Braucht die Gesellschaft Religion?

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Am Podiumstisch (v.l.n.r.) Irlenborn, Münch und Lammers / Foto: Gunnar Teriet

DORTMUND. (hpd) Am vergangenen Mittwoch fand in der Katholischen Hochschulgemeinde Dortmund eine Podiumsdiskussion zum Thema „Braucht die Gesellschaft Religion - Zwischen Kulturverlust und Freiheitsgewinn“ statt. Veranstalter waren die Katholische Hochschulgemeinde und die Evangelische Studierendengemeinde Dortmund.

Nachdem im Spätsommer 2011 beim IBKA die Anfrage nach einem Diskussionspartner aus dem „atheistischen“ Umfeld eintraf, war von IBKA-Seite schnell klar, dass hier der geeignete Kandidat MIZ-Chefredakteur Christoph Lammers ist. Als Mitbegründer der Initiative „Religionsfrei im Revier“ ist er natürlich auch, seit bald zwei Jahren, gut mit dem lokalen säkularen Umfeld vertraut.

Sein Diskussionskontrahent sollte an diesem Abend Prof. Dr. Dr. Bernd Irlenborn sein. Als ehemaliger Inhaber des Rektorenamts der Theologischen Fakultät Paderborn und ebenfalls Inhaber des Lehrstuhls für Philosophiegeschichte und Theologische Propädeutik stand somit ein entsprechend „solventer“ Gegenspieler zur Verfügung.

Die Moderation übernahm die Bochumer Schauspielerin und Kabarettistin Esther Münch.

Nach kurzer Vorstellung wurde jeweils ein ca. 12-minütiges Impulsreferat gehalten.

Irlenborn bezog in diesem zu folgenden fünf eigenen Thesen Stellung:

  1. Religionen sind seit jeher unverzichtbare Orientierungssysteme für Menschen. Religionen, wenn sie den Vernunftbezug einschließen, sind entscheidende Quellen für die menschliche Verortung und Sinnkonstituierung.
  2. Die religiöse Selbstdeutung, wenn sie nicht im Privaten bleiben will, verlangt im pluralistischen Staat eine öffentliche Rechtfertigung der religiösen Lehre und Praxis. Diese Rechtfertigung schließt einen Vernunftbezug für religiöse Überzeugungen ein.
  3. Aus der reflektierten religiösen Selbstdeutung erwachsen für den säkularen Staat wichtige politische Tugenden und moralische Haltungen. Deshalb sollten religiöse Überzeugungen im pluralistischen Staat eine öffentliche Dimension haben
  4. Der liberale Staat sollte mit religiösen Überzeugungen sehr sorgsam umgehen: kritisch, wo sie zu Gewalt und Fundamentalismus neigen, fördernd, wo sie ein tiefgehendes Selbstverständnis und eine ethische Wertebasis offerieren, von der auch nichtreligiöse Menschen profitieren.
  5. Bei dieser Prüfung spielt reflektierte Religionskritik eine zentrale und unverzichtbare Rolle. Reflektiert ist Religionskritik (unter anderem) darin, dass sie auch nichtreligiöse Überzeugungen für begründungspflichtig hält.

Lammers kam dann in seinem Referat zu folgenden Schlussfolgerungen:

  1. Eine pluralistische demokratisch verfasste Gesellschaft muss einerseits allen Weltanschauungen die Möglichkeit bieten, sich zu artikulieren, andererseits ist die einseitige Bevorzugung der Kirchen und vielleicht schon bald der muslimischen Gemeinschaften mit der Trennung von Staat und Kirchen unvereinbar.
  2. Der Grundkonsens einer demokratisch verfassten Gesellschaft ist die Selbstbestimmung und die Freiheit des Individuums und sie richtet sich nach den Menschenrechten aus.
  3. Die Schaffung einer kollektiven Identität in Form einer Staatskirche, indem verfassungsrechtlich fragwürdige Gesetze und Vereinbarungen getroffen werden (Betriebsverfassungsgesetz, Gotteslästerungsparagraph, Kirchenaustrittsgebühr, Konkordatslehrstühle etc.) ist weder zeitgemäß noch demokratisch.
  4. Gesellschaftliche Fragen, wie z.B. die Diskussion um den verkaufsoffenen Sonntag, müssen mit allen gesellschaftlichen Gruppen diskutiert werden und obliegen nicht den Kirchen allein.
  5. Das Verschwinden der Religionen aus dem öffentlichen Raum ist ein legitimer Prozess der Anpassung an die gesellschaftliche Wirklichkeit.

In der folgenden Diskussionsrunde zog ein wahres Argumentationsgewitter von säkularer Seite auf. Es zeigte sich, dass nicht nur Leute von „Religionsfrei im Revier“ anwesend waren, argumentative Unterstützung kam auch aus dem Rheinland. Mitglieder des „Düsseldorfer Aufklärungsdienstes“ hatten keine Mühen gescheut ins abendlich verregnete Dortmund zu kommen und es wurden sogar „Münsteraner Ketzer“ gesichtet. Erstaunlicherweise kamen aber auch viele religionskritische Stimmen aus dem weiteren Publikum.

Nach etwa 45 Minuten, Lammers hatte gerade eine rhetorische Verwischung Irlenborns zur Thematik Darwinismus, Sozialdarwinismus und Atheismus scharf zurück gewiesen, verließ eine erste empörte Theologin die Veranstaltung mit der Begründung, dass ihr die Stimmung hier zu aggressiv sei. Nun, aggressiv war sie keinesfalls, wohl eher engagiert und angeregt, aber scheinbar wurden mal wieder religiöse Gefühle verletzt.

In der zweiten Hälfte meldeten sich dann doch vereinzelt Stimmen, ja sogar Gegenstimmen, aus den Reihen der religiösen Studenten. Geschätzt machte ihre Anzahl knapp die Hälfte der anwesenden Gäste aus. Doch die Gegenargumente blieben zaghaft und zögerlich. Fragen wie: „Darf ich denn dann gar nichts mehr glauben?“ oder „Wie soll ein Kind ohne Religionsunterricht überhaupt religiöses Empfinden kennen lernen?“, ließen dann leider auch auf wenig Vorbildung in der Sache schließen.

Aber auch die, von säkularer Seite direkt an Irlenborn gerichtete Frage, was denn „christliche Werte“ jetzt im Einzelnen seien, blieb letztendlich unbeantwortet. Ja, er schien sich sozusagen argumentativ aufzulösen. Und auch äußerlich deutete der Grad seiner Zusammengesunkenheit auf dem Stuhl, auf Kapitulation vor der Ratio hin.

Die Stuhlreihen lichteten sich gegen Ende der Veranstaltung leider noch etwas mehr und es machte den Anschein, als griffe die Verletztheit religiöser Gefühle um sich.

Trotzdem bildeten sich nach Ende des offiziellen Teils einige rege diskutierende Grüppchen, und den religionsfreien wurde zu verstehen gegeben, dass sich die anwesenden gläubigen Studenten ja eigentlich auch noch nie mit dieser Problematik auseinandergesetzt hatten.

Fairerweise muss am Ende noch gesagt werden, dass sich auch die Moderatorin im Laufe des Abends immer mehr auf die Seite der Vernunft geschlagen hatte und im Anschluss reges Interesse an der säkularen Szene zeigte.

Jörg Schnückel