Wissenschaft und NS-Ideologie

(hpd) Der Historiker Horst Junginger untersucht die Bemühungen zur pseudowissenschaftlichen Legitimation der antisemitischen Politik des Hitler-Regimes am Beispiel der Universität Tübingen. Die Arbeit beeindruckt durch ihre Faktenfülle, die aber mitunter das analytische Interesse am besonderen Aspekt der Wissenschaftspolitik im Nationalsozialismus überlagert.

Die Nationalsozialisten beanspruchten mit ihrem rassistisch begründeten Antisemitismus, eine naturwissenschaftlich legitimierte Form der Judenfeindschaft zu vertreten. Gleichwohl konnten sie noch nicht einmal innerhalb des Rahmens ihrer eigenen Ideologie dafür Kriterien benennen. Vielmehr definierte man „den Juden“ über die Religionszugehörigkeit seiner Eltern oder Großeltern. Umso notwendiger wurde es aus ideologieinterner Sicht, für die eigene Politik gegenüber den Angehörigen der Minderheit scheinbar wissenschaftliche Belege anführen zu können. Diesen Bemühungen widmet sich die umfangreiche Studie „Die Verwissenschaftlichung der ‚Judenfrage’ im Nationalsozialismus“ des Historikers und Religionswissenschaftlers Horst Junginger. Nach ihr „gehörte eine wissenschaftlich Erklärung für das ‚Judenproblem’ zu den unabdingbaren Voraussetzungen, um den Ausschluss einer ganzen Menschengruppe aus einem modernen Staatswesen und einer kulturell hoch stehenden Gesellschaft im 20 Jahrhundert rechtfertigen zu können“ (S. 6).

Symbiotische Zusammenhänge

Bevor der Autor aber auf diese Thematik im engeren Sinne eingeht, betont er die innere Verbundenheit des religiösen Antijudaismus und des rassistischen Antisemitismus, könne doch keineswegs von einem antagonistischen Verhältnis ausgegangen werden. Vielmehr bestehe ein enger symbiotischer Zusammenhang, beruhe die antisemitische Mythenbildung doch auf einer Verbindung von alten religiösen und neuen gegenwartsbezogenen Motiven. Beide Formen der Judenfeindschaft miteinander zu verbinden, sei das Hauptanliegen der sich nach 1933 herausbildenden NS-„Judenforschung“ gewesen. Als deren Zentrum gilt Junginger die Universität Tübingen, wo 1936 ein erster Lehrauftrag für das Studium des Judentums mit einem antisemitischen Charakter verliehen wurde und dessen Inhaber 1942 die erste entsprechende Professur für dieses „Lehrgebiet“ erhielt. Wie es zu dieser Entwicklung im Kontext der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik kam, will die Arbeit des Autors mit zeitlichen Rückgriffen bis in die Gründungszeit 1477 zurück darstellen.

Nachdem die antisemitische Geschichte dieser Universität bis Ende der Weimarer Republik ausgebreitet wurde, steht die Neuausrichtung von deren Beschäftigung mit der „Judenfrage“ zur Zeit des Nationalsozialismus im Zentrum. Dabei gingen „Elemente persönlicher und akademischer Judenfeindschaft und tief in die Strukturen der Gesellschaft eingegrabene antisemitische Verhaltensmuster eine Verbindung ein. Es handelte sich hier um weit mehr als um einen privaten oder im Medium der Wissenschaft artikulierten Judenhass, sondern um eine neue Form des wissenschaftlichen Antisemitismus ...“ (S. 217). Dies macht der Autor anhand einer Fülle von Publikationen deutlich, welche zur Legitimation der antisemitischen Politik dienten, denn: „Das wichtigste Kennzeichen der nationalsozialistischen Judenforschung war ihre strukturelle Anwendungsorientiertheit. Ohne den Antisemitismus des Dritten Reiches hätte sie nicht existiert und ohne den Anspruch einen Beitrag zur Lösung des Judenproblems zu leisten, wäre sie ohne Sinn und Ziel gewesen“ (S. 221).

Junginger belegt diese und andere Aspekte der „Verwissenschaftlichung der ‚Judenfrage’“ direkt aus den historischen Quellen schöpfend und bereichert dadurch das Wissen um die deutsche Wissenschaftsgeschichte während des Nationalsozialismus. In diesem Kontext weist er auch darauf hin, dass der Tübinger Neutestamentaler Gerhard Kittel bereits im Juni 1933 ein Gedankenspiel zur „Ausrottung des Judentums“ (S. 162) publizierte. Bei all diesen Ausführungen verliert sich der Autor aber all zu häufig in bestimmten Details, was bei einer geschichtswissenschaftlichen Habilitationsschrift verzeihlich ist, aber hier häufig auch das analytisch interessante in der Faktenfülle untergehen lässt. Verstärkt wird dieser Effekt noch durch das Fehlen einer stärkeren Untergliederung des Textes. Auch wäre der häufigere Blick über Tübingen hinaus noch wünschenswert gewesen. Zu recht sieht der Autor aber in der „Verwissenschaftlichung der ‚Judenfrage’ im Nationalsozialismus“ ein Mittel zur pseudo-wissenschaftlichen Legitimation der Judenverfolgung und –vernichtung.

Armin Pfahl-Traughber

Horst Junginger, Die Verwissenschaftlichung der „Judenfrage“ im Nationalsozialismus, Darmstadt 2011 (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), 480 S., 59,90 €