Humanistik in Zeiten der Krise

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Plenum FES / Foto: Frank Navissi

BERLIN. (hpd) Im Haus der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin trafen sich am vergangenen Sonnabend Humanisten und Humanistinnen, um sich darüber auszutauschen, welche Aufgaben in den kommenden Jahren auf Humanisten zukommen werden. Dazu ist es zuerst einmal notwendig, sich darüber im Klaren zu werden, was Humanismus eigentlich ist.

Die Humanistische Akademie Deutschland (HAD) bringt daher den Begriff „Humanistik“ ins Spiel. Die Wortschöpfung „Humanistik“ erinnert nicht ohne Grund an ein Wort wie „Germanistik“ - der Theorie zur Literatur und Sprache. Denn unter „Humanistik“ ist die Lehre dessen zu verstehen, was landläufig unter „Humanismus“ subsumiert wird. „Humanistik beschäftigt sich mit Humanismus. Dieser hat eine Geschichte, Theorie und Praxis. [...] „Humanistik“ bezeichnet (in Belgien und Holland) bereits akademische Lehrstühle.“ (Quelle)

Um darüber zu informieren und auch, um die Auswirkungen eines Lehrfaches „Humanistik“ an deutschen Hochschulen zu diskutieren, traf man sich am Wochenende auf Einladung der Humanistischen Akdademien Deutschlands(HAD) und Berlins (HAB) sowie der Politischen Akademie der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) zur Konferenz „Humanistik in Zeiten der Krise“.

Da die HAD mit Sicherheit alle Redebeiträge wieder als Publikation veröffentlichen wird, werde ich mich auf einige Eindrücke beschränken, die ich dort mitnehmen konnte.

Der Essener Prof. Dr. Rüsen war der wohl umstrittenste Redner des Tages. So vertrat er sehr diskussionswürdigen Thesen wie: „Der Kapitalismus benötigt humanistischen Input zum weiteren Überleben“ - bei der nicht zu Unrecht angemerkt wurde, dass eine Humanisierung des bestehenden Systems zu wenig ist, um eine menschenwürdige Zukunftsgesellschaft zu erreichen. In seinem Vortrag wies er zwar darauf hin, dass wir universell denken müssen, wenn wir „Humanismus“ denken, da dieser weder nationale noch geographische Grenzen kenne. Allerdings waren einige seiner Ausführungen dazu geeignet, zu glauben, dass ihm genau dieses universelle Denken selbst schwer fällt. So wie er aus eigenem Erleben über seine asiatischen – vor allem chinesischen – Kollegen sprach; das klang wenig humanistisch; eher überheblich. Anderseits empfand ich seine Analyse, weshalb es zum „clash of culture“ kommt, recht aufschlussreich. Bestätigt sie doch, was auch u.a. Schmidt-Salomon über „In-Groups“ und Out-Groups“ und deren Gegensätze schreibt.

Spannend war vor allem seine Kritik am klassischen Humanismus. Prof. Dr. Rüsen ist zuzustimmen, wenn er meint, dass dieser die Augen verschließt vor den „unmenschlichen Seiten des Menschen“. So gäbe es eine illusorische Vorstellung von der Antike gerade in der europäischen Geschichtsschreibung. Vergessen wurde, dass diese Hochgesellschaft auf der Versklavung der Mehrheit beruht. Er sieht in der Rezeption der antiken, vorrangig griechischen Geschichte auch ein zu ethnozentrisches Herangehen und weist auf ein gestörtes Verhältnis der Philosophie zur Natur hin.

Das Credo des Vortrages in einem Satz: Der Mensch sei als fragiles, irrendes und verletzliches Wesen zu verstehen sei Aufgabe des Humanismus.

„Enzyklopädie des Humanismus“

Die HAD denkt darüber nach, eine „Enzyklopädie des Humanismus“ zu erstellen. Die ersten Vorüberlegungen dazu legte Prof. Dr. Dr. hc. Hubert Cancik in seinem Vortrag dar. Das ist ein sehr ehrgeiziges Projekt, dass sich die Akademie da vorgenommen hat. Ich wünsche ihr und den daran Beteiligten die Kraft, das durchzuhalten.

Praxis des Humanismus

Die für mich anregendsten Beiträge des Tages kamen von der in Belgien „Humanistik“ lehrenden Prof. Dr. Gily Coene und von Ulrike Dausel vom Provinzialen Zentrum Moralischer Dienstleistungen (PCMD). Die beiden berichteten aus der Praxis. Während Prof. Dr. Coene den Schwerpunkt ihres Redebeitrages auf die Umsetzung der „Humanistik“ als universitäres Lehrfach setzte, sprach Frau Dausel über ihre Erfahrungen bei der „humanistischen Lebensberatung“ (siehe auch hier).

„Was unterscheidet eine humanistische Lebensberatung von zum Beispiel psychologischer Beratung?“

Diese Frage wurde vor allem auch noch in der Pause ausführlich diskutiert. Ich fand dabei die Antworten richtig und wichtig: Zum Einen ist es ein Unterschied, ob man psychisch erkrankt sich an einen Arzt wendet oder sich in verschiedenen Lebenssituationen an einen Lebensberater wendet. Frau Dausel sagte zudem, dass der Lebensberater den Ratsuchenden nicht versucht, zu heilen oder in irgendeine Richtung zu drängen. Sondern neben ihm steht, völlig gleich, wofür er sich entscheiden wird. Hierin unterscheidet sich die Aufgabe des Lebensberaters grundlegend von der eines Psychologen. Aber auch – aufgrund des völlig anderen Menschenbildes, das der Beratung zugrunde liegt - von den „Ratschlägen“ eines konfessionellen Beraters.

An dieser Stelle möchte ich auch noch einmal darauf hinweisen, dass auch der HVD Berlin eine ähnliche Beratung anbietet.

Praxis und Theorie

Leider sind diese Berichte aus der Praxis bei den versammelten Geisteswissenschaftlern nicht immer auf Verständnis gestoßen. Zwischen den Erfahrungen aus der täglichen Basisarbeit und der Theorie scheint es leider einen tiefen Graben zu geben. Das ist sehr zu bedauern, hat doch Frau Dausel deutlich gemacht, dass die Praxis von den Forschungsergebnissen des Humanistik-Lehrstuhles profitiert. Und umgekehrt. Möglich, dass es – um das auch in Berlin zu begreifen – erst der Einrichtung eines solchen Lehrstuhls in Deutschland nötig macht.

Womit ich bei einem der Themen des abschließenden Podiums wäre. Allerdings möchte ich noch ein paar Worte zum Beitrag von Prof. Dr. Frieder-Otto Wolf sagen. Dieser sprach – ganz im Sinne des Konferenztitels – dann auch tatsächlich über die Krisen, in denen die Welt sich derzeit befindet. Er stellte die Frage, ob man diese weltweiten Krisen auch als Chance für einen Humanismus verstehen könnte. Und er bejahte die Frage und sprach von „Humanismus als Chance für Nachhaltigkeit“. Wobei ich jedoch das Gefühl hatte, dass sein Optimismus ein eher gedämpfter ist. Mehrfach erwähnte er die Unfähigkeit der Menschheit, das Problem der Klimaerwärmung ernsthaft anzugehen. Obwohl inzwischen jedem Menschen bewusst sei, dass nur gemeinsames Handeln die Menschheit retten kann ist diese nicht in der Lage, eben dies zu tun.

Die den Tag abschließende Podiumsdiskussion stellte die Frage „Wer braucht Humanistik?“ - Die Antwort: „Alle“ habe ich nicht vernommen; dafür aber ein paar sehr interessante Anregungen. So regte Prof. Dr. Richard Faber von der FU Berlin an, Humanistik als eine Art Oberbegriff über verschiedene Wissenschaftsdisziplinen zu verstehen. Seiner Meinung nach würde Humanistik Bereiche der Soziologie genau so umfassen wie Philosophie, Geschichte und auch Pädagogik. Mit dem Hinweis, dass „jeder Lehrer humanistische Werte vermitteln kann“ sprach er sich für mein Verständnis jedoch gegen die Einrichtung eines Lehrfaches „Humanistik“ aus. Frau Prof. Dr. Anne Eusterschulte referierte darüber, ob eine humanistische Theorie Orientierung geben kann und zitierte dazu umfangreich aus Klassikern. Dr. Justus H. Ulbricht aus Jena sprach für mich viel zu wenig. Er sprach sich eher gegen die Einrichtung des Lehrstuhles aus. Aber sehr wohl für eine humanistische Ausbildung von Pädagogen.

Mir scheint, dass hierin die Crux der gesamten Diskussion lag. Auch Dr. Horst Groschopp, der die gesamte Konferenz leitete, konnte nicht genau vermitteln, worin sich ein Lehrstuhl Humanistik von einer Lehrerausbildung an der Humanistischen Akademie unterscheidet. Ich meine, dass man unterscheiden muss zwischen einem – tatsächlich interdisziplinären – Lehrstuhl Humanistik, der die von Prof. Dr. Faber benannten Fächer (und sicherlich ein paar mehr) einschließt sowie einer eher pädagogisch ausgerichteten Ausbildung für Lehrer und Lebensberater. Also: Humanistik als Forschungsfeld über Humanismus in all seinen Spielarten. Leider konnte diese Frage nicht abschließend diskutiert werden – meiner Meinung nach eben auch, weil die Praktikerinnen zu wenig gehört worden sind.

Das Studium, das die Akademie (HAB) derzeit für die Ausbildung von Lebenskundepädagogen anbietet, stellt „nur“ ein Ergänzungsstudium dar und deckt somit nur die Basics der Humanistik ab.

Frank Navissi

 

Video mit Stellungnahmen von Dr. Horst Groschopp, Prof. Dr. Gily Coene, Prof. Dr. Frieder Otto Wolf, Ulrike Meyen und Ulrike Dausel.