Extreme Gewalt und soziale Krisen

(hpd) Der Historiker Christian Gerlach untersucht in seiner Studie fünf Fälle von Massakern, von den Armenier-Morden 1915-1923 bis zu den Massenmorden in Bangladesch 1971-1977, wobei es ihm hauptsächlich um die Entwicklungen in den Gesellschaften und nicht primär um die Handlungen der Staaten geht.

Gerade durch diese geänderte Perspektive stellt sein Werk einen innovativen Schritt in den Forschungen zu Massakern und Völkermorden dar, stellt es doch solche Ereignisse in den Kontext sozialer Umbrüche.

Das 20. Jahrhundert war einerseits von einer weltweiten Ausweitung der Demokratieentwicklung, andererseits aber auch von einer erschreckenden Intensivierung von Massakern geprägt. Die Morde an den Armeniern während des Ersten und an den Juden während des Zweiten Weltkriegs sind dafür nur die bekanntesten Beispiele. Derartige Ereignisse bezeichnet man meist als „Genozid“ oder „Völkermord“ und untersucht sie im Lichte staatlichen Handelns gegen eine ethnische oder soziale Minderheit. Die damit einhergehende einseitige Perspektive ignoriert aber, dass es auch aus den jeweiligen Gesellschaften heraus eine Beteiligung an und eine Unterstützung von Massenmorden gab. Darauf will der Historiker Christian Gerlach, der an der Universität Bern den Lehrstuhl für Zeitgeschichte in globaler Perspektive innehat, in seinem Buch „Extrem gewalttätige Gesellschaften. Massengewalt im 20. Jahrhundert“ aufmerksam machen. Es ergänzt die dominierende politische durch eine soziale Geschichte der Massengewalt.

Der Autor konzentriert sich dabei auf die „Prozesse in den betreffenden Gesellschaften, ohne dabei das Regierungshandeln zu ignorieren“ (S. 16). Er will die Entwicklungen beschreiben, welche zu einer Krise der Gesellschaft gehören und in Massengewalt gegen Minderheiten umschlagen. Den damit gemeinten Ansatz „extrem gewalttätige Gesellschaften“ nutzt Gerlach danach in fünf Fallstudien, die wiederum in zwei Gruppen eingeteilt wurden: Zunächst geht es um den partizipatorischen Charakter von Massengewalt, wobei die Frage nach den Ursachen für die Beteiligung von Menschen an den Gewaltakten und den Folgen für die Opfer erkenntnisleitend ist. Die Massenmorde an den Armeniern 1915-1923 und in Indonesien 1965/66 bilden dafür die Beispiele. Die letztgenannten Untaten, die im deutschsprachigen Raum wenig bekannt sind, schildert Gerlach dabei ausführlich auch auf Basis von neuen Quellenzugängen. Bei den Massakern an den Armeniern weist er auf die materiellen Interessen der Täter hin, gab es dabei doch „viel zu gewinnen“ (S. 124).

Die folgenden drei Fallstudien konzentrieren sich auf die soziale Krise, die eine extrem gewalttätige Gesellschaft durchmacht, und erörtern darauf bezogene Zusammenhänge. In ihnen geht es um Hungersnot und Massenmord in Bangladesch 1971-1977, ganz allgemein die Gewalt im Kontext von Guerillabekämpfung und Umsiedlungen sowie die Zeit der deutschen Besatzung in Griechenland zwischen 1941 und 1944. Gegen Ende des Buchs zieht Gerlach Bilanz, betont dabei aber gleich, dass er lediglich historische Muster aufzeigen und keine allumfassende Erklärung liefern wollte. Vielmehr plädiert der Autor dafür, „den Prozesscharakter sowohl gesellschaftlicher Krisen als auch von Massengewalt zu berücksichtigen“ (S. 355). Derart ausgeprägte Formen der Gewaltanwendung hingen mit sehr vielfältigen Aspekten gesellschaftlicher Mobilität zusammen. So sei es in den untersuchten Gesellschaften zu Umbrüchen bei der Zusammensetzung der Eliten, aber auch zur Transformation nicht-industrialisierter Regionen gekommen.

Doch ob durch den Hinweis auf derartige Gesichtspunkte Massenmorde wie etwa die der Nationalsozialisten, Stalinisten oder Roten Khmer, die alle drei von Gerlach merkwürdigerweise nicht behandelt werden, analysier- und erklärbar sind, kann mit guten Gründen bezweifelt werden. Gleichwohl würde die Fixierung auf diesen durchaus kritikwürdigen Gesichtspunkt von Gerlachs Studie dem hohen Wert seines Werkes nicht gerecht. Er darf auf zwei unterschiedlichen Ebenen gesehen werden: Einerseits ruft der Autor weitgehend vergessene Massenmorde wie den in Indonesien 1965/66 ins Gedächtnis zurück und liefert auch zu den anderen Fallstudien neue Erkenntnisse durch Quellenstudien. Unklar bleibt gleichwohl, warum er diese Beispiele und nicht andere Massaker ausgewählt hat. Andererseits ist die Perspektive des Historikers, die eben auf die Entwicklungen in den Gesellschaften und nicht nur auf Handlungen des Staates gerichtet ist, ein kaum zu unterschätzender konstruktiver Beitrag zu Analyse und Verständnis von Massenmorden.

Armin Pfahl-Traughber

 

Christian Gerlach, Extrem gewalttätige Gesellschaften. Massengewalt im 20. Jahrhundert. Aus dem Amerikanischen von Kurt Baudisch, München 2011 (Deutsche Verlags-Anstalt), 576 S., 39,99 €