Man weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll

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Buchtitel: Edition Temmen

(hpd) Am 13. November 1989, nur vier Tage nach dem Fall der Mauer, erklärte der Chef des Ministeriums für Staatssicherheit Erich Mielke den Menschen in der DDR: „Ich liebe – ich liebe doch alle – alle Menschen!“ Jeder weiß, was mit Honecker, Mielke, Stoph und Konsorten geschehen ist. Zumeist wurden sie für nicht verhandlungsfähig erklärt und erfuhren Haftverschonung. Doch was ist mit den anderen – den Stasi-Mitarbeitern, Parteifunktionären, Mauerschützen, Richtern und IM’s?

In einem ebenso anschaulich wie verständlich geschriebenen Buch hat die Politikwissenschaftlerin Lena Gürtler jetzt die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht zusammen gefasst.

In „Vergangenheit im Spiegel der Justiz“ zeigt sie an Hand der Untersuchungsverfahren in Mecklenburg-Vorpommern exemplarisch die Schwierigkeiten auf, die es mit sich bringt, wenn ein Rechtsstaat wie die BRD einem Unrechtsstaat wie der DDR den Prozess machen will.

Das Haupthindernis besteht darin, dass ein Rechtsstaat an das „Rückwirkungsverbot“ gebunden ist. Das bedeutet, er kann nur solche Taten bestrafen, die auch zur Zeit ihrer Begehung mit Strafe bedroht waren.

Damals legal kann heute nicht illegal sein...

Für die Opfer des SED-Regimes heißt dies beispielsweise, dass sie die Menschen, von den sie denunziert worden sind, nicht strafrechtlich verfolgen lassen können. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann eine Tat, die damals legal war, nicht plötzlich für illegal erklärt werden.

Lena Gürtler zeigt dies etwa am Beispiel des Mitarbeiters einer Buchhandlung auf. Als er einer befreundeten Kollegin von einem gescheiterten Fluchtversuch aus der DDR berichtete, gab sie dies an ihre Chefin weiter, die ihn sogleich dem Ministerium für Staatssicherheit meldete. Auf Grund dieser Denunziation landete er in Untersuchungshaft und wurde wegen „versuchter Republikflucht“ zu einem Jahr und sechs Monaten Gefängnis verurteilt.

Als er im Jahre 1995 Anzeige gegen die beiden ehemaligen Kolleginnen erstattete, musste er feststellen, dass man nichts gegen sie unternehmen könne, denn nach DDR-Recht sei es schließlich strafbar gewesen, einen Fluchtversuch nicht anzuzeigen.

Es bedarf keiner großen Phantasie, um sich vorstellen zu können, dass sich dieser Mann nach der Wende vermutlich genauso ohnmächtig vorgekommen sein muss wie vor der Wende.

Doch Opfer des SED-Regimes erlebten nicht nur Ohnmacht. Mitunter wurden sie geradezu verhöhnt.

So mussten sich zwei Männer, die wegen vollendeter Republikflucht zu drei Jahren und vier Monaten Haft verurteilt wurden, aber nach gut einem Jahr von der BRD freigekauft worden waren, eine moralische Standpauke anhören. Im Gerichtssaal warf ihnen ein Verteidiger vor, wie sie, die doch von der Bundesrepublik freigekauft worden seien, es wagen könnten, Anzeige zu erstatten und Steuergelder zu verschwenden:

„Dieser Rechtsstreit“, erklärte er, „sprengt den Rahmen des Erträglichen.“ Es sei zu „bedauern, dass es die Bundesregierung jemals für richtig befunden hat, Menschen dieser Denkungsart freigekauft zu haben.“ Sie, die „dank der Opferbereitschaft der Bundesbürger – die Möglichkeiten der westlichen Welt wirtschaftlich und ideell vorzeitig und – wie ihr Verhalten zeigt – unverdient genossen haben, versuchen heute, die wirtschaftliche Existenz eines DDR-Bürgers zu vernichten, der nichts anderes getan hat, als seine damalige Pflicht zu erfüllen.“

Was war geschehen? Die beiden Männer hatten eine Ostsee-Urlaubsreise auf dem Kreuzfahrtschiff „Völkerfreundschaft“ zu einer Flucht benutzen wollen. Als sich das Schiff auf dänischem Hoheitsgebiet befand, sprangen sie ins Meer und suchten sich an die Küste zu retten. Der Kapitän der „Völkerfreundschaft“ ließ sie jedoch durch zwei Motorboote wieder einfangen. Obgleich dies zu einer Verurteilung von mehr als drei Jahren führte, wurde der Kapitän doch freigesprochen. Die Richter des Bundesgerichtshofes erklärten, dass dem Kapitän „die Rettung von Menschenleben auf See“ zwingend vorgeschrieben sei. Lena Gürtler beschreibt dieses Verfahren denn auch mit der gebotenen Ironie als eine „Rettung wider Willen“.

"Wirtschaftsaufbau" der DDR gestört?

Bei der Lektüre dieses Buches weiß man manchmal wirklich nicht, ob man lachen oder weinen soll. So etwa, wenn einer Frau der Ausreiseantrag im Sinne der Familienzusammenführung abgelehnt wird, weil sie als Beschäftigte in der Abteilung Planung eines HO-Kreisbetriebes als „Geheimnisträgerin“ gilt. Oder wenn eine Ostberlinerin Strümpfe in Westberlin verkauft, um von dem Erlös Medikamente für ihr erkranktes Kind zu erwerben, die es im Osten nicht gibt, und dafür zu drei Jahren Haft wegen eines Wirtschaftsverbrechens verurteilt wird. Im damaligen Urteil des Schweriner Landgerichts hieß es, sie habe durch ihr Handeln den „Wirtschaftaufbau“ der DDR gestört.

In diesen und vielen weiteren Fällen gelangte der Bundesgerichtshof regelmäßig zu dem Urteil, dass die DDR-Prozesse zwar nicht rechtsstaatlich waren, aber keine schwere Menschenrechtsverletzung darstellten.

Auch wenn sich manchem Leser bei der Lektüre dieses Buches die Nackenhaare aufstellen dürften, kann man ihm doch nur eine weite Verbreitung wünschen. Vor allem sollte man es auch Ethik-Lehrern empfehlen. Denn dieses Buch bildet eine ausgezeichnete Grundlage für eine Diskussion der Menschenrechte und der Rechtstaatlichkeit.

Edgar Dahl