Deutschland Deine Kinder (7)

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Fotos © Evelin Frerk

BERLIN. (hpd) Neben Kindern, die in Heime der DDR eingewiesen wurden, blieben bisher auch andere unbeachtet: Kinder mit Behinderungen, untergebracht in Heilpädagogischen Einrichtungen. Ihnen widmet sich der 7. Teil der Serie. Das Unrecht auch an den behinderten Heimkindern 1949-1975 geschah in unserer Demokratie – nur waren die Kinder dennoch entrechtet.

Im evangelischen Johanna-Helenen-Heim - im Sinne des Soziologen Erving Goffman eine Institution, die sämtliche Lebensäußerungen kontrollierte und einem störungsfreien Betriebsablauf unterwarf -, fand bereits im März 2010 wissenschaftliche Aufklärung für die Zeit 1947-1967 statt.

Und, galt es bisher das Bewusstsein für ebenbürtige Menschenrechte von Behinderten zu schärfen, so begegnete der selbst betroffene Klaus Dickneite dem Vorwurf einer neuen Form: Benennung der Behinderung sei Diskriminierung.

Exklusion oder Inklusion von ehemaligen Heimkindern mit Behinderungen?

Seit dem 19. Januar 2011 liegt der Abschlussbericht des „Runden Tisches Heimerziehung 1949-1975“ dem Bundestag vor – seither warten die Betroffenen auf die Einlösung von Entschädigungen für erlittenes Unrecht. Bisher wurden noch nicht einmal Übergangslösungen für Stützpunkte für ehemalige Heimkinder geschaffen. Der Runde Tisch Heimerziehung gab Empfehlungen für das Entschädigungsverfahren für Betroffene der stationären Kinder- und Jugendhilfe. Behinderte Überlebende der heilpädagogischen Heime wurden jedoch von dem Verfahren ausdrücklich ausgeschlossen - eine Entscheidung, die alarmieren muss.

Die UN-Behindertenrechtskonvention markiert einen Paradigmenwechsel

Die Bundesrepublik Deutschland hat am 26. März 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert. Die UN-Konvention markiert einen Paradigmenwechsel vom medizinischen Modell der Behinderung zum sozialen Modell der Behinderung.

Die Interessenvertreter der Institutionen und die evangelische Theologin Antje Vollmer, die den Runden Tisch Heimerziehung moderiert hat, haben mit ihrer Entscheidung, behinderte ehemalige Heimkinder vom Entschädigungsverfahren auszuschließen, jedoch am alten Modell der „medizinischen“ Klassifizierung von Menschen festgehalten.

Inklusion – Ziel ist ein neuer Zugang zum Komplex Wertschätzung

Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention hat die Bundesrepublik Deutschland die Herausforderung zu einer grundlegenden Haltungsänderung angenommen. Damit hat der Kampf um die Interpretation und Umsetzung begonnen, denn es geht um Interessenkonflikte zwischen denen, die sich die Definitionsmacht anmaßen und denjenigen, die gleichberechtigt sein wollen. Die Konvention verwendet den Begriff „Inklusion“ - also Zugehörigkeit, Einbezogenheit von Behinderten als grundlegendes Menschenrecht. In der offiziellen deutschen Übersetzung wird jedoch der Begriff „Integration“ benutzt – was hereinholen in die herrschende Gesellschaft, die Leitkultur, Anpassung an die Durchschnittsnorm bedeutet. Der Inklusionsansatz will jedoch die Klassifizierung in Behinderte und Nicht-Behinderte aufheben und eine Perspektive auf alle Menschen mit ihren unterschiedlichen Merkmalen eröffnen. Ziel ist ein neuer Zugang zum Komplex Wertschätzung. Nicht neue „Institutionen“ sollen geschaffen werden, sondern verbesserte Strukturen. (1)

Von der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ist Deutschland noch weit entfernt. Dies wurde an der Entscheidung des Runden Tisches Heimerziehung, der seine Arbeit im Dezember 2010 beendet hat, deutlich. Die betroffenen ehemaligen Heimkinder, die in Behindertenheimen untergebracht waren, müssen nun gesondert für ihr Recht auf Entschädigung und Rehabilitation kämpfen.

Der Umgang mit den Opfern spiegelt die Haltung zu den Verbrechen der Täter

Das Bewusstsein für ebenbürtige Menschenrechte von Behinderten ist in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland keinesfalls selbstverständlich, dies wird am langjährigen Kampf um die Aufhebung des NS-Gesetzes zur „Verhinderung erbkranken Nachwuchses“ und der Anerkennung und Entschädigung der Überlebenden der NS-Eugenik deutlich. Der Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Manfred Kappeler konstatiert hierzu: „Der Umgang mit den Opfern spiegelt die Haltung zu den Verbrechen der Täter.“ (2) Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und andere außerparlamentarischen Gruppen mussten jahrelangen beharrlichen Druck ausüben (3), bis das NS-Erbgesundheitsgesetz endlich für nichtig erklärt wurde. (4)

Das NS-Erbgesundheitsgesetz und der lange Weg zur Rehabilitation

Eine Auswahl der Stationen auf dem Weg zur Gesetzesänderung zeigt, wie schwierig der Bewusstseinswandel zu erreichen war:

„Im Jahre 1974 setzte der Deutsche Bundestag das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses mit dem Fünften Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 18. Juni 1974 außer Kraft, soweit es als Bundesrecht fortgalt. Es wurde ausdrücklich nicht aufgehoben. Damit war es aber weiterhin rechtlich existent. Denn das Inkrafttreten und Außerkrafttreten eines verkündeten Gesetzes ist Teil der normativen Regelung, nicht des Gesetzgebungsverfahrens. Obwohl ein Gesetz außer Kraft getreten ist, existiert es noch: es entfaltet nur keine Wirksamkeit mehr. Die rechtliche Situation ist mit der vergleichbar, die bei der Verkündung beim Inkrafttreten von Gesetzen gilt.
[...]
Am 25. August 1998 schließlich verabschiedete der Deutsche Bundestag das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege und von Sterilisationsentscheidungen der ehemaligen Erbgesundheitsgerichte. Die eine Unfruchtbarmachung anordnenden und auch rechtskräftigen Beschlüsse, die von den Gerichten aufgrund des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses erlassen worden waren, wurden aufgehoben. Das Gesetz selbst blieb außer Kraft gesetzt, es wurde nicht aufgehoben.
(5) [...]
Der Sechzehnte Deutsche Bundestag ist schließlich, wenn auch sehr spät, seiner Verantwortung gerecht geworden. In seiner 100. Sitzung am 24. Mai 2007 hat er ausdrücklich ausgeführt, dass das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses niemals Bestandteil der materiellen Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland geworden ist. Der Bundestag stellte ausdrücklich fest, dass das Gesetz in der Bundesrepublik Deutschland nie gegolten hat. Damit wurde der von ihm selbst gesetzte Rechtsschein beseitigt und die Auffassung der Rechtsprechung widerlegt.“
[...]
Somit hat der Deutsche Bundestag bekräftigt, dass die Opfer der Zwangssterilisierungsmaßnahmen aus rassischen Gründen verfolgt wurden und damit Verfolgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes sind. Opfer sind deshalb ausdrücklich als solche anzuerkennen und entsprechend zu entschädigen.“ (6)

Hier wird deutlich, wie mühsam und langwierig der Weg für Überlebende des NS-Terrorregimes war. Das Unrecht, das ehemalige behinderte Heimkinder 1949-1975 erlebt haben, geschah jedoch in einer Demokratie – nur waren die Kinder dennoch entrechtet.