Missbrauch in der katholische Kirche

Ein Theaterabend, der aufwühlt und aufrüttelt

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Karl Haucke mit den professionellen Darstellern auf der Bühne. Die zahlreichen Zettel an der Wand zeigen Anzeigen gegen Missbrauchstäter.
Karl Haucke

Im Hildesheimer "Theater für Niedersachsen" läuft ein ungewöhnliches Experiment: Es werden die Missbrauchsfälle der Kirche auf die Bühne gebracht. Karl Haucke ist Betroffener körperlicher, sexualisierter Gewalt in einem katholischen Ordensinternat. Und er steht selbst neben professionellen Schauspielerinnen und Schauspielern auf der Bühne. Nach der Premiere des Stücks am vergangenen Samstag sprach hpd-Autor Peter Kurz mit ihm über die Entstehungsgeschichte und den Hintergrund des Stücks. Und über die Reaktionen des Publikums auf diesen schweren Stoff.

hpd: Das Stück heißt: "Der Weg zur Hölle ist mit guten Absichten gepflastert". Der Titel und die Redewendung stehen dafür, dass gute Vorsätze zur Aufarbeitung nicht ausreichen. Sondern dass man auch Kraft zur Verwirklichung des Guten zeigen muss, um den Weg zur Hölle zu vermeiden. Wie gehen Regie und Ensemble vor, dieses Thema auf die Bühne zu bringen und die Zuschauerinnen und Zuschauer zu erreichen?

Karl Haucke: Ich möchte den Titel des Stückes anders verstehen, schärfer. Nämlich, dass das, was die Kirche als "Gute Absichten" bezeichnet, auch nach Bekanntwerden des Missbrauchsskandals weiterhin tausende Kinder in eine körperliche und seelische Hölle getrieben hat; dass auch die vorgeblichen, von Vertuschungsabsichten geprägten Aufarbeitungsmaßnahmen die Verantwortlichen reif für die Hölle gemacht haben.

Zu Ihrer Frage nach dem Vorgehen der Akteure: Die Personen auf der Bühne nehmen sehr bewusst ihre schauspielerischen Kompetenzen und Attitüden zurück. Sie wollen als wahrhaftige Menschen auftreten und nicht als spielende Figuren. Das war ihnen und der Regisseurin Ayla Yeginer sehr wichtig und wurde in den vorbereitenden Gesprächen, die ich mit ihnen geführt habe, eine der Kernfragen. Ob das letztlich gelingt, können nur die Betroffenen von Missbrauch im Publikum beurteilen.

Es wird hier nicht, wie sonst im Theater, eine Geschichte erzählt, sondern wahre, bittere und Existenzen vernichtende Geschichten werden aufgegriffen. Wie wurden die Hintergründe für das Stück recherchiert, wie wurden sie für die Bühne aufgearbeitet?

Zunächst ging es um die Recherche: In Zusammenarbeit mit Studierenden der Uni Hildesheim wurden Bücher gewälzt, Forschungsstudien der Bistümer gelesen, Dokumentationen geschaut, Podcasts gehört, tausende Websites und Presseartikel studiert, Bistumsmitarbeiter befragt. Vor allem aber, und das ist fast ein Alleinstellungsmerkmal in der künstlerischen Aufarbeitung sexueller Gewalt, wurden Interviews mit Betroffenen geführt. Stundenlanges Zuhören in Gesprächen mit den Betroffenen und Co-Betroffenen erbrachte das Basismaterial für die Stückentwicklung. Die auf der Bühne gesprochenen Aussagen sind authentisch, sie sind wahr – das ist die Stärke des Stückes.

Ich habe es so erlebt: Neben dem, was geschehen ist und geschieht, soll nichts Platz finden auf der Bühne. Das wird auch deutlich gemacht durch die sparsame Ausstattung: Alltagskleidung, marmorgraue Wandverkleidung, Stühle – und untaugliche Leitern, um den verzweifelten Menschen auf der Bühne klägliche, zum Scheitern verurteilte Zugänge zu den Verantwortlichen all der Gewalt zu simulieren.

Es sind noch zehn weitere Aufführungen des Stücks (nicht nur in Hildesheim) geplant. Nähere Informationen auf der Internetseite des Theaters.

Sie selbst stehen als Betroffener sexualisierter Machtausübung auf der Bühne. Wie muss man sich den Auftritt vorstellen?

Ich berichte in einem Prolog über meine Erfahrungen als Elf- bis Sechzehnjähriger in einem katholischen Ordensinternat. Ich nutze dazu Einträge aus meinem damaligen Tagebuch. Ich glaube, das hat eine Bedeutung für die Zuhörer, für ihre Chance der Einfühlung. Darüber hinaus nehme ich natürlich auch die Chance wahr, die Verantwortlichen an die Verbrechen ihrer Untergebenen zu erinnern. Zuständige Kleriker verstecken sich nämlich gern hinter bagatellisierenden Begriffen wie "Fehler", "Vergehen", "Ausrutscher eines schwach gewordenen Menschen". Das Wort, das nicht gebraucht wird, ist "Schuld". Einer der wichtigsten Schritte zur Gerechtigkeit ist, dass die Verbrechen als solche bezeichnet werden, und nicht als Zufall oder Unglück. Für "Unglücke" kann man niemanden verantwortlich machen, und das bedeutet, dass Betroffene ihren Schmerz, ihre Verzweiflung und ihre Wut nicht adressieren können.

Später habe ich dann noch einige kleinere Beiträge, mit denen ich hoffe, unsere Anliegen zur Aufklärung der Verbrechen und die Rolle des Staates dabei zu unterstützen.

Bei der Aufarbeitung kirchlicher Missbrauchsfälle geht es um Fragen der Aufklärung und Entschädigung. Um Strafverfolgung. Um Verharmlosung und Vertuschung. Um Verantwortung von Kirche und Politik. In welcher Weise kann Theater zur Aufarbeitung kirchlicher Missbrauchsfälle beitragen?

Ein wesentlicher Beitrag ist die Sensibilisierung für die verschiedenen Facetten des Themas. Sexualisierte Machtausübung ist ein gesamtgesellschaftliches Thema. Wir alle schalten doch oft genug die "Tagesschau" aus, weil wir nicht diese schmerzhafte Realität mit unserem Abendbrot konsumieren wollen. Wir wollen es nicht wahrhaben, was der Mensch dem Menschen antut. Und deshalb sind die von Ihnen benannten Facetten des Themas Missbrauch, nämlich Verbrechensaufklärung und Schmerzensgeld, Verharmlosung und Vertuschung, Verantwortung von Kirche und Politik in unserer Wirklichkeit Aspekte, die wir gerne aus unserer Wahrnehmung verbannen. Wir sind vielleicht nicht unempfindlich, aber aufgrund menschlicher Verletzlichkeit nicht empfänglich für diese Teile der gesellschaftlichen Wirklichkeit.

Deshalb ist es ein Gewinn, diese Themen auf die Bühne zu bringen. Theater kann Menschen anders emotional in eine Empathie für die Lebensgeschichte Betroffener hineinziehen als Vorträge oder Artikel – besonders wenn die Akteure auf der Bühne mit jener Sachkenntnis und Leidenschaft agieren, wie wir es in Hildesheim erleben. Dieses Schauspiel des Theaters für Niedersachsen klärt auf, rüttelt auf und fordert zum Handeln auf. Und gehandelt werden muss, um der gesellschaftlichen Aufgabe nachzukommen, Kinder vor sexualisierter Gewalt zu schützen. Nicht umsonst heißt die aktuelle Sensibilisierungskampagne des Bundesjugendministeriums und des Amtes Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs "Schieb deine Verantwortung nicht weg!".

Karl Haucke, Foto: © Christine Fenzl
Karl Haucke, Foto: © Christine Fenzl

In der Programmankündigung des Theaters für Niedersachsen heißt es: "Achtung! In diesem Theaterstück werden körperliche, seelische und sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen durch Täter*innen aus dem kirchlichen Kontext sowie deren Folgen thematisiert – in teilweise schmerzhaft expliziten Worten. Wenn Sie das als beunruhigend empfinden, seien Sie bitte achtsam! Im Foyerbereich stehen Ansprechpersonen aus Beratungsstellen für Sie bereit."
Wie war es bei der Premiere? Wie wurde das Stück vom Publikum aufgenommen?

Ich glaube, es liegt in der Natur des Themas, dass am Ende des Stückes nicht sofort freudiger Beifall aufbrauste. Es gab zunächst eine erwartbare Verhaltenheit bezüglich des klassischen Klatschens. Aber der Gestus war eindeutig: Als das Licht anging, war das gesamte Publikum aufgestanden. Ich habe das als Zustimmung für unseren Umgang mit dem Thema erlebt. Der dann beginnende Beifall holte das Ensemble und alle an der Produktion Beteiligten mehrfach aus den Kulissen zurück auf die Bühne.

Im Gespräch mit den Beratungsfachleuten im Foyer erfuhr ich, dass es einige Nachfragen zu Unterstützungsmöglichkeiten für Betroffene gab. Nach Ende der Vorstellung habe ich mit einigen Betroffenen selbst sprechen können – und die sagten, sie fanden sich wieder in den Darstellungen des Gewalterlebens und auch in dem Bild, das von der toxischen Institution Kirche gezeichnet wurde.

Karl Haucke, geboren 1951, ist Betroffener körperlicher, sexualisierter und spiritueller Gewalt in einem katholischen Ordensinternat. Er ist Sozialpädagoge, Supervisor, Qualitätsauditor, seit 1976 in sozialwissenschaftlicher Praxis, Forschung und Lehre, seine Schwerpunkte sind: Pädagogik der Kindheit, Bildungsplanung, Qualitätsmanagement. Er ist aktiv in verschiedenen Betroffenen-Initiativen, Gründungsmitglied des IPA e.V. (Institut für Prävention und Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt) und des Vereins Umsteuern! Robin Sisterhood (Die Idee dahinter: Eingesparte Kirchensteuer umsteuern von der verletzenden Institution zu den missbrauchten Menschen). Haucke ist außerdem Mitglied im Betroffenenrat der Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs und im Nationalen Rat gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen.

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