Die Vorgänge in der Türkei und die deutsche Geschichte

Keine Vergleiche – aber Assoziationen!

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Istanbul
Istanbul

BERLIN. (hpd) "Gleichschaltung", "Ausmerzen", "Erledigen", "Entartung", "Geschwüre", "Krebs", "Wucherungen", "Säuberung", "Reinigung", "Dreck" – nein, das sind leider keine plakativen Werbefloskeln für angepriesenes Waschmittel oder medizinische Fachbegriffe. Diese Ausrufe kursieren in der türkischen Politik und vor allem auch auf der Straße. Niemand kann verstehen, wie sich vor 80 Jahren Millionen Menschen an die Lippen einer einzigen Person hefteten. "Für ihn würde ich sterben", "Für ihn würde ich mein Leben geben", so skandiert die Menge. Nein, nicht beim Aufstieg Hitlers, sondern im Jahr 2016 bei Demonstrationen von AKP-Anhängern für ihren Präsidenten Erdogan.

Man sollte mit Vergleichen zurückhaltend sein. Und ja, das gilt auch für mich, der die schlimmste Zeit der deutschen Geschichte nicht miterlebt hat. Jeder Versuch, nur annähernd Parallelen zu ziehen, würde möglicherweise bedeuten, die damaligen Verbrechen relativieren zu wollen. Doch das kann und darf nicht Intention von Nebeneinanderstellungen sein. Doch gerade, weil ich die Zeit bis 1945 nur aus Geschichtsbüchern, aus Erzählungen und Dokumentarfilmen kenne, bin ich darauf angewiesen, diesen oftmals nur bruchstückhaften Darstellungen mein Vertrauen zu schenken. 

Ich zerbrach mir immer wieder den Kopf, welche Psychologie dahinter stecken muss, dass Massen ihr eigenes Denken abschalten und das vorprogrammierte Band der völligen Hingabe, ja, sogar Aufgabe, abspulen. Hat es etwas mit der Verteidigung der Demokratie zu tun, wenn man sich vor Panzer wirft, um sein Leben für einen Anführer zu geben, der gleichzeitig mehr oder weniger sichtbar gerade diese Staatsform abschaffen will? Ich habe durchaus den Eindruck gewonnen, dass ein nicht kleiner Teil der türkischen Bevölkerung sich in einer Autokratie, in einer Diktatur wohler fühlen würde.

Es hat etwas von verloren gegangenem Stolz, wenn anscheinend nur der Weg der Macht hilft. Nein, man kann die Vorgänge in der Türkei keinesfalls mit denen von damals vergleichen. Es waren andere Dimensionen, es waren andere Beweggründe, es war eine andere Radikalität, Brutalität und Menschenverachtung. Doch auch die, die Ankara heute an den Tag legt, ist schon beeindruckend. Vielleicht hätte man solche Vorgehensweisen aus den Staaten West- oder Ostafrikas erwartet. Aber von einem Land, das noch bis vor kurzem beabsichtigte, in die Europäische Union aufgenommen zu werden?

Bildungsapparat, Gerichte, Verwaltungen – sie alle werden auf Linie gebracht. Ein Land, das nur noch nach einer Pfeife tanzt. Wer nicht mitmacht, wird abgeführt. Wer sich nicht verbiegen lässt, wird drangsaliert. Und noch immer schwebt das Schwert der Todesstrafe über allem. Die Drohung mit der Wiedereinführung der Todesstrafe könnte ein Bluff sein. Aber auch Realität werden. Denn Erdogan ist die EU mittlerweile ziemlich egal. Tourismus und Wirtschaft gehen bereits bergab – doch für einen starken Staat nimmt das Volk das gerne hin. Noch. Denn sollten in der Türkei tatsächlich wieder Köpfe rollen, nicht im übertragenen, sondern im wörtlichen Sinne, wäre die Isolation groß.

Zwar bekunden Brüssel und Berlin ihre konsequente Ablehnung der Todesstrafe und verbinden mit einer entsprechenden Rückkehr zu dieser Praxis durch Erdogan das Ende der Beitrittsverhandlungen in die Union. Aber in den Talksendungen hierzulande rechtfertigen Anhänger des türkischen Staatspräsidenten Überlegungen nach einem konsequenten Durchgreifen bereits mit der außergewöhnlichen Situation, die nun noch mit dem Ausnahmezustand untermauert wurde. Die Antwort unsererseits müsste deutlicher ausfallen, aber wir müssen uns entscheiden. Ohnehin kann sich kaum jemand vorstellen, wie mit solch einem diktatorischen Regime ein Flüchtlingspakt aufrecht erhalten werden sollte, der ohnehin von Beginn an unmenschlich war. Für unsere Regierung scheint die Abwägung aber ernsthaft zu sein, sie denkt auch noch an unsere Präsenz auf dem türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik und die Folgen, die ein Rückzug von dort hätte.

Doch wer allein mit dem Gedanken spielt, Menschen wieder töten zu wollen, wer aus dem Hier und Jetzt in mittelalterliche Praktiken zurückfällt, für den darf es keinen Platz in der EU geben, auch keine Partnerschaft. Mir scheint, als würde die Bedeutung der Türkei überhöht. Sie zerstört sich gerade selbst – nicht wir sind auf sie angewiesen, wohl eher umgekehrt. Das muss deutlich werden, neben dem Hinweis, dass Menschenrechte nicht temporär "ausgesetzt" werden können. Frankreich hat in seinem Ausnahmezustand die Grundrechte beschränkt – das ist zwar ebenso fragwürdig, aber nicht vergleichbar. Damit kann sich die Türkei nicht aus der Verantwortung nehmen, internationale Konventionen dauerhaft und zu jeder Zeit einzuhalten.

Ein Staat ist Richtender, aber nicht Hinrichtender. Wer die Todesstrafe befürwortet, macht es sich einfach. Er nimmt Kurs auf die Einbahnstraße. Denn wer dieses Urteil vollzieht, der schafft Tatsachen – was im ersten Moment Sorgen nehmen kann. Doch ein solches Denken mag nur gelingen, solange das Gewissen ausgeschaltet bleibt. Kurzfristig dürften die Emotionen befriedigt sein. Aber langfristig sind weder Versöhnung, noch Reue, noch Frieden möglich – von beiden Seiten. Die Todesstrafe hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun, viel eher mit Rache. Jeder hat ein Recht auf Leben. Es ist Aufgabe eines Volkes, dies zu schützen. Wenn der Mob nun auf die Straßen strömt, dann aus Hilflosigkeit. Dann fehlen die Alternativen, aber auch die Perspektiven. Es ist ein armseliges Selbstbewusstsein, was dort propagiert wird, ist  es doch nur aufgebaut auf heißer Luft.

So hart es klingt, ich lerne dieser Tage ein bisschen mehr darüber, wie das war, als meine Großeltern in den Krieg zogen, über die Motivation von früher. Doch noch viel schlimmer ist: Wir alle denken immer wieder, solch eine Hypnotisierung eines Volkes könne sich nicht wiederholen. Schon gar nicht in unseren Breiten. Doch jetzt werden wir eines Besseren belehrt. Und das scheinbar über Nacht. Was ist da los in einer Gesellschaft, die blind vor Hass auf Gegner losgeht, sie mundtot macht – und vielleicht noch mehr? Wer hat dort möglicherweise versagt? Und welche Rolle spielen wir dabei? Vielleicht können wir aus ehemaligen Fehlern lernen, ein allzu langes Weggucken dürfen wir uns nicht leisten. Denn von selbst lässt sich Fanatismus nicht stoppen.