„Eine Anklage gegen den Finanzkapitalismus”

(hpd) Das kleine Heftchen “Empört Euch!” von Stephané Hessel hat nicht nur die Occupy-Bewegung inspiriert, sondern auch andere Verlage dazu gebracht, kleinere Artikel in dieser Form herauszubringen. So nun auch den Verlag der Süddeutschen Zeitung, die einem ihrer Chefredakteure, Heribert Prantl, die Möglichkeit gab, eine „Streitschrift” zu veröffentlichen.

Das gleich vorweg: Ich war überrascht, mit welcher Vehemenz Prantl hier Kapitalismuskritik übt. Zugegeben: ich habe das so nicht erwartet. Doch nachdem sich vor geraumer Zeit bereits Frank Schirrmacher in der FAZ fragte, ob angesichts der weltweiten Finanzkrise nicht vielleicht doch die Linken Recht hätten, stimmen einige der Bilder nicht mehr, die ich hinsichtlich der sogenannten “bürgerlichen Presse” und deren Meinungsmacher hege.

Auch Heribert Prantl, der zu den Chefredakteuren der Süddeutschen Zeitung gehört und als linksliberal gilt, schlägt sich hier mit den Fragen der Gerechtigkeit des aktuellen Wirtschaftssystems herum. Schon der Untertitel des Büchleins verrät die Richtung, in die es geht: „Eine Anklage gegen den Finanzkapitalismus”.

Er schreibt einleitend: „Die Menschen gehen nicht auf Distanz zur Politik - sie gehen auf die Straße, sie besetzen Plätze [...] Sie entfernen sich nicht von der Politik, sondern versuchen, sie zu beeinflussen [...] Die weltweiten Proteste fordern von ihren Regierungen, in einer globalisierten Welt für ein gewisses Maß an ökonomischen Anstand zu sorgen. Das ist nicht unbillig, das gehört zum inneren Frieden.” [Seite7]

Prantl hält den Umgang der Politiker mit den aktuellen Krisen für demokratiegefährdend. Nach seiner Auffassung bietet ein zu starkes soziales Gefälle den Nährboden für fundamentalistische oder andere extreme Formen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Deshalb auch schreibt er - Flugblätter der “Weißen Rose” zitierend: “Wenn jeder wartet, bis der andere anfängt, wird keiner anfangen!” [Seite 10] Damit macht er seine Sympathie klar für die occupy-Bewegung. Diese jungen Leute, so Prantl, wollen angesichts ihrer Zukunftslosigkeit, angesichts des Ungleichgewichts zwischen den Bankenrettungen und dem Abschmelzen des Sozialstaates keine Revolution, die das System verändert. Sondern sie nehmen sich das ihnen zustehende Recht, für ihre Zukunft einzutreten.

Für Prantl können die sogenannten „Rettungsschirme”, die Banken retten sollen und die Ärmeren schaden werden, nicht ihre Funktion erfüllen. Denn Basis für das Funktionieren all dieser Rettungsmaßnahmen sei Vertrauen. Vertrauen der Menschen in das System. Da aber immer mehr Menschen von der gesellschaftlichen Teilhabe abgekoppelt werden, gibt es dieses Vertrauen nicht mehr.

Deshalb stellt er die Frage danach, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. “Wie wäre es mit einer Gesellschaft, die Heimat sein kann für alle Menschen, die in ihr leben? … die sich darauf besinnt, was Demokratie ist [...] eine Gesellschaft, die ihre Zukunft miteinander gestaltet.” [Seite 17]

Für die Kernsätze des Aufsatzes halte ich die folgenden: “Nicht die freie Entfaltung des Kapitals ist das Anliegen bürgerlicher Freiheitsrechte, sondern die freie Entfaltung der Persönlichkeit jedes Einzelnen. Eine Umverteilung von oben nach unten zum Zweck der sozialen Grundsicherung aller Bürgerinnen und Bürger und zur Herstellung annähernd gleicher Lebensbedingungen ist kein sozialistischer Restposten [...], sondern demokratisches Gebot.” [Seite 18] Das sind eindeutig sozialdemokratische Ansätze der vor-Schröderschen Zeit. Und so verwundert es auch nicht, wenn Heribert Prantl am Ende des Aufsatzes auf August Bebel und Friedrich Engels verweist.

Gerade der Hinweis auf Bebels „Die Frau und der Sozialismus” verweist in eine Richtung, die ich bei einem Autoren wie Heribert Prantl nicht erwartet hätte. Schreibt er doch über die Notwendigkeit einer Umbewertung von Arbeit in der Gesellschaft; darüber, dass es an der Zeit ist angesichts immer mehr steigender Produktivität und daraus folgend immer weniger notwendiger Arbeit endlich den richtigen Schluss zu ziehen: dass auch gesellschaftliche und gemeinschaftliche Arbeit - die wir alle täglich verrichten - als Arbeit anerkannt werden muss. „Es gibt unendlich viel Arbeit, die Gemeinschaft stiftet, die für inneren Frieden sorgt - Gemeinwesenarbeit, die chronisch unterbezahlt ist oder von der man erwartet, dass sie ehrenamtlich, also umsonst erledigt wird. Die Arbeit für die Gemeinschaft muss den Rang bekommen, der ihr gebührt.” [Seite 27]

Mit diesen Worten endet der erste Aufsatz des Büchleins. Und für mich endet das Buch auch damit. Denn in einem zweiten Text versucht Prantl, die gleiche Thematik biblisch zu begründen. Ein Versuch, der in meinen Augen schon deshalb scheitern musste, weil die christlichen Großkirchen Teil des kritisierten Systems sind. Interessant darin ist jedoch sein Hinweis, dass sich Europa einige seiner Freiheiten auf Kosten der Ertrinkenden im Mittelmeer erkauft.

Heribert Prantl zeigt sich in dem Heft als ein gut formulierender Kritiker, der das System nicht abschaffen, aber ändern will: Reform statt Revolution. Eine Auffassung, mit der er sicherlich eine mehrheitsfähige Meinung vertritt.

Jan Weber

Heribert Prantl: „Wir sind viele: Eine Anklage gegen den Finanzkapitalismus“. Süddeutsche Zeitung / Bibliothek; Dezember 2011, 47 Seiten, ISBN-13: 978-3866159990, Euro 4,90.