Wissenschaft kann moralische Fragen beantworten

(hpd) In seiner Rede im Bundestag hat Papst Benedikt XVI. darauf abgehoben, dass die Naturwissenschaft nur das Sein ergründen kann, aber nicht das Sollen. „Ein positivistischer Naturbegriff, der die Natur rein funktional versteht, so wie die Naturwissenschaft sie erklärt, kann keine Brücke zu Ethos und Recht herstellen.... Zwischen dem Sein und dem Sollen besteht ein unüberbrückbarer Graben“. Sam Harris zeigt in The Moral Landscape, dass genau das Gegenteil richtig ist.

Sam Harris ist ein amerikanischer Neurowissenschaftler und Philosoph. Bekannt geworden ist er einer breiten Öffentlichkeit vor allem durch seine religionskritischen Bücher „Das Ende des Glaubens“ (2001) und „Brief an ein christliches Land“ (2006). Er gilt als einer der Begründer des so genannten Neuen Atheismus. Obgleich The Moral Landscape bereits vor einem Jahr erschienen ist, birgt es wichtige Argumente bezüglich der päpstlichen Redeinhalte, die aktueller sind denn je.

In „The Moral Landscape: How Science Can Determine Human Values“, untersucht Harris die Frage, ob es möglich ist, mit wissenschaftlichen Methoden ethische Werte zu finden und zu begründen. Kernsatz ist die Aussage: „Werte sind Fakten über das Wohlbefinden von bewusst denkenden Lebewesen“. Ein ganz wichtiger Punkt ist dabei, dass er von Lebewesen spricht und nicht speziell von Menschen. Damit gesteht er auch den höher entwickelten Tieren ein gewisses Maß an Werten zu. Dieses Maß muss sich an der Leidensfähigkeit bzw. an der Stufe des Bewusstseins des jeweiligen Lebewesens orientieren.

Wir sind weder im Besitz von absoluten Werten noch von absoluten Wahrheiten, aber wir können recht genau sagen, welche Werte besser sind und welche schlechter und dies können wir im Zweifelsfall mit objektiven, wissenschaftlichen Methoden erreichen. Entscheidend sind dabei also nicht irgendwelche transzendente oder esoterische Überlegungen, sondern die Konsequenzen solcher Werte auf der Ebene der Erfahrung im Diesseits (Konsequentialismus) und damit die Frage, welchen Einfluss Werte auf unser Wohlbefinden bzw. unser Leid haben. Diese Dinge sind weitgehend unabhängig von Kultur und Religion. Zu ethischen Fragen gibt es falsche und richtige Antworten, genauso wie es falsche und richtige Antworten zu Fragen der Physik gibt. Damit zeigt Harris, dass der so genannte Naturalistische Fehlschluss selbst ein Fehlschluss ist. Die Entkopplung der Moral von menschlichem Leid hat in der Geschichte der Menschheit zu gewaltigen Schäden geführt. Harris spricht von einer moralischen Landschaft. Wir können die Gipfel dieser Landschaft erkennen und wir können sie erreichen.

Das Gehirn unterscheidet Fakten und Werte nicht

Gestützt wird seine Position durch die moderne Hirnforschung. Wir wissen heute, dass es eine klare Beziehung zwischen den neuronalen Zuständen im Gehirn und unseren Gedanken gibt. Neuronale Zustände können mit naturwissenschaftlichen Methoden erforscht werden. Subjektive Erlebnisse können somit zu einem gewissen Grad schon heute objektiviert werden. Weiterhin hat man durch die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) herausgefunden, dass der Glaube an Fakten und der an Werte in den gleichen Regionen im Hirn stattfindet. Eine klare Unterscheidung zwischen Fakten und Werten gibt es im Gehirn nicht. So werden die Erkenntnisse wie „die Sonne ist ein Stern“ und „Grausamkeit ist falsch“ gleichrangig erarbeitet. Auch konnte festgestellt werden, dass Fairness das Belohnungszentrum aktiviert. Der übliche Gegensatz zwischen eigennütziger und uneigennütziger Motivation existiert offenbar nicht in unserem Gehirn.

Mit Altruismus bzw. Nächstenliebe hat uns die Evolution ausgestattet. Sie ist keine Errungenschaft des christlichen Glaubens. Experimente haben gezeigt, dass auch Menschenaffen über ein gewisses Maß an Mitgefühl und Fairness verfügen und das, obwohl sie nicht in der Bibel lesen oder Mitglied einer christlichen Kirche sind.

In dem folgenden Video erklärt Harris die Grundlagen seiner Position:

 

 

Sein Ausblick in die Zukunft ist, dass wir am Beginn einer Zeit stehen, in der wir unsere weitere Evolution selbst in die Hand nehmen können. Sollten wir dieses tun und wenn ja, in welcher Art und Weise? „Nur das wissenschaftliche Verständnis der Möglichkeiten menschlichen Wohlbefindens könnte uns leiten… Die Neurowissenschaft von Moral und sozialen Gefühlen steht erst an ihrem Anfang, aber es ist keine Frage, dass sie eines Tages moralisch relevante Einsichten in die materiellen Ursachen unseres Glücks und unseres Leids liefern wird“.

Bernd Vowinkel

Sam Harris: The Moral Landscape: How Science Can Determine Human Values. Simon + Schuster Inc.; Trade Paperback (Oktober 2010), 291 Seiten. ISBN-10: 1451612788; ISBN-13: 978-1451612783