BERLIN. (hpd) In einem Berlin Café hatte „Radio Hochsee“ zu einem Themen- und Filmabend eingeladen, bei dem Manuel Koesters Etappen von Macht und Gewalt institutioneller Kindes- und Jugenderziehung an filmischen Dokumenten von 1909 bis ins Jahr 2010 vorstellte. Auch ein europäisches Thema.
Radio Hochsee lud zum Themenabend "Kleine Strolche Heimkinder und Sozialarbeiter im Film" in das zentral gelegene "Kaffee Burger" ein. In diesen Teil von Berlin Mitte, nur wenige Kilometer entfernt von den Tagungsorten "Runder Tisch Kindesmissbrauch" und des ehemaligen "Runden Tisches Heimerziehung", sind Berlin-Besucher fast nur auf der Durchfahrt. Jeden dritten Dienstag treffen sich hier eher Insider. So scheint es auch gedacht zu sein, Themen zu reflektieren, die wohl im Blickpunkt stehen und bei denen es nicht jedem leicht fällt, sich darauf einzulassen. So war es nicht verwunderlich, dass sich zu diesem Themenabend vor allem SozialarbeiterInnen und Menschen von nebenan eingefunden hatten, die eben nicht zu Pressekonferenzen gehen.
Doc Schoko und Falco Hennig hatten als Gastgeber die „Hochsee-Angel“ nach Kindesmissbrauch, Heim- und Fürsorgeerziehung ausgeworfen und führten mit Manuel Koesters, Experte und selbst Sozialarbeiter, Film-Szenen vor. Hier nun aufeinander folgend anzusehen, zeigt sich die kontinuierliche Fortführung bestehender Strukturen.
Ich erinnere mich genau: Als Kind bin ich vor dem Fernseher tief ins Sofa gerutscht als "Oliver Twist" in Weihnachtszeit-Nähe gezeigt wurde. Mit diesem Film und der Art und Weise wie dort mit Kindern umgegangen wurde wollte ich nichts zu tun haben. Beruhigend war, dass dieser Film eine vergangene Zeit zeigte. Aber Fragen, wie es anderen Kindern geht, kamen immer wieder hoch. Nicht unweit meines Elternhauses auf einem freien Feld am Rande von Hamburg wurde das so genannte Abendrot-Haus gebaut. Hier kommen Kinder hin, die sich mit ihren Eltern nicht verstehen oder keine haben, war die Erklärung. Weiter wurde darüber nicht gesprochen und warum in dessen Nähe meine Eltern schneller oder langsamer gingen als normaler Weise blieb mir unklar und war unheimlich. Das war Ende der 50er Jahre.
Die 2010 umfassend formulierten Pläne zur Vorbeugung und Abwendung von Kindesmissbrauch der Bundesministerinnen Leutheusser-Schnarrenberger, Schavan, Schröder und ihren Experten von Runden Tisch Kindesmissbrauch zeigen noch heute den Handlungsbedarf.
Die Filme
Bei "Oliver Twist" wird klar, die Arbeitskraft von Kindern wird eingesetzt, das zeigt der Film schon im Jahr 1909. Armenhäuser kosten Geld und müssen unterhalten werden. Das erlebten die Heimkinder bis zu den 70-er Jahren in Deutschland und berichten authentisch über Torfstechen beispielsweise in Bethel, Netze für die Hochseefischerei "stricken" in Glückstadt etc.
Oder beispielsweise Charlie Chaplin, 1889 geboren. Wegen Armut und Krankheit seiner Mutter wurde er sporadisch immer wieder in ein Waisen- und Kinderheim gebracht. "The Kid" entstand 1920 und zeigt den Zwiespalt der mittellosen Mutter, die ihr Kind auf der Straße ablegt, dem Bürger - hier Charlie Chaplin - der das Findelkind aufnehmen will, dafür von der Staatsgewalt verfolgt wird, die sich des Kindes aber nicht annehmen wird. Das Kind bleibt in dem Film auf der Straße liege.
"Sie kennen Bambule?" Die Gäste heben ihre Hände, Falco Hennig als Moderator setzt nach: "Wer hat den Film gesehen?" Manuel Koesters als einziger und das erst jetzt und für uns alle ist es eine Art Premiere. Wir sehen einen Ausschnitt eines Filmes, der nicht wegen seines Inhalts zurückgezogen worden war sondern weil er von Ulrike Meinhof ist, die zwischen Fertigstellung des Filmes und seiner Uraufführung in den terroristischen Untergrund gegangen war.
Screenshots: Szenen aus "Bambule" (s/w) und "Die große Flatter" (Farbe)
Manuel Koesters stellt Etappen von Macht und Gewalt institutioneller Kindes- und Jugenderziehung an filmischen Dokumenten von 1909 bis ins Jahr 2010 vor. Er selbst sagt dazu:
"Insgesamt war mein Anliegen, Filme aus verschiedenen Zeiten von der Stummfilmzeit bis heute zu zitieren, die sich mit Heimkindern, Waisenkindern und Straßenkindern, aber auch der Sozialarbeit beschäftigen. Die Themen sind teilweise gleich geblieben, wie z.B. Fähigkeit zur Empathie für die kindliche Seele entwickeln, positive Bindungen schaffen oder im Gegensatz dazu Methoden der schwarzen Pädagogik oder rein gesellschaftlich-funktionale Erziehungsmodelle, Babyklappe als moderne Einrichtung für heutige Findelkinder, bevor sie denn beinahe im Müll abgelegt werden (siehe „The Kid“); Disziplin bzw. Grenzen der Disziplin („Drill“), Umgang mit Armut in der Gesellschaft, Diskriminierung anderer Lebensformen etc.
Zusätzlich ging es mir auch um das Bild des Sozialarbeiters im Film bzw. in den Medien. Dafür reichte der Rahmen am 15.02. nicht aus, das könnte das Thema eines neuen Abends sein mit den Fragen: Welche positiven Identifikationsfiguren aus der Sozialarbeit wurden in Film und Fernsehen gezeigt? Wo sind die Grenzen der Sozialarbeit? Wie wird Sozialarbeit heute gesellschaftlich bewertet? Beispiele können aus dem „reality tv“ entnommen werden."
Nach drei Stunden aus und auf Wiedersehen. Ein Teilnehmer greift nach seinem Mantel und verabschiedet sich: "Gut, dass ich in einer Leitungsfunktion bin."
Fragen an Manuel Koesters:
Wie sind aktuell Ausbildungswege, Kompetenzen und Einsatzmöglichkeiten von Sozialarbeitern?
"Aktuell ist es ein verschultes und verkürztes Bachelorstudium. Noch mehr junge ausgebildete Sozialpädagogen und Sozialarbeiter werden unvorbereitet vor einem „Praxisschock“ stehen, und die Gefahr besteht, dass sie bei niedrigen Tarifen verheizt werden. Das kann natürlich nicht im Sinne der betreuten Klienten sein, es besteht z.B. in der Jugendhilfe die Gefahr von Fehlentscheidungen bzw. der zu schnellen Übernahme von zu hoher Verantwortung, beispielsweise in Kinderschutzfällen, die immer komplexer und differenzierter werden. Immer mehr bürokratische Anforderungen und eine zunehmende Messung der Wirksamkeit stehen mangelnder Personalbesetzung bzw. mangelnder Zeit zur Bearbeitung der Fälle gegenüber.
Die eigentliche Ausbildung fängt oft erst bei der ersten Stelle an. Hier kommt es sehr auf die Qualität der Einarbeitung an, oftmals fehlen noch reguläre Einarbeitungsprogramme."
Darf ein Sozialarbeiter ein Kind noch auf den Arm nehmen?
"Da kann ich nur aus der Sicht des Sozialarbeiters in der Jugendhilfe bzw. des Jugendamtes sprechen. Viele Notfälle, z.B. Meldungen über die 24-Stunden-Hotline des Kindernotdienstes in Berlin, blockieren die Sozialarbeiter des Jugendamtes, der Vorteil ist, es werden mehr Fälle überprüft, es kann auch anonym und einfacher als früher gemeldet werden, aber es schluckt auch viel Zeit, die dann nicht mehr für die „normalen“ Fälle bleibt. Und es gibt natürlich Fehlmeldungen, die Statistik müsste aber beim Senat erfragt werden.
Die Frage ist, ob auch genug Geld in präventive und gesellschaftlich wirksame Maßnahmen des Kinderschutzes gesteckt wird, so dass die Feuerwehrfunktion des Jugendamtes wieder reduziert werden kann. Der Missbrauchsfall in Altenkirchen lässt vermuten, dass es in manchen Landkreisen auch noch kein geeignetes Identifikationssystem für Kinderschutzfälle gibt, wie es z.B. in Berlin mit der Einführung von Kinderschutzbögen, die im Mehraugenprinzip ausgefüllt werden müssen, gelungen ist."
Evelin Frerk.
Filmliste 15.02.11:
1) Oliver Twist (1909), Stummfilm, R: James Stuart Blackton D: Edith Storey, Wilhelm Humphrey 1. Verfilmung von Oliver Twist, nur 9,5 Minuten lang, viktorianisches Zeitalter, Frühindustrialisierung, Armenhäuser überfüllt, Zwangsarbeit, Prügelstrafe wird gezeigt; Schicksal sich entscheiden zu müssen, zwischen „guter“ und „böser „ Welt, sich als Waise irgendwie durchschlagen müssen.
2) Charlie Chaplin: The Kid (1920), R: Charlie Chaplin, D: Jackie Coogan Reflexion von Chaplin über die eigene Kindheit in den Slums von London, herzlose Herausnahme durch die Vormundschaftsbehörde, Armut reichte als Grund aus oder alleinerziehend mit einem Kind zu sein (den Begriff gab es damals natürlich noch nicht)
3) Die kleinen Strolche („Our Gang“): For Pete`s Sake (1934), R: Gus Meins Freizeit von Kindern auf der Straße, positives Bild der Kinder, keine Rassentrennung, lassen sich von Erwachsenen nichts gefallen
4) Peter Michael Lampel: Revolte im Erziehungshaus, konnte leider nicht gezeigt werden. Dieser Film zeigt drastische Zustände der damaligen Heime, und wurde 1929 verboten, da behauptet wurde, die Heimerziehung werde ungerechtfertigt angegriffen, seit der Einführung des RJWG (Reichwohlfahrtgesetzes) seien die Zustände in Ordnung.
5) Mädchen in Uniform (1931), R: Leontine Sagan, Carl Froelich, D: Hertha Thiele, Dorothea Wieck Internatserziehung mit preußischem Drill, um aus den Mädchen „Soldatenmütter“ zu machen, verbotene Homosexualität, nur Frauen spielen mit;
6) Herrenkinder (2010): Doku über die nationalsozialistische Eliteerziehung in sog. Napola-Internaten, R: Eduard Erne, Christian Schneider männliches Pendant zu 5), Fortsetzung in der NS-Zeit
7) Die Unwertigen (2010): Doku über Heimkinder im Übergang von der NS-Zeit zur BRD Hinweis auf die Zweiklassengesellschaft der Heimgeschichte, Ober- und Mittelschicht kamen in Internate, damit Karrieren vorbereitet werden konnten, Unterschichtsangehörige wurden zur Verwertung im Arbeitseinsatz erzogen. Zeitzeugen berichten, dass der Übergang von der NS-Zeit zur Bundesrepublik in den Heimen kaum zu spüren war.
8) Taschengeld (1976) R. Francois Truffaut. (Konnte aus Zeitgründen nicht gezeigt werden) Beispiel einer Kindesherausnahme nach einer Schuluntersuchung, alles wird in aller Öffentlichkeit durchgeführt, Truffaut dreht viele Situationen aus der Perspektive der Kinder.
9) Sie küßten und sie schlugen ihn ( R: Francois Truffaut) Kräftige Ohrfeige als Normalität zur Bestrafung bei den Mahlzeiten.
10) Der Wolfsjunge (1970) R: Francois Truffaut D: Jean-Pierre Cargol, Francois Truffaut, Francoise Seigner Truffaut setzt sich in diesem Film anhand des dokumentierten Falles eines Wolfskindes im 18. Jhd. mit dem Umbruch in der Pädagogik auseinander, er mahnt symbolisch Empathie für die Kinder an, warnt vor Überforderung und Überansprüchen.
11) Bambule (1970) R: Eberhard Itzenplitz, Drehbuch: Ulrike Marie Meinhof. Historisches Dokument, das die Übergangszeit von alter in neue Heimpädagogik zeigt, und die aufgeregte Stimmung, in der das passiert. Bei den Dreharbeiten gab es Streit zwischen Ulrike Meinhof und dem Regisseur. Meinhof hätte sich kräftigere politische Aussagen gewünscht. Der Film wurde damals aufgrund des Untertauchens von U. Meinhof in den Untergrund nicht mehr im Fernsehen gezeigt, erst 1994 beim SWR das erste Mal.
12) Die große Flatter (1979) R: Marianne Lüdcke, D: Richy Müller, Günter Lamprecht, Jochen Schroeder, Hanna Schygulla Drastischer Blick auf das Milieu einer Obdachlosensiedlung, erste Ansätze einer Gemeinwesenarbeit, die sich an den Betroffenen orientiert, wenn auch noch etwas hilflos.
13) Die Flüchtigen; amüsante Schlussszene zur Auflockerung aus der Komödie, in der Pierre Richard mit Hilfe eines Gangsters (Gerard Depardieu) sein zu Unrecht untergebrachtes Kind aus dem Heim befreit.
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