Kuckuckskinder im Lichte der Evolution

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Foto Per Harald Olsen/wikipedia

ASCHAFFENBURG. (hpd) Vergangene Woche veröffentlichte der Bundesgerichtshof (BGH) ein Urteil, wonach eine Mutter erstmals verpflichtet wird, den Namen des biologischen Vaters bekanntzugeben. Bei der Verhandlung sagte die vorsitzende Richterin: „Kuckuckskinder machen erfahrungsgemäß Schwierigkeiten“. Der hpd erkundigte sich bei dem international renommierten Evolutionsbiologen Prof. Ulrich Kutschera, wie dieses Urteil aus Sicht der Evolutionsforschung zu bewerten ist.

hpd: Herr Prof. Kutschera, was sind für Sie als Biologe sogenannte Kuckuckskinder?

Ulrich Kutschera: Der Begriff basiert aus Sicht der Evolutionsforschung auf einer oberflächlichen Analogiebetrachtung. Ein liebevoller Vater, der unwissentlich ein fremdes Kind großzieht und erhebliche Ressourcen investiert, obwohl ein anderer Erzeuger vorliegt, soll sich demgemäß wie ein „doofer“, vom Kuckuck parasitierter Singvogel verhalten. Die Realität sieht bei den durch weiblichen Brut-Parasitismus geschädigten Vögeln jedoch etwas anders aus.

 

Warum ist denn das Wort Kuckuckskinder problematisch und welche Probleme haben die fremden Vögel im Wirts-Nest?

Betrachten wir die biologischen Fakten. Kuckucksvögel (Ordnung Cuculiformes) umfassen weltweit ca. 140 Arten, wovon über 50 Brut-Parasitismus betreiben, ein Phänomen, das übrigens auch bei Sperlingsvögeln dokumentiert ist. Unser einheimischer Kuckuck, der „Vogel des Jahres 2008“, ist ein Brutschmarotzer, der im Frühsommer seine Eier einzeln in die Nester kleinerer Singvögelarten legt. Diese Wirtsvögel sind derart mit der eigenen Eiablage beschäftigt, dass sie das rasche Unterjubeln eines Kuckuckseies nicht bemerken. Die Kuckucksmutter legt ein bis zwei eigene Eier in das fremde Nest und entfernt oder frisst dafür ähnlich aussehende Eier des Wirtsvogels. Dieses Brut-Schmarotzertum weiblicher Kuckucke ist aber keine perfekte Täuschung, da nur die Hälfte der Wirtsvogelarten das Kuckuckskind erfolgreich aufziehen. Weiterhin werden bis zu 30 Prozent der parasitierten Gelege von den Wirtsvogelpaaren aufgegeben, und die Kuckuckskinder werden oft auch weniger gefüttert.

 

Warum ist der Kuckuck bei dieser Abwehrreaktion der Wirtsvögel dann nicht ausgestorben?

Obwohl parasitierte Gelege immer wieder aufgegeben und die fremden Kinder vernachlässigt werden, kann ein Kuckucks-Pärchen dennoch über dieses Verhalten mehr Nachkommen hinterlassen, als es selbst ernähren könnte, und da sind wir wieder bei den hintergangenen Männern.

 

Was haben Kuckuckskinder-Väter mit den parasitierten Singvögeln biologisch betrachtet gemeinsam?

Ein Kuckuckskind ist ein Junge oder Mädchen, das von einer Mutter einem Partner untergeschoben wird, der annimmt, er sei der leibliche oder biologische Vater. Der Mann soll sich somit wie ein vom weiblichen Brut-Schmarotzertum befallener Singvogel-Vater verhalten, der Zeit und Energie in die hingebungsvolle Aufzucht fremden Erbgutes investiert. Wie bereits oben erwähnt, ist der Begriff nicht ganz zutreffend, denn wir haben neue Einsichten zur Evolution dieser Wirts-Parasit-Interaktion gewonnen.

 

Was gibt es denn Aktuelles aus der evolutionären Kuckucks-Forschung?

Bisher hat man angenommen, dass die Mehrzahl der parasitierten Wirtsvögel ihre Kuckuckskinder annehmen, mehr oder weniger füttern und wie eigene Nachkommen behandeln, analog dem hintergangenen menschlichen Vater. Aktuelle Forschungsarbeiten, die im Fachjournal Frontiers in Zoology veröffentlicht wurden, zeichnen jedoch ein völlig neues Bild. Man hat inzwischen parasitierte Wirtsvogel-Arten (Gattung Geryone) entdeckt, die sich aktiv verteidigen, indem sie die lebenden Kuckucks-Jungvögel aus dem Nest werfen, um das Überleben der eigenen Brut zu sichern. Es ist wahrscheinlich, dass diese Abwehr-Reaktion gegen den weiblichen Brut-Parasitismus gewisser Kuckucksvögel weiter verbreitet ist als bisher angenommen.

 

Warum zieht denn ein Wirtsvogel-Paar oder ein Mann nicht einfach ein fremdes Kind groß, wo liegt da das Problem? Gibt es nicht auch liebevolle Stiefväter?

Als ich die Medienberichte zum BGH-Urteil las, war ich wieder einmal sehr enttäuscht. Es war dort von der „informellen Selbstbestimmung der Frau gegen den Rechtsschutz des Mannes usw.“ die Rede, aber die Biologie des Menschen − Grundlage aller vernünftigen Beurteilungen − wurde völlig ignoriert. Dies beweist aufs Neue, dass die Biologie, insbesondere die Evolutionsforschung, in Deutschland bei öffentlichen Debatten noch immer kaum eine Rolle spielt. Liebevolle Stiefväter, die wissen, wer der biologische Erzeuger ihres Kindes ist, gibt es, aber warum das oft gut funktioniert bzw. manchmal auch problematisch ist, ist ein anderes Thema.

 

Welche evolutionsbiologischen Grundlagen wurden Ihrer Ansicht nach im BGH-Urteil nicht berücksichtigt?

Alle Lebewesen, von den Amöben über die Pflanzen bis zu den Menschen, sind bestrebt, rekombinierte Kopien der eigenen Gene in die nächste Generation zu bringen: Der Begriff „Darwinsche Fitness“ bedeutet in der Evolutionsbiologie „Lebenszeit-Fortpflanzungserfolg“. Eine kinderlose Frau, die regelmäßig ins „Fitness-Studio“ geht, wird dennoch zu einer Sackgasse der Evolution, weil ihr Erbgut aus dem Genpool verschwinden wird.

Da auch Männer ganz normale, in der Evolution entstandene Lebewesen sind, streben sie an, eigene Kinder, die zu 50 Prozent ihr Erbgut tragen, zu zeugen und zu unterstützen. Daher betreiben sie einen erheblichen Brutpflege-Aufwand. Dieser reicht von der Vater-Liebe, die aus biologischen Gründen jedoch die Zuwendung einer Mutter nicht ersetzen kann, bis zu erheblichen Geld-Zuwendungen. Der im BGH-Urteil behandelte Brut-Parasitismus der Frauen ist völlig unakzeptabel, da das biologische Überlebens-Grundrecht des Partners verhöhnt wird. Ein Mann ohne eigene Nachkommen, der unwissentlich ein Kuckuckskind eines Konkurrenten großzieht, stirbt biologisch betrachtet aus. Er glaubt jedoch, er würde seine eigenen Gene weitergeben, aber der unbekannte leibliche Vater ist der Gewinner dieses evolutionären Wettstreites.


Sprechen Sie somit von einem evolutionären Überlebens-Recht der Männer, das durch das Brut-Schmarotzertum der Frauen verwirkt wird?

So ist es. Biologisch betrachtet sind Männer gebärunfähige Variationen-Generatoren, die nie sicher sein können, ob sie eigene oder fremde Kinder großziehen. Da Männer weiterhin keine den gebärenden Frauen analoge, lebenslange Mutter-Kind-Bindungen aufbauen können, sind sie in einer schwierigen Situation und kompensieren diese Unfähigkeit zum Hervorbringen eigenen Nachwuchses teilweise durch Verhaltensweisen, die wir alle kennen. Diese reichen von der vollständigen Hingabe für den Beruf bis zu absurden kriminellen Handlungen, die es bei normalen Frauen nur ausnahmsweise gibt.

 

Ist somit aus Ihrer Sicht der Vergleich von Kuckucks-Eiern mit dem Verhalten gewisser Frauen unzutreffend?

Wir wissen seit den oben angesprochenen Forschungsarbeiten, dass parasitierte Singvogel-Männchen den durch Kuckucks-Weibchen verursachten Brutpflege-Betrug nicht immer passiv hinnehmen − die hintergangenen Vogel-Pärchen wehren sich, indem sie die Kuckucks-Kinder aus dem Nest eliminieren, um das Überleben der eigenen Brut zu sichern. Betrogene Männer dürfen selbstverständlich nicht diese harschen Singvögel-Verhaltensweisen übernehmen, da Kuckuckskinder von ihren Vogel-Vätern oft vernachlässigt oder gar getötet werden. Das Wort „Kuckuckskind“ ist somit eigentlich unpassend − wir sollten vom „weiblichen Brutpflege-Parasitismus“ sprechen. Dieses Wortpaar beschreibt das menschliche Verhalten sachlich korrekt und treffend. Übrigens scheint das Brutpflege-Schmarotzertum in Singvögel- und Menschen-Populationen ähnlich hoch zu sein: Je nach Studie geht man von zwei bis fünf Prozent Kuckucks-Eiern bzw. -Kindern in mitteleuropäischen Nestern bzw. Haushalten aus.


Die Fragen stellte Fiona Lorenz.

 

Der an der Universität Kassel und in Stanford (USA) tätige Evolutionsbiologe Prof. Ulrich Kutschera erforscht unter anderem Blutegel, d. h. Parasiten, die auch Brutpflege betreiben.

Literatur zum Thema Evolutionäre Verhaltensforschung: Ulrich Kutschera: Evolutionsbiologie. 3. Auflage. Verlag Eugen Ulmer, Stuttgart, 2008, 312 Seiten, 202 Abb., gebunden, 39,80 €, ISBN-Nr. 978-3-8001-2851-8. Das Buch ist auch im denkladen erhältlich.

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