Zum Massaker von Utøya

(hpd) Rainer Just und Gabriel Ramin Schor veröffentlichen in ihrem Sammelband sechs Essays zur Deutung der Massenmorde am 22. Juli 2011 in Norwegen. Die philosophisch gebildeten Autoren entfernen sich in ihren Deutungen mitunter allzu sehr von den konkreten Ereignissen, formulieren aber durchaus anregende Reflexionen zu gesellschaftlichen und ideengeschichtlichen Hintergründen und Kontexten.

Am 22. Juli 2011 tötete Anders Behring Breivik in Norwegen 77 Menschen, wobei die meisten jugendlichen Opfer auf der Insel Utøya von Angesicht zu Angesicht erschossen wurden. Der Täter sah sich selbst als modernen „Kreuzritter“, der die angeblich von „Kulturmarxisten“ und „Multikulturalisten“ beförderte „Islamisierung“ verhindern wollte. Das Ereignis löste nicht nur in dem als friedlich und konfliktfrei geltendem Land einen öffentlichen Schock aus. Die Morde führten auch zu Fragen, die sich nicht nur auf Fehler und Versäumnisse der norwegischen Sicherheitsbehörden bezogen. Gesellschaftlich weitaus bedeutsamer war die Deutung der Tat: Handelte es sich bei dem Einzeltäter um einen Fremdenfeind und Rechtextremisten oder um einen Misanthropen und Verrückten? Oder anders formuliert: Hatten die Morde des Einzelnen etwas mit der Gesellschaft als Ganzem zu tun? Dieser Frage widmen sich die Beiträge des Sammelbandes „Vorboten der Barbarei. Zum Massaker von Utøya“, der von Rainer Just und Gabriel Ramin Schor herausgegeben wurde.

Für Isolde Charim hängt die Tat eng mit den Änderungen im Identitätsverständnis der europäischen Gesellschaften und den Einflüssen des Rechtspopulismus zusammen: „Der Horror von Oslo und Utøya ... zeigt eine andere Front: Diese verläuft zwischen jenen, die eine volle Identität nach deren Erosion restaurieren wollen und einer nicht-vollen, sogenannten ‚europäischen’ Identität. Deshalb wurde der Schlag gegen die ‚eigene’ Gesellschaft geführt – dort, wo sie nicht mehr als eigene erachtet wird, gegen deren ‚Europäisierung’“ (S. 15f).

Gabriel Ramin Schor greift die Formulierung von „einer ‚terroristischen Ich-AG’“ auf, was „den Ego-Zentrismus des Attentäters und dessen kapitalistische Verstrickungen prägnant“ (S. 36) benenne. Auch er konstatiert Gemeinsamkeiten mit der rechtpopulistischen Agitation und sieht in den Morden deren „todespolitische Endstation“ (S. 48). Bezogen auf das Selbstverständnis Breiviks spricht danach Georg Seeßlen von den Bildern des Terrors und meint: „Der Kreuzritter ist ein Ur-Bild des geklonten Terrors“ (S. 56).

Rainer Just geht der Lektüre des Mörders nach, hatte Breivik doch in seinem „Manifest“ auf etliche Größen der Literatur positiv Bezug genommen: „ ... Homers ‚Ilias’ und ‚Odyssee’ bieten die martialisch-heroische Projektionsfläche; Dantes ‚Göttliche Komödie’ und die von ihm ersehnte christliche Welt- und Jenseitsordnung; Tolstois ‚Krieg und Frieden’, das große europäische Panorama ...“ (S. 96).

Die aufklärerisch-liberale Forderung zur Bekämpfung des Terrorismus, die mitunter aufklärerisch-liberale Werte verrät, kritisiert dann Slavoj Zizek. Er schreibt: „Manche von ihnen lieben ihre menschliche Würde so sehr, dass sie jederzeit dazu bereit sind, zu deren Verteidigung die Folter – diese herausragende Einrichtung zur menschlichen Erniedrigung – zu legalisieren“ (S. 112).

Und Klaus Ganglbauer beschäftigt sich in seinen Reflexionen zum Terror der Immanenz mit der Berufung des Täters auf die empirische und pragmatische Philosophie: „Breiviks Denken ist von einer Korrumpierung der Idee des Universalen durch empirische Partikularitäten geprägt“ (S. 138).

Bei den sechs Beiträgen des Sammelbandes handelt es sich um Essays im ursprünglichen Sinne des Wortes für diese Textform: Sie enthalten Betrachtungen und Interpretationen, die elegant und provozierend formuliert, aber auch belegfrei und unsystematisch vorgetragen werden. Hierbei findet man sowohl interessante Ansätze wie etwa die Hinweise auf die Opferauswahl im Kontext des Identitätsverständnisses ebenso wie pauschale Deutungsversuche wie etwa bei den inflationären Verweisen auf die Wirkung des „Neo-Liberalismus“.

Mitunter bemühen sich die philosophisch gebildeten Autoren, ihre Reflexionen im Kontext von „Meisterdenkern“ wie Theodor W. Adorno oder Roland Barthes, Jean Baudrillard oder Michel Foucault vorzutragen. Dabei entfernen sie sich nicht selten aber allzu sehr vom konkreten Wissen um Tat und Täter. Doch etwas überdrehte Deutungen wechseln sich daher mit innovativen Anregungen ab. Sie liefern aber keine breiteren und überzeugenderen Erklärungen für die Massenmorde eines selbsternannten „Kreuzritters“.

Armin Pfahl-Traughber

 

Rainer Just/Gabriel Ramin Schor (Hrsg.), Vorboten der Barbarei. Zum Massaker von Utøya, Hamburg 2011 (Laika-Verlag), 144 S., 17,90 €