Ist die Diskriminierung von Ossis möglich?

Die Sache mit der Tradition

Gleich vorab müssen die Komponenten Kleidung und Ernährung für die Bestimmung einer Ethnie in großen Teilen der heutigen Welt abgelehnt werden. Wer sich in Europa, aber auch sogar in vielen außereuropäischen Ländern, umsieht, dem muss die Lächerlichkeit dieser veralteten Eigenständigkeitskriterien sofort auffallen. In keinem der zunehmend monströs wirkenden Einkaufstempel gibt es noch irgendwelche Spuren eines eigenständigen Kleidungsangebots. Und von McDonald, KfC, Bürgerking, Pizza King, Baguetten- und Dönerbuden, etc. wollen wir gar nicht reden. Auch die Sprache ist kein Alleinstellungsmerkmal mehr, seitdem z. B. Russlanddeutsche ohne Deutschkenntnisse zu der deutschen Ethnie gerechnet werden. Bleibt die Tradition.

Um die Problematik dieses Kriteriums gleich zu begreifen, brauchen wir nur die Diskussion über das aus dem Begriff Tradition abgeleiteten Unwort Leitkultur aufzurufen. Wer bestimmt und weshalb die Zusammensetzung dieses Traditionskomplexes? Welche Verhaltensmuster, Biografien, Glaubensvorstellungen, Weltanschauungen, Sprachen etc. sind dafür in der Zeit bestimmend? Und ab wann gelten sie als traditionell? Das alles wird weitgehend durch die Deutungshoheit der vorherrschenden Ideologie mit der ihr entsprechenden Normgebung bestimmt. Das Traditionskriterium führt so in der Regel zu einer konservativen bis hin zu einer fundamentalistischen Deutung und Wertung des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses. Ausreichende Problemstellungen also, um die juristische, aber vielleicht auch soziologische Anwendung dieses Begriffes aufklärerisch infrage zu stellen.

Der Existenznachweis einer Ethnie kann nur schwer von dieser ideologischen Last der Tradition befreit werden. Dazu müsste, anstatt von nur rückwärtsgerichtetem Wurzelwerk, eher Entwicklung, inklusive ihrer gegenwärtigen und zukünftigen Phasen berücksichtigt werden. D. h. es muss stattdessen von der Eigenständigkeit und Reproduktionsfähigkeit der heute objektiv bestehenden kulturellen und sozioökonomischen Verhaltensweisen und Anschauungen der infrage kommenden sozialen Gruppe ausgegangen werden. Die dann genau nachweisbar zurückgeführt werden können auf gemeinsam gemachte und erwirkte Erfahrungen, Werten, ethische und moralische Normen sowie kulturelle Prägungen während dieser Entwicklung. Wenn es sich also um eine sich relativ eigenständig entwickelte Lebenswelt des Heutigen handelt. Die Wurzeln dieser Lebenswelt reichen dabei von der Urgesellschaft über die modernen gesellschaftlichen Systeme bis in das Heute. In diesem Sinne ist entweder die Beantwortung der Frage nach der ostdeutschen Ethnie ganz anders zu strukturieren als auf der Traditionsbasis oder die Ethnie durch einen weniger belasteten Begriff zu ersetzen. Eine derartige, nicht unmittelbar an Tradition gebundene Analyse, würde die heutige sozialökonomische Lage der ostdeutschen Bevölkerung und die Faktoren Diskriminierung und Ungerechtigkeit als zentrale Kriterien zu behandeln haben. Konkret wären das für Deutschland die Verhältnisse innerhalb und zwischen den zwei unterschiedlichen Lebenswelten, die nach der Wende zusammenstießen. Obwohl dann der Begriff Ethnie im klassischen Sinne nicht mehr zu verwenden wäre.

Das Gefühl der Diskriminierung und der Ungerechtigkeit

Im Prozess der Vereinigung der zwei Teilstaaten war es die Lebenswelt der Ostdeutschen, die sich an vollständig neue Lebensweltbedingungen anpassen musste. Obwohl das Stuttgarter Gericht die 40 Jahre der DDR-Existenz als nicht hinreichend für die Bildung einer Ethnie betrachtete, wird jedoch kein ernstzunehmender Soziologe diese Zeitspanne als nicht ausreichend für die Bildung eines besonderen und realen Sozialisationsprozesses halten. Mindestens drei Generationen machten Erfahrungen, bildeten Werte und moralische Normen, erhielten kulturelle Prägungen durch ein System, das sich in seinen meisten Teilen grundsätzlich vom neuen unterschied. Um nur einige der prägenden komplexen Faktoren dieser Sozialisation zu nennen:

  • Die offiziell propagierten Normen der sogenannten sozialistischen Moral bzw. Sozialismusutopie bei Besitz, Verteilung und gesellschaftlichen Beziehungen einerseits und die fast risikolose Gleichgültigkeit gegen Eigentum und Vermögen sowie die Solidarität der Mangelwirtschaft andererseits
  • Die Versorgungsmentalität mit ihrer Staatsgläubigkeit, die allumfassend gesicherte soziale Existenz einerseits, aber das fehlende Karrierestreben und die Passivität hinsichtlich innovativer Lösungen andererseits
  • Der Glaube an die sogenannte führende Rolle der Arbeiterklasse und ihre Selbstwertgefühle einerseits, aber die fehlende soziale und politische Mitbestimmung andererseits sowie die daraus folgende gesellschaftliche Resignation
  • Die mythologisierte Einstellung zur Arbeit und Betrieb einerseits, aber die undisziplinierten Einstellungen zu den Abläufen des Arbeitsprozesses, zu den Leitungsorganen der Produktionsprozesse und zur Hierarchie in der Arbeitswelt überhaupt.
  • Etc.

Folge dieser konfliktreichen Sozialisation war und ist, dass die Ossis sich nur sehr schwer in die neue Welt mit ihren insbesondere veränderten und entfremdeten Eigentumsverhältnissen integrieren konnten und können. Zusammen mit den Erfahrungen, die unmittelbar mit den Ereignissen um den Fall der Mauer und mit der Auflösung des DDR-Staates zusammenhängen, sind sie prägende Bestandteile des ostdeutschen Selbstverständnisses. So entstand ein weitverbreitetes Diskriminierungs- und Ungerechtigkeitsgefühl. Laut einer Umfrage des Thüringer Monitors fühlten 55 % der ostdeutschen Befragten sich 2008 durch die Westdeutschen diskriminiert und unter den Befragten im Alter von18 bis 24 Jahre erhöht sich die Zahl auf 75 %. Die Integration war nur für 25 % der Befragten persönlich erfolgreich (unter 35 Jahren 40 %). Insbesondere die frühere Elite (Elite hier im Sinne der sozialen Gruppe die durch ihre Qualifikation funktions- und nicht machtbedingte Leitungstätigkeit ausübte) leidet unter diesem Diskriminierungsgefühl, da sich 1997 noch 60 % der Befragten als solche betrachteten, 2010 diese Quote aber auf nur 30 % sank. Die Vertretung von Ostdeutschen in den Leitungsorganen der noch bestehenden Mittel- und Großunternehmen bzw. Wirtschaftsgremien tendiert zu Null! Die Menge der Befragten, die sich nicht zur Mittelschicht, sondern zur Arbeiterschicht zugehörig fühlen, ist in den Neuen Bundesländern dann auch 2,6-mal größer als in den alten Bundesländern.

Diese sozialökonomische Situation ist genau entlang der früheren deutsch-deutschen Grenze charakteristisch für die ganzen Neuen Bundesländer (NBL) und bildet für das ethnische Thema eine gesicherte territoriale Basis. Frau Gabriela S. ist somit ein individueller Bestandteil einer realen kollektiven Diskriminierung. Da diese Gruppe gerichtlich aber nicht das Prädikat Ethnie zugesprochen wird, bleibt sie ungeahndet. Eine doppelte Diskriminierung oder eher eine Folge des Ethnienbezugs?