MÜNSTER. (exc) Das Christentum und die beiden christlichen Großkirchen werden nach Einschätzung von Politikwissenschaftler Prof. Dr. Ulrich Willems vom Exzellenzcluster "Religion und Politik" der Uni Münster in Deutschland staatlich bevorzugt. "Die deutsche Religionspolitik weist eine religiös-christlich-großkirchliche Schlagseite auf und benachteiligt damit Konfessionslose und Minderheitenreligionen wie den Islam", sagte der Wissenschaftler am Dienstagabend in Münster. Als Beispiele für diese "Asymmetrie" nannte er hohe Hürden zur Erlangung des Status’ der Körperschaft öffentlichen Rechts sowie zahlreiche gesetzliche Maßnahmen, die den Kirchen Vorrang etwa im Sozial- und Bildungssektor gäben.
"Die Politik in Bund und Ländern reagiert auf die wachsende Religionsvielfalt nur langsam und zögerlich, obwohl die historisch begründete Nähe von Staat und katholischer und protestantischer Kirche einen wesentlichen Teil der heutigen religionspolitischen Probleme verursacht." In der Kopftuchgesetzgebung etwa habe sie "die Probleme verschärft statt sie zu lösen". Es bestehe an vielen Stellen ein erheblicher Problemdruck, wie die Konflikte um Beschneidung, Kruzifix, Schächten, Islamunterricht oder Moscheebau zeigten. "Doch von einer systematischen und flächendeckenden Religionspolitik zur Sicherung der gleichen Religionsfreiheit von Muslimen kann bisher nicht die Rede sein."
"Mit der AfD wird die Politik die Geister, die sie rief, nicht mehr los"
Die Bevölkerung ist nach Einschätzung des Wissenschaftlers nur unzureichend auf die wachsende religiöse Vielfalt und nötige Reformen auf diesem Politikfeld vorbereitet. Das sei eine Folge der "vernachlässigten Religionspolitik" und führe zu erheblichen Unsicherheiten, die die "Alternative für Deutschland" (AfD) ausnutze. Weil die herkömmlichen Parteien die religionspolitische Integration der Muslime als besonders problematischen Fall behandelten, seien sie mitverantwortlich für die Skepsis vieler Menschen gegenüber dem Islam, "Mit der AfD wird die Politik die Geister nun nicht mehr los, die sie mit ihrer zögerlichen, hinhaltenden und problematischen Reaktion und Kommunikation auf die Forderung der Muslime nach gleicher Religionsfreiheit und ihrer Integration in die religionspolitische Ordnung der Bundesrepublik gerufen hat."
Der Wissenschaftler äußerte sich zum Auftakt der Ringvorlesung "Religionspolitik heute" des Exzellenzclusters und des Centrums für Religion und Moderne der WWU. Der Vortrag erörterte historische, normative und systematische Grundlagen der Religionspolitik ebenso wie konkrete Fragen der aktuellen Religionspolitik. Prof. Willems analysierte dabei die Verfassungen von Bund und Ländern, Partei- und Wahlprogramme sowie die bürokratische Praxis und Gesetzesvorhaben in Bund und Ländern.
Mit Blick auf Partei- und Wahlprogramme aus den Jahren 2000 bis 2013 sagte der Wissenschaftler: "Die SPD zeigt bislang ein freundliches Desinteresse am religionspolitischen Feld, während sich die CDU – mit wenigen Ausnahmen wie dem islamischen Religionsunterricht und islamischen Fakultäten an deutschen Hochschulen – zu einem beherzten 'Weiter so!' bekennt." Nur die Partei Bündnis 90/Die Grünen habe sich dem Politikfeld inzwischen systematisch gewidmet. Nachdem Ende der 2000er Jahre innerparteilich verstärkt religionspolitische Fragen aufgekommen seien, habe sich eine religionspolitische Kommission gebildet, deren Abschlussbericht nun vorliegt und im Herbst bei der Bundesdelegiertenkonferenz in Münster diskutiert werden soll.
Debatte nach kanadischem Vorbild gefordert
Die Vorgehensweise der Grünen sei ein guter Anfang für eine breite politische und gesellschaftliche Diskussion über das Feld der Religionspolitik, so der Wissenschaftler. Eine Expertenkommission nach kanadischem Vorbild könne einen gesellschaftsweiten Diskurs in Gang setzen. "Ein solches Instrument täte der deutschen Diskussion über den Umgang mit den Herausforderungen religiöser Vielfalt gut und könnte wieder zu einer sachlichen und unaufgeregten Debatte führen. Wir brauchen differenzierte Gespräche darüber, ob sich das Modell einer engen Staat-Kirche-Kooperation noch eignet, um den religiösen Mehr- und Minderheiten gleichermaßen Religionsfreiheit zu gewähren, beziehungsweise wie es verändert werden muss, um die Benachteiligung von Konfessionslosen und Muslimen zu beseitigen."
Zu diskutieren sei auch der Umgang mit dem Körperschaftsstatus, der Religionsgemeinschaften viele Privilegien verleihe, den aber Minderheitenreligionen wie die Zeugen Jehovas nur durch Klage vor Gericht erreicht hätten. "Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Körperschaftstatus gehen davon aus, dass Religionsgemeinschaften mitgliedschaftlich verfasst sind und über klare Mitgliedschaftsregeln verfügen und Instanzen existieren, die berechtigt sind, verbindliche Aussagen über zentrale Lehrinhalte zu treffen. Beide Voraussetzungen sind aber mit Blick auf den Islam nicht gegeben."
5 Kommentare
Kommentare
Hans Trutnau am Permanenter Link
Jetzt kommt das Thema auch schon in Exzellenzclustern an, toll.
Es tut sich was, aber was?
Die stattliche staatliche 'Bevorzugung' von RKK und EKD ist doch inzwischen kalter Kaffee.
Oliver am Permanenter Link
Ich frage mich wie man ohne nachzudenken den Körperschaftsstreit der Sekte der Zeugen Jehovas hier anführen kann. Natürlich mussten die ZJ klagen da es genügend Hinweise gab die den Status nicht rechtfertigen.
Kay Krause am Permanenter Link
"Doch von einer systematischen und flächendeckenden Religionspolitik zur Sicherung der gleichen Religionsfreiheit von Muslimen kann bisher nicht die Rede sein".
Das bedeutet: das Pferd am Schwanz aufzäumen! Zuerst müßten die den christlichen Kirchen zu Unrecht zugebilligten "Rechte" (Privilegien) auf das im Grundgesetz vorgesehene Maß zurechtgestuzt werden. Dann dürfte es auch kein Problem mehr darstellen, den Muslimen die Ihnen laut Grundgesetz zustehende freie Ausübung ihrer Religion zu gewähren.
Die meisten muslimisch geprägten Staaten sind Religionsstaaten. Die Türkei ist gerade dabei, einer zu werden. Deutschland ist KEIN Religionsstaat! Aber mach das mal einem eingewanderten Muslim begreiflich, solange Kirchenglocken die Nachtruhe des Schichtarbeiters stören, solange Marterinstrumente (Kreuze) in öffentlichen Gebäuden presentiert werden dürfen, solange fast jeder Rundfunksender morgens um 6:00 uhr sein Programm mit dem "Gottesdienst" beginnt, solange es Politikern ungestraft gestattet ist, vom Rednerpult des Bundestages zu verkünden: "Deutschland ist ein traditionell christlich religiös geprägter Staat!" Den Ruf des Muezzin vom Minarett können wir nur verhindern, wenn wir ALLE Religionen konsequent in den Privatbereich verbannen (und dort auch respektieren!), wenn wir endlich diese unselige Kirchensteuer abschaffen sowie die weitere jährliche Unterstützung (Bereicherung!) der Kirchen mit Milliarden aus Steuergeldern (wer wissen will, kann wissen!).
Und das nicht irgendwann, in ferner Zukunft, nicht übermorgen und nicht morgen, nein: am besten noch HEUTE !! WER WAGT SICH DARAN ??
Einen solchen Mut sehe ich nicht einmal bei den LINKEN!
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Wir haben ein wachsendes Problem, dem sich die Politik in der Tat nicht oder falsch stellt.
Einst war Deutschland christlich - ohne Wenn und Aber.
Bereits die Vielfalt christlicher Konfessionen machte mit Beginn des Mobilitätszeitalters genügend Probleme. Mit der Zuwanderung kamen immer mehr Religionen nach Deutschland, die wir entweder als Bedrohung oder kulturelle Vielfalt ansahen.
Der Grundfehler: Religion sei gleich Religion. Ob das Muslime, die Zeugen Jehovas oder Buddhisten waren - alles wurde/wird über einen Kamm geschert, Kritik daran als wie auch immer -phob bezeichnet.
Zu Ende gedacht heißt dies: Alle Religionsgemeinschaften, sicher einige hundert inzwischen in Deutschland, müssten gleich großzügige Privilegien, wie das Christentum, genießen. Was das allein für den Religionsunterricht bedeute, kann man sich ausmalen.
Jetzt darf wg. des GG der Religionsunterricht nicht abgeschafft werden, also müssten wg. der Gleichstellung alle Gruppierungen entsprechenden Unterricht bekommen. Warum sollten Kinder aus taoistischen Familien keinen adäquaten Religionsunterricht erhalten?
Oder wäre vielleicht doch sinnvoller, dass die religiösen Gruppierungen freiwillig auf ihre Privilegien verzichten, auch wenn sie gesetzlich verankert sind? Multikulti ist schon kompliziert genug, wenn es auf Basis der gleichen Rechte für alle geschieht. Das heißt aber auch, alle Sonderrechte der religiösen Gruppierungen abschaffen und ihre Organisation auf einen normalen Vereinsstatus zurückschrauben.
In keiner einzigen bayrischen Schule gibt es FC Bayern München-Unterricht. Warum dann Unterricht über die Vereinsstatuten anderer Vereine, nur weil sie zufällig an Irrationales glauben?
Religion ist und bleibt Privatsache. Das höre ich immer öfters auch aus dem Mund von Politikern. Dann sollten sie dies konsequent umsetzen. Nur so kann Multikulti funktionieren.
Guido W. Reichert am Permanenter Link
Da muss ich doch kurz widersprechen, das GG garantiert den Religionsunterricht lediglich an den Schulen, die Bekenntnis-gebunden sind ("Ausnahme sind Bekenntnisfreie Schulen") nach Art. 7 III.
Das eigentliche Problem ist doch, dass es in Deutschland praktisch keine bekenntnisfreien Schulen gibt! DAS wäre nach wie vor m.E. das Einfallstor für alle Änderungen im Hinblick auf Religionsunterricht an der Schule bei staatlicher Finanzierung, denn eine Bekenntnisbindung der ("christlichen") Schule ist eigentlich wirklich nicht mehr vermittelbar.
M.E. müsste man den Bekenntnisunterricht gar nicht untersagen, sondern lediglich in die Randstunden verlegen und durch die Glaubensgemeinschaften finanzieren lassen...