WÜRZBURG. Eine europäische Forschergruppe um den Religionspädagogen Hans-Georg Ziebertz hat den zweiten Band einer empirischen Jugendstudie
vorgelegt, die in zehn Ländern Europas, der Türkei und Israel durchgeführt wurde: „Youth in Europe II."
Der Titel klingt sehr allgemeingültig und so ist die Überraschung recht groß, dass gar nicht „die Jugend" untersucht wurde - je nach Definition die 14 bis 18 / 21-jährigen - sondern (auf Deutschland bezogen) eine Gruppe, die ausschließlich aus 17-18 Jährigen besteht, die eine 11. Klasse der Gymnasien oder einer Gesamtschule besuchen und in „regionalen Zentren" wohnen, d.h. nicht auf dem Land bzw. einer Kleinstadt leben und nicht in einer Großstadt. Sieht man sich dann noch einige Hintergrundsvariablen an, so ist die erste Irritation noch größer. 78 % der Befragten gehören der religiösen Gemeinschaft einer Kirche an und davon sind wiederum 63 % Katholiken und 31 % lutherische Protestanten.
Die Begründung für diese - unter Repräsentativitätsgesichtspunkten völlig untaugliche - Auswahl ist jedoch bemerkenswert. Sie lautet: „Die Schüler, die an der Befragung teilnahmen, waren im vorletzten Jahr ihrer Schulzeit, die nach dem Abitur berechtigt sein werden, an der Universität zu studieren. Diese Gruppe ist sicher nicht repräsentativ für junge Menschen insgesamt. Der Grund für diese Auswahl beruhte auf dem Wunsch, die Sichtweisen der zukünftigen Meinungsbildner zu erfassen. Nach Beendigung ihrer Studien an der Universität werden diese jungen Leute mit großer Wahrscheinlichkeit ein Teil der am besten Ausgebildeten und gut bezahlten Mitglieder der Gesellschaft sein. Was immer sie tun werden, sie werden wahrscheinlich sozialen und kulturellen Einfluss haben und wichtige Positionen besetzen. Deshalb war unsere Frage, was bedeutete diesen Befragten die Religion?"
Nun wird ‚ein Schuh' daraus. Der Untersuchungsleiter Ziebertz ist Lehrstuhlinhaber für Religionspädagogik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Würzburg und das Vorwort des Studie stammt von Kardinal Josip Bozanic (Zagreb), dem Vizepräsidenten der Europäischen katholischen Bischofskonferenz CCEE.
Die Untersuchung hat offensichtlich den Zweck, die religiösen Einstellungen der kritischen Masse der zukünftigen oberen Mittelschicht des Katholizismus zu klären – oder im Hinblick auf den Nachwuchs: wie steht es um die Zukunft der Religion und der Kirchen in Deutschland und Europa? (Auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die das Projekt mitfinanzierte, erschien diese Frage als förderungswürdig.)
„Religiosität" wird dabei auf einer Mikro-Ebene betrachtet (Gottesdienstbesuch, religiöse Erfahrungen, religiöse Weltsicht), einer Meso-Ebene (Rolle der Kirchen im Leben, religiöse Erziehung) und einer Makro-Ebenen (Religion und Pluralismus, Religion und Moderne, Beziehungen zwischen den Religionen).
Aus der Vielzahl der Ergebnisse seinen einige referiert.
Die Studie zeigt in den Ländern große Unterschiede. Die stärkste Religiosität haben muslimische Befragte aus der Türkei, gefolgt von Jugendlichen jüdischen Glaubens in Israel. Aus der Gruppe der traditionell christlichen Länder folgen mit kleinem Abstand Jugendliche aus Polen, Kroatien und schließlich Irland. Jugendliche aus protestantischen Ländern - etwa Finnland und Schweden - gehören wie Jugendliche aus Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden zu den schwach religiösen.
Für den Würzburger Professor Ziebertz bestätigen diese Befunde frühere Untersuchungen: "Islam und Judentum haben nach wie vor einen großen Einfluss auf junge Menschen, während die Bindungskraft des Christentums in Europa vergleichsweise schwach ist."
Richtet man den Blick nur auf die europäischen Staaten, so ist die Religiosität in den traditionell katholischen Ländern (Polen, Kroatien und Irland) höher als in den traditionell protestantischen Ländern (Finnland, Schweden). In den meisten Untersuchungsbereichen haben Jugendliche aus den Niederlanden die geringste Religiosität, Jugendliche aus Deutschland rangieren im unteren Drittel.
In den zusammenfassen Kapitelüberschriften zeigen sich die generellen Befunde.
- Deutschland: Glauben an die Idee einer höheren Realität
- England und Wales: Offener Theismus und Materialismus
- Polen: Religiöse Individualisierung unter der Jugend
- Niederlande: Eine sehr eigentümliche religiöse Landschaft
- Schweden: Religiöse Zugehörigkeiten und Lebensriten ohne sie
- Finnland: Individualistische Religiosität innerhalb der Traditionen
- Kroatien: Religiös und pragmatisch
- Israel: Traditionelle Inseln in einem Ozean der Moderne
- Türkei: Tiefer islamische Glaube in einem säkularen Staat.
Feststellungen für Deutschland im Einzelnen
78 % der befragten Schüler sind getauft und 73 % haben am Konfirmations- bzw. Kommunionsunterricht teilgenommen. Diese äußerlichen Tatsachen haben aber keine Bedeutung für die lebendige Praxis. Nur 9 % der Befragten gehen regelmäßig in den Gottesdienst, während 61 % nur ein- bis zweimal im Jahr in die Kirche gehen. Diese Zahlen liegen deutlich unterhalb der katholischen Teilnehmer an Gottesdiensten insgesamt. Der Rückgang – insbesondere der katholischen Gottesdienstteilnehmer – wird sich also voraussichtlich auch weiterhin fortsetzen.
Einer der Gründe dafür dürfte die geringe formale religiöse Sozialisation im Eltern-haus sein. Obwohl die befragten Jugendlichen 46 % der Väter und 61 % der Mütter als Gottgläubig beschreiben, sind es nur 28 % der Väter und 36 % der Mütter, die „sehr" oder „ziemlich" Wert darauf gelegt haben, dass die Kinder ihren Glauben übernehmen. Und nur 3 % der Väter, wie 4 % der Mütter, haben eindeutig die Teilnahme am Gottesdienst gefordert.
Darin bestätigt sich der Befund der evangelischen Kirche, dass die meisten Jugendlichen erst in der Schule mit Religion und Kirche in Berührung kommen - und deshalb die Forderung einer Intensivierung des schulischen Religionsunterrichts erhoben hat und die Notwendigkeit eines eigenen ordentlichen Schulfaches betont.).
In der europäischen Jugendstudie zeigt sich die weiter gehende Entfernung von der Kirche auch im Interesse an den Kasualien des kirchlichen Lebens: Nur 29 % der Befragten betrachten eine kirchliche Trauung für sich als „sehr wichtig", ebenso wie nur 31 % eine Taufe der Kinder als „sehr wichtig" bewerten. Bei der Trauer um einen verstorbenen Verwandten oder Freund wünschen jedoch 43 % der Jugendlichen eine religiöse Feier.
Ebenso betrachten nur 2 % der Befragten die Bibel als „Gottes Wort", das wortwörtlich zu verstehen ist. Noch 50 % sind der Meinung, dass die Bibel zwar göttlich inspiriert, aber von Menschen geschrieben wurde und deshalb immer wieder neu interpretiert werden müsse.
Diese Unterschiede zeigen sich auch in der Bewertung religiöser Erfahrungen, indem rund 80 % der Befragten die Authentizität von religiösen Erlebnissen und Erfahrungen gläubiger Menschen akzeptieren. Geht es jedoch um den Anspruch auf die eigene Weltorientierung wird eine deutliche Grenze gezogen. Der Aussage „Viele Menschen sagen, dass eine Leben ohne Gott keinen Sinn habe" wird nur von 35 % der Befragten als authentisch angesehen.
Weltsichten
In einer aus mehreren Aussagen zusammengesetzten „Weltsicht" findet die stärkste Zustimmung der „Pragmatismus":
- Der Sinn des Lebens hängt nicht von einem Gott oder einer höheren Realität ab, sondern nur von mir selbst.
- Für mich besteht der Sinn des Lebens darin, das Beste daraus zu machen.
- Jede Person muss für sich selbst entscheiden, was für ihn oder sie der Sinn des Lebens ist.
An zweiter Stelle findet ein „Universalismus" Zustimmung:
- Einem Gott wurden durch die Religionen verschiedene Namen gegeben.
- Alle Religionen beziehen sich auf den gleichen Gott.
- Religionen sind nur verschiedene Wege zu dem gleichen Gott.
Dieser Weltsicht folgt mit dritter Wichtigkeit der „Metatheismus"
- Es gibt eine höhere Macht, die wir nicht mit Worten beschreiben können.
- Gott oder göttliches lässt sich nicht in Worte fassen.
- Was Gott oder göttlich ist, liegt außerhalb unseres Begriffsvermögens.
An vierter Stelle der Weltsichten wir dem „Naturalismus" zugestimmt:
- Die einzig höhere Realität wird durch die Kräfte der Natur dargestellt.
- Letztendlich wird unser Leben durch Naturgesetze bestimmt.
- Das Leben ist Teil der Entwicklung der Natur.
Unter den als „positiv" angesehenen Weltsichten befindet sich schließlich noch der „Agnostizismus":
- Es ist eine große Frage ob Gott existiert oder nicht.
- Ich weiß nicht, ob es einen Gott oder ein höheres Wesen gibt.
- Es gibt ernsthafte Zweifel an der Existenz Gottes.
Es ist dann auch nicht überraschend, dass von den - oben beschriebenen Befragten - „Nihilismus", „Atheismus", „Kritizismus" aber auch „Christlich" - im Sinne von Gott der Bibel / Das Königreich Gottes wird kommen / Es gibt einen Gott, der sich in Christus offenbart hat / Es gibt einen Gott, der sich um Jeden persönlich kümmert - nicht als positive Weltsicht bewertet wird.
Zusammenfassung
Der Religionspädagoge Ziebertz fasst die Ergebnisse für Deutschland (und Europa) dann auch so zusammen: "Die bevorzugte Gottesvorstellung europäischer Jugendlicher ist der Deismus." Der Deismus repräsentiere ein Gottesbild, bei dem Gott eine ferne und abstrakte Kraft sei. "Das ist mehrheitlich nicht der Gott, dessen Menschwerdung Christen an Weihnachten feiern."
Für Ziebertz handelt es sich mehr um eine Idee, eine Art Philosophie, um sich die Welt zu erklären, weniger jedoch um einen Glauben in traditionellem Verständnis. Die befragten Jugendlichen lehnen mehrheitlich die Vorstellung ab, dass eine Religion, und zwar die eigene, anderen Religionen überlegen sei. (Eine Ausnahme sind junge Katholiken in Polen, jüdische Befragte aus Israel und vor allem muslimische Jugendliche aus der Türkei.)
In dieser Hinsicht besteht eine große Übereinstimmung der Feststellungen hinsichtlich der Befunde der Sinus-Studie zu den „religiösen und kirchlichen Milieus" (des Katholizismus). Sie wurden insgesamt als sehr kritisch für die Kirche wahrgenommen und nur wenige begrüßten den Abschied von der Volkskirche.
Der zentrale Befund dieser Milieustudie (aus dem Jahr 2005) war u.a., dass die katholische Kirche in den wichtigsten drei jugendlichen Milieus der deutschen Gesellschaft kaum noch vorhanden ist und sie somit die Bezeichnung „Volkskirche" eigentlich nicht mehr zu Recht verwende.
Soweit würden die katholischen Wissenschaftler der europäischen Jugendstudie sicherlich nicht gehen, aber man kann es auch diplomatisch ausdrücken: "Vielleicht trägt die Studie dazu bei", meint der Würzburger Leiter der Studie, "dass die Kirchen zu einer realistischeren Einschätzung der Situation kommen. Sie werden sich ändern müssen."
Für jeden, der sich genauer mit der Zukunft der Kirchen und der Religion in Europa beschäftigen will, ist diese Studie Pflichtlektüre.
Dass sie auf Englisch geschrieben wurde, sollte kein Hinderungsgrund sein; sie ist auch mit mittleren Englischkenntnissen gut zu lesen.
Carsten Frerk
Hans-Georg Ziebertz und William K Kay (Hrsg.): Youth in Europe II. An international empirical Study about Religiosity. Münster 2006 (LIT-Verlag), 376 S., 29.90 EUR, ISBN 3-8258-9941-1