Bistum ignorierte Leitlinien

hildesheim-dom.jpg

Hildesheim, Dom / Foto: O. Kube

BRAUNSCHWEIG. (hpd) Der Pfarrer aus Salzgitter, dem sexueller Missbrauch in 280 Fällen vorgeworfen wird, steht ab heute in Braunschweig vor Gericht. Dem 46-Jährigen drohen zwischen zwei und fünfzehn Jahren Haft. Er hat die Taten heute in vollem Umfang eingeräumt.

Besonders tragisch an dem Fall ist, dass die Mutter des ersten Opfers das Bistum Hildesheim bereits 2006 gebeten hatte, es möge Andreas L. den Kontakt zu ihrem Sohn dienstrechtlich untersagen. Zu diesem Zeitpunkt soll der Priester das Kind bereits zwei Jahre lang schwer missbraucht haben – über 200 Mal. Nach Darstellung des Bistums soll damals aber von sexuellem Missbrauch „ausdrücklich” noch nicht die Rede gewesen sein. Die Familie habe „den freundschaftlichen Kontakt als zu intensiv und distanzlos” empfunden. Den „freundschaftlichen Kontakt” zu seinem Opfer und dessen Mutter, einer Witwe, soll L. bereits ab 2002 im Zuge der Kommunionsvorbereitung aufgebaut haben. Ab 2004 soll der Junge dann mehrmals am Wochenende bei dem Pfarrer übernachtet haben, auch in den Urlaub hatte der L. den Jungen mitgenommen. Davon will das Bistum aber erst 2010 erfahren haben.

Ab 2006 freundete sich L. mit einer weiteren Familie und deren zwei Söhnen an. Das Schema war wieder das gleiche: Der Kontakt kam über die Kommunionsvorbereitung zustande. Die Kinder besuchten den Pfarrer zu Hause. Es gab gemeinsame Urlaube im In- und Ausland. Ab 2007 soll L. die Jungen 34 Mal missbraucht haben. Noch im März 2011 buchte der Pfarrer für sich und sein jüngstes Opfer einen vierzehntägigen Urlaub in der Dominikanischen Republik. Zu dem Urlaub sollte es allerdings nicht mehr kommen.

2010, im Zuge des Missbrauchsskandals, hatte sich die Mutter des ersten Opfers zum zweiten Mal an das Bistum Hildesheim gewandt. Erst zu diesem Zeitpunkt will man dort von den gemeinsamen Urlauben erfahren haben. Von sexuellem Missbrauch sei aber weiterhin „ausdrücklich” nicht die Rede gewesen.

Trotzdem gab das Bistum 2010 den Fall – in anonymisierter Form – an die Staatsanwaltschaft zur Begutachtung. Mangels einer eindeutig sexuellen Handlung sah diese allerdings damals keinen Anfangsverdacht auf sexuellen Missbrauch. Das Bistum setzte den Pfarrer weiter ein und ließ ihn auch Gruppenreisen mit Minderjährigen organisieren, z.B. nach Taizé in Frankreich.

Als L. im Juni 2011 gegen das Kontaktverbot verstieß, wurde er vom Bistum lediglich noch einmal ermahnt – eine weitere Reise mit Jugendlichen nach Taizé sollte er im Juli wie geplant durchführen.

Aus den Umständen ergibt sich, dass es wohl wieder die Mutter des ersten Opfers war, die sich Mitte 2011 nunmehr zum dritten Mal wegen des Pfarrers an das Bistum gewandt hatte, wegen L.‘s Verstoß gegen das Kontaktverbot. Sie war es auch, die den Pfarrer Ende Juni anzeigte – offenbar reichten ihr die Maßnahmen des Bistums nicht aus.

Nach der Festnahme des Pfarrers versprach das Bistum Hildesheim in einer Pressemitteilung, es werde sich „aktiv an der Aufklärung der Vorwürfe beteiligen”. Direkt danach hieß es allerdings: „Vor einem Jahr wurden dem Bistum Vorwürfe gegen den jetzt verhafteten Pfarrer wegen angeblich distanzlosen Verhaltens gegenüber einer Person bekannt. Daraufhin bat das Bistum die Staatsanwaltschaft, den Verdacht eines etwaigen Missbrauchs zu prüfen. Auf der Basis der vorliegenden Fakten sah die Staatsanwaltschaft damals keinen Anhaltspunkt für einen Anfangsverdacht.“

Von dem „distanzlosen Verhalten” des Pfarrers hatte das Bistum allerdings nicht erst „vor einem Jahr” erfahren, sondern bereits 2006.

2010 hatte sich das Bistum an die Staatsanwaltschaft gewandt, weil der Pfarrer mit einem Kind im Urlaub gewesen war und dabei mit dem Jungen in einem Bett übernachtet hatte. In den Erklärungen des Bistums nach L.‘s Verhaftung hörte sich das allerdings zunächst so an: „Der Personalverantwortliche des Bistums, Weihbischof Heinz-Günter Bongartz im NDR: „Also, diese Hinweise, die dort auch noch mal 2010 an die Staatsanwaltschaft gegeben worden sind, haben sich auf ein freundschaftliches Verhältnis des Pfarrers zu dieser Familie bezogen, das vor 2006 lag. Im Jahre 2006, als es in dieser Familie den Wunsch gab, doch ein distanzierteres Verhältnis zu dem Pfarrer einzunehmen, hat es von unserer Seite aus eine Ansage gegeben an den Pfarrer, dieses Verhältnis nicht mehr weiterhin zu leben.”

Andernorts erklärte Bongartz: „Laut Weihbischof Bongartz hatte sich eine Familie über das „distanzlose Verhalten” des verdächtigen Pfarrers beschwert. Dies habe sich unter anderem in “übergroßen Geschenken” ausgedrückt, so Bongartz.

Wer nach L.‘s Verhaftung die Erklärungen von Weihbischof Bongartz verfolgte, musste glauben, das Bistum habe die Staatsanwaltschaft 2010 wegen eines „freundschaftlichen Verhältnisses” und „übergroßer Geschenke” eingeschaltet. Meinte Bongartz mit den „übergroßen Geschenken” etwa gemeinsame Reisen des Pfarrers mit seinem Opfer?

Gleich nach der Verhaftung fingen Weihbischof Bongartz und der Bistums-Pressesprecher, Dr. Lukas, zudem an, den „schwarzen Peter” der Staatsanwaltschaft zuzuschieben. Bongartz gegenüber L.‘s Gemeinde: „Es gab keine Hinweise auf sexuelle Übergriffe. Beim ersten Verdacht 2010 haben wir die Staatsanwaltschaft informiert. Aber wenn diese und die Polizei nichts machen, kann die Kirche nichts dafür.”