die man auch in der Bevölkerung großen Rückhalt finden kann! Deshalb ist es mir völlig unverständlich, warum Peter Singer das Recht auf Leben ab der Geburt so scharf angreift! Sollte er in dem Interview gemeint haben, dass Säuglinge noch keine Personen im empirischen Sinne sind, weil sie noch nicht über ein Bewusstsein ihrer selbst verfügen und die Zukunft nicht antizipieren können, so hätte er dies exakt so formulieren müssen – und zwar verbunden mit dem Hinweis, dass wir trotzdem alle Säuglinge von Geburt an im normativen Sinne als Rechtspersonen behandeln sollten, weil eine Aufhebung des Menschenrechts auf Leben, selbst wenn sie sich nur auf die ersten vier Wochen beziehen würde, mit katastrophalen sozialen Konsequenzen verbunden wäre!“

Als „nicht minder verstörend“ bezeichnete Schmidt-Salomon Peter Singers Antwort auf die NZZ-Frage: „Würden Sie so weit gehen, ein Baby zu foltern, wenn es der ganzen Menschheit dauerhaftes Glück verschafft?“ Singer hatte darauf geantwortet: „Ich wäre vielleicht nicht in der Lage, das zu tun, weil ich durch meine evolutionär entwickelte Natur Kinder vor Schaden bewahren will. Aber richtig wäre es. Denn wenn ich es nicht täte, würden in der Zukunft Tausende Kinder gequält.“

„Das klingt so, als wolle Peter Singer ein weiteres Menschenrecht, nämlich den Schutz vor Folter, zur Disposition stellen“, erklärte Schmidt-Salomon. „Selbst wenn Peter Singer dies nicht beabsichtigt haben sollte, ist eine derartige Antwort aus dem Munde eines renommierten Ethikers unverantwortlich. Zudem dürfte man von ihm wohl erwarten, dass er die falschen Voraussetzungen der Frage angreift. Denn es ist beim besten Willen nicht vorstellbar, dass die Folterung eines Babys der Menschheit zu dauerhaftem Glück verhelfen könnte. Geht man aber von falschen Alternativen aus, kann die Wahl zwischen ihnen schwerlich richtig sein.“

Die Überbetonung des Kollektivs

„Hinter der Radikalität, die in dem NZZ-Interview zum Ausdruck kommt – im Unterschied etwa zu dem Interview, das Peter Singer 2011 der FAZ gab“, vermutet Schmidt-Salomon eine „Abkehr Singers von den präferenz-utilitaristischen Positionen“, die er einst vertreten hat: „Im Mittelpunkt des Singerschen Ansatzes standen früher die ‚Interessen der Individuen‘ – nicht der ‚Nutzen der Gesellschaft‘. Ich habe den Eindruck, dass sich dies in den letzten Jahren geändert hat. Singers Argumentation zielt zunehmend auf den größtmöglichen Nutzen innerhalb eines abstrakten Gesamtsystems ab. Die Individuen erscheinen in seinem Denksystem nicht mehr als einzigartige Lebewesen mit ureigenen Interessen, sondern als anonyme Container für quantifizierbare Wohl- oder Unwohlempfindungen, die gegeneinander verrechnet werden. So sehr ich es nachvollziehen kann, dass Peter Singer angesichts der erdrückenden Ungerechtigkeit und Armut in weiten Teilen der Welt eine Überwindung des Egoismus einfordert, halte ich es sowohl ethisch als auch politisch für höchst problematisch, wenn die Anforderungen des Kollektivs so sehr über die Interessen des Individuums gestellt werden.“

Die „strukturelle Überbetonung des Kollektivs“ zeige sich auch in der Antwort, die Peter Singer auf die NZZ-Frage zur Sterbehilfe gegeben habe, meinte Schmidt-Salomon. Auf den Einwand der Interviewerin Nina Streeck, durch eine weitere Verbreitung der Sterbehilfe „könnte Druck auf alte Menschen entstehen, sich selbst das Leben zu nehmen“, antwortete Singer: „Das kann passieren. Empfindet sich jemand als Belastung für seine Familie, ist es nicht unbedingt unvernünftig, dass er sein Leben beendet. Wenn seine Lebensqualität eher schlecht ist und er sieht, wie seine Tochter viel Zeit aufwendet, um sich um ihn zu kümmern, und dabei ihre Karriere vernachlässigt, dann ist es vernünftig, ihr nicht weiter zur Last fallen zu wollen.“

„Ich hätte von Peter Singer eine deutlich andere Antwort erwartet“, sagte Schmidt-Salomon. „Denn erstens gibt es in keiner Gesellschaft, die Sterbehilfe legitimiert hat, einen erhöhten Druck auf alte Menschen, sich selbst zu töten. Zweitens müsste man, falls ein solcher Druck wirklich entstehen würde, alles unternehmen, um ihm entgegenzuwirken. Denn jeder Aktivist, der sich für ‚Humanes Sterben‘ einsetzt, kämpft für das Recht des Individuums, selbstbestimmt sterben zu können – keineswegs für die Pflicht, zugunsten eines kollektiven Nutzens sterben zu müssen! Doch genau in diese Richtung zielt Singers abschließende Bemerkung zur Sterbehilfe. Im Hinblick auf die Lebensqualität alter oder kranker Menschen fragt Peter Singer allen Ernstes, wie viel eine Gesellschaft zahlen sollte, ‚um die Lebensqualität der Bürger zu heben, wenn sie mit dem gleichen Geld das Leben von Menschen in armen Ländern viel stärker verbessern könnte‘. Mit dieser Aussage erweckt Singer nicht nur den fatalen Eindruck, dass sich alte Menschen aus ethischen Gründen suizidieren sollten, bevor sie anderen zur Last fallen. Er ruft geradewegs dazu auf, unsere Solidarität mit Hilfsbedürftigen innerhalb unserer Gesellschaft aufzugeben, weil wir angeblich nur so unseren ethischen Verpflichtungen gegenüber hungernden und entrechtenden Menschen in den Entwicklungsländern nachkommen könnten. Ich halte diese Auffassung nicht nur für politisch und ökonomisch falsch, sondern auch für ethisch untragbar.“

Kein Solidaritätsbruch mit den Hilfsbedürftigen in unserer Gesellschaft

Schmidt-Salomon erinnerte in diesem Zusammenhang an ein Interview, das er bereits vor eineinhalb Wochen dem Humanistischen Pressedienst gegeben hat. Schon in diesem Interview hatte er angemerkt, dass es doch wohl nicht im Sinn des von Peter Singer propagierten „effektiven Altruismus“ sein könne, die Solidarität mit den Hilfsbedürftigen in unserer Gesellschaft aufzukündigen, um mehr Hilfsbedürftige in anderen Teilen der Welt zu retten. Es sei geradezu absurd, das eine gegen das andere auszuspielen, da die Hilfsgelder nicht aus demselben Topf stammen würden und die finanziellen Ressourcen nach ihrem Einsatz keineswegs aus der Welt verschwunden seien, sondern bloß bei anderen Marktteilnehmern landen würden, die sie wieder einsetzen könnten – nicht zuletzt auch zu altruistischen Zwecken.

Seine im selben hpd-Interview aufgestellte Behauptung, Peter Singers Position sei nicht „behindertenfeindlich“, sondern sogar „behindertenfreundlich“, müsse er nach der Lektüre des NZZ-Interviews leider revidieren, sagte Schmidt-Salomon. Denn Singer habe seine Argumente offenkundig so stark zugespitzt, dass sie sich tatsächlich zum Nachteil von Behinderten auswirken könnten: „Indem Peter Singer dazu aufruft, die notwendigen Ressourcen zur Verbesserung der Lebensbedingungen in der Dritten Welt ausgerechnet aus den spärlichen Mitteln zur Unterstützung von alten, kranken und behinderten Menschen zu schöpfen, legitimiert er einen Solidaritätsbruch mit jenen Gesellschaftsmitgliedern, die unsere Hilfe am dringendsten benötigen. Unterfüttert wird dies noch mit einer unzulässigen Negativbewertung der Lebensqualität kranker und behinderter Menschen. Früher nahm ich wohlwollend an, dass sich Peter Singer in diesem Zusammenhang auf einige wenige Extremfälle bezieht. Doch wenn er offenbar selbst die Lebensqualität von Menschen mit Down-Syndrom anzweifelt und in der NZZ meint, dass diese nur ‚ziemlich glücklich‘ sein könnten (die Erfahrung lehrt jedoch, dass sie im Durchschnitt fröhlicher sind als Menschen ohne Trisomie 21!), kann ich ihn auch in dieser Hinsicht nicht mehr verteidigen. Früher orientierte ich mit an der guten, alten hermeneutischen Regel ‚im Zweifel für den Autor‘, aber mittlerweile sind meine Zweifel am Zweifel so sehr gewachsen, dass ich Singers diesbezügliche Positionen selbst bei wohlwollendster Betrachtung nicht mehr mittragen kann.“

Zur Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs

Nicht revidiert hat Schmidt-Salomon seine Kritik an jenen Linken, die Peter Singer für seine Unterscheidung von personalem und nicht-personalem Leben angegriffen haben: „Wer davon ausgeht, dass eine Frau das Recht haben sollte, einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen, kann auf diese Differenzierung gar nicht verzichten! Zwar meinen einige Linke offenbar, dass für die Legitimierung der Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs der Slogan ‚Mein Bauch gehört mir!‘ ausreichen würde, aber das ist definitiv nicht wahr. Denn wäre der Embryo/Fötus tatsächlich eine eigenständige Rechtsperson, so besäße er ein unverbrüchliches Recht auf Leben wie jeder andere Mensch. Daran würde auch die Tatsache nichts ändern, dass sich diese Rechtsperson im Körper einer anderen Rechtsperson befindet. ‚Mein Bauch gehört mir!‘ kann man also nur dann mit einigem Recht sagen, wenn man davon ausgeht, dass sich in diesem Bauch keine andere Person befindet, die einen eigenen Rechtsanspruch auf Leben besitzt. Dies jedoch ist rechtsphilosophisch nur durch das Singersche Argument zu begründen, dass den personalen Interessen der Mutter in der ethischen Güterabwägung sehr viel größeres Gewicht zukommt als den nichtpersonalen „Interessen“ des Embryos/Fötus (was natürlich insbesondere auf die frühen Entwicklungsstufen zutrifft, in denen Embryonen über keinerlei Empfindungsfähigkeit und somit auch über keinerlei Interessen verfügen, die ethisch berücksichtigt werden könnten).“

Aufruf zu einer rationalen Debatte

Schmidt-Salomon gab an, dass er es sehr bedauerte, die Teilnahme an der Preisverleihung in der Urania Berlin so kurzfristig absagen zu müssen, denn zum einen sei die Minderung des Tierleids ein wichtiges Ziel einer zeitgemäßen Ethik, zum anderen habe er in seiner eigenen Entwicklung als Philosoph Peter Singers Werken viel zu verdanken: „Ich habe mich in den letzten Jahren immer wieder dafür eingesetzt, Peter Singer gegen ungerechtfertigte Kritik zu verteidigen. Sein gestriges Interview in der Neuen Zürcher Zeitung hat nun jedoch Differenzen aufgezeigt, die sehr viel größer sind, als ich es angenommen hatte. Gerade weil die Fragen der Interviewerin so offensiv waren, bot dieses Gespräch eine wunderbare Gelegenheit, um alten, kranken, behinderten, hilfsbedürftigen Menschen (und ihren Unterstützern) hier in Deutschland zu verdeutlichen, dass eine wohlverstandene utilitaristische Philosophie nicht darauf hinausläuft, ihre Lebensbedingungen zu verschlechtern. Stattdessen aber hat dieses Interview Anlass zu noch größerer Sorge gegeben. Ich hoffe noch immer, dass die verstörenden Aussagen in dem NZZ-Gespräch auf Sprachprobleme oder einen ungeschickten Umgang mit den Medien zurückzuführen sind, kann aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht ausschließen, dass Peter die Dinge tatsächlich so meint, wie er sie dort zum Ausdruck gebracht hat. Solange diese Punkte nicht geklärt sind, sehe ich mich außerstande, eine Laudatio auf Peter Singer zu halten, so gerne ich dies im Hinblick auf seine herausragende Bedeutung als Philosoph auch getan hätte.“

Schmidt-Salomon verband seine Absage an die Veranstalter mit einer Bitte an die Anti-Singer-Protestler: „Bitte protestieren Sie friedlich und überziehen Sie Peter Singer nicht mit Nazivergleichen, die in seinem Fall nicht nur völlig unangebracht, sondern auch absolut geschmacklos sind! Es gibt in der Tat nur sehr wenige Menschen auf diesem Planeten, die sich so redlich und erfolgreich wie Peter Singer darum bemüht haben, dem großen Ideal der Ethik zu folgen, das Leid zu vermindern und die Freude zu vermehren. Ich fürchte, dass er dabei mittlerweile falsche Wege eingeschlagen hat, aber das ist beileibe kein Grund, eine Hexenjagd auf ihn zu veranstalten!“

Der gbs-Vorstandssprecher erinnerte in diesem Zusammenhang an einen Vorschlag, den die Giordano-Bruno-Stiftung bereits vor vier Jahren im Zuge der damaligen Singer-Debatten unterbreitet hatte: „Wir haben damals eine Konferenz vorgeschlagen, auf der Behinderte und Nichtbehinderte, Singer-Kritiker und -Befürworter, Philosophen, Biologen, Soziologen, Heilpädagogen, Politiker und interessierte Laien miteinander über die drängenden Fragen der Bioethik diskutieren. Die Vorkommnisse der letzten Wochen haben, wie ich meine, deutlich gezeigt, dass eine solche Konferenz noch immer dringend erforderlich wäre.“