Wird die neue Gemeinschaftsschule „christlich“?

STUTTGART. (hpd) Es hat sich inzwischen herumgesprochen: Die grün-rote Landesregierung will in Baden-Württemberg eine neue Schulart einführen: In dieser Schule soll die bislang übliche Trennung der Schularten nach der „Begabung“ der Schülerinnen und Schüler aufgehoben werden. Dabei übersehen wird eine scheinbare Marginalie.

Die Schüler werden nach der 4. Grundschulklasse nicht mehr auf drei verschiedene Schularten sortiert, sondern an die Stelle der bisherigen Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien tritt eine Schule für alle. Hierfür verwendet die neue Regierung den Begriff „Gemeinschaftsschule“.

Kaum diskutiert wurde bisher eine scheinbare Marginalie: der „Grundgedanke der christlichen Gemeinschaftsschule“. Dieser Begriff ist in Baden-Württemberg bereits „besetzt“ und bezieht sich auf einen völlig anderen Sachverhalt. Wie unklug diese Namensgebung war (die vermutlich nicht einmal absichtlich erfolgte, sondern aus Unkenntnis der beteiligten Politiker über die Bildungsgeschichte und Verfassungslage) zeigt sich jetzt bei der Vorbereitung der notwendigen Ergänzung des Schulgesetzes.

Es sieht derzeit – Ende Februar 2012 – so aus, als käme es über den weltanschaulich-religiösen Charakter dieser neuen Schulart zu einem neuen „Kulturkampf“, aber diesmal mit anderen Vorzeichen: Während es beim Schulstreit des neunzehnten Jahrhunderts im damaligen Großherzogtum Baden darum ging, die Herrschaft der Kirchen über das Erziehungswesen abzuschaffen und an die Stelle der konfessionellen Bildungseinrichtungen eine staatliche „Simultanschule“ zu setzen, in der alle Schülerinnen und Schüler ohne Rücksicht auf ihre religiöse Zugehörigkeit gemeinsam unterrichtet wurden, soll jetzt im Land Baden-Württemberg eine neu eingerichtete Schulart mit dem Etikett „christlich“ versehen werden.

Die Landesregierung hat einen Gesetzentwurf in die Anhörung gegeben, der offenbar bei den Kirchen und ihnen nahestehenden Kreisen Unruhe ausgelöst hat und derzeit zu hektischer Betriebsamkeit im Kultusministerium führt. Um zu verstehen, was sich derzeit dort abspielt, ist ein Blick in das Gesetzbuch sowie in die Bildungs- und Verfassungsgeschichte des Landes notwendig.

Die Rechtslage heute

Für alle öffentlichen und privaten Schulen in Baden-Württemberg sind die Erziehungsziele der Landesverfassung verbindlich, am wichtigsten ist die Bestimmung in Artikel 12:

„Die Jugend ist in der Ehrfurcht vor Gott, im Geiste der christlichen Nächstenliebe, zur Brüderlichkeit aller Menschen und zur Friedensliebe, in der Liebe zu Volk und Heimat, zu sittlicher und politischer Verantwortlichkeit, zu beruflicher und sozialer Bewährung und zu freiheitlicher demokratischer Ge-sinnung zu erziehen.“

Darüber hinaus enthalten auch die Artikel 11, 17 und 21 der Landesverfassung Erziehungsziele (beispielsweise das Gebot, dass in allen Schulen der „Geist der Duldsamkeit und der sozialen Ethik“ zu walten habe und dass die Jugend „zu freien und verantwortungsfreudigen Bürgern zu erziehen“ seien). Insgesamt ist das ein bunter Strauß. Zwar gehören dazu auch die „Ehrfurcht vor Gott“ (allerdings ohne dies auf eine christliche Gottesvorstellung einzuengen) und der „Geist der christlichen Nächstenliebe“, aber dadurch werden die Schulen nicht zu christlichen oder gar konfessionellen Einrichtungen. Für alle öffentlichen Schulen in Baden-Württemberg gilt vielmehr: Die Schülerinnen und Schüler werden in allen Fächern gemeinsam unterrichtet. Nur im Religionsunterricht wird nach Konfessionen (Religionsgemeinschaften), im Fach Sport wird teilweise nach Geschlechtern getrennt. Insofern besitzen diese Schulen grundsätzlich keinen religiösen „Charakter“ – mit einer Ausnahme: Die Grund- und Hauptschulen, die früheren „Volksschulen“, nehmen eine Sonderstellung ein: Sie werden in der Landesverfassung als „christliche Gemeinschaftsschulen“ definiert.

Dies hat historische Ursachen: 1876 waren im Großherzogtum Baden – das war damals ein liberales Musterländle – gegen den erbitterten Widerstand vor allem der katholischen Kirche die evangelischen, katholischen und jüdischen Volksschulen zu „Simultanschulen“ vereint worden. In ihnen wurde der Unterricht für alle Schüler gemeinsam erteilt, außer im Fach Religion. Diese „Simultanschule“ war eine überkonfessionelle Gemeinschaftsschule, also keine „christliche“ (auch keine „bikonfessionelle“), sondern eine säkulare Schule.

Im Königreich Württemberg blieben die Volksschulen hingegen konfessionell getrennt, dort gab es also bis zur Nazi-Zeit evangelische und katholische Volksschulen.

Nach 1945 entstanden auf dem Gebiet des heutigen Baden-Württemberg zunächst drei Länder, die ihr Schulwesen jeweils eigenständig regelten. Die öffentlichen Volksschulen wurden

  • „christliche Schulen“ im Bundesland Württemberg-Hohenzollern, teilweise als evangelische bzw. katholische Bekenntnisschulen,
  • „christliche Gemeinschaftsschulen“ im Bundesland Württemberg-Baden,
  • „Simultanschulen mit christlichem Charakter im überlieferten badischen Sinn“ im Bundesland Baden.

Wer alt genug ist, um sich daran erinnern zu können, der weiß, warum nach 1945 auf einmal von „christlichen Gemeinschaftsschulen“ oder von „Simultanschulen mit christlichem Charakter“ gesprochen wurde. Die neuen Länder im Südwesten versuchten in bewusster Abkehr von der nationalsozialistischen Epoche der Bildungspolitik eine neue Farbe zu geben: „Aus braun mach schwarz“.

Nach der Vereinigung der drei Länder zum Bundesland Baden-Württemberg (1952) galten in den einzelnen Landesteilen für die Volksschulen zunächst die bisherigen Bestimmungen weiter. 1967 aber brauchte die CDU auf einmal eine neue Mehrheit, um weiter regieren zu können und bildete mit der SPD eine große Koalition. Die SPD verlangte hierfür von der CDU, die Konfessionsschulen im ganzen Land abzuschaffen. Durch eine Verfassungsänderung erhielten alle öffentlichen Volksschulen (jetzt: Grund- und Hauptschulen) 1967 die Schulform der „christlichen Gemeinschaftsschule nach den Grundsätzen und Bestimmungen, die am 9.12. 1951 in Baden für die Simultanschule mit christlichem Charakter gegolten haben“ (Landesverfassung Artikel 15).

Für die Grund- und Hauptschulen (und nur für diese!) wurde seinerzeit zusätzlich bestimmt, dass die Kinder „auf der Grundlage christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte erzogen“ werden (Landesverfassung Artikel 16). Alle anderen öffentlichen Schulen des Landes, also die Realschulen, die Sonderschulen, die Gymnasien und die beruflichen Schulen, besaßen und besitzen keinen religiösen oder weltanschaulichen „Charakter“.

Die Auseinandersetzung um das neue Gesetz

Angesichts dieser Ausgangslage und wohl in der Erkenntnis, dass die Verwendung des Begriffs „Gemeinschaftsschule“ für zwei verschiedene Sachverhalte problematisch ist (herkömmlich geht es um das religiöse Bekenntnis, neuerdings um die Begabung), hat das Kultusministerium in der Begründung für den Gesetzentwurf vom Januar 2012 zwischen beiden ein Junktim zu konstruieren versucht:

„Die Gemeinschaftsschule greift die Grundgedanken der Art. 15 und 16 der Landesverfassung (christliche Gemeinschaftsschule) auf, indem sie einerseits durch einen bekenntnisorientierten Religionsunterricht die Dimension des Religiösen in die schulische Erziehung aufnimmt und andererseits durch die gemeinsame Erziehung das einander respektierende Zusammenleben einübt.“

Im Gesetzestext selbst tauchte der Begriff „christlich“ also nicht auf.  Aber da es bei der späteren Auslegung eines Gesetzes nicht nur auf dessen Wortlaut, sondern auch auf die amtliche Begründung ankommt, setzte das Kultusministerium damit einen deutlichen Akzent. Es wollte mit dieser nicht sehr geglückten Formulierung wohl auch einer möglichen Kritik der Kirchen oder kirchlich orientierter Abgeordneter – nicht nur in der CDU, sondern auch in den Regierungsfraktionen – begegnen.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft hat dieses Problem erkannt und beantragt, diese Aussage aus der Begründung des Gesetzentwurfs zu streichen: Diese Formulierung sei geeignet, Missverständnisse und Auslegungsprobleme hervorzurufen, denn sie stelle inhaltlich eine Zielsetzung für die neue Gemeinschaftsschule dar und bringe sie unzulässigerweise in einen Zusammenhang mit der Schulform der „christlichen Gemeinschaftsschule“. Auch die Evolutionären Humanisten Freiburg haben sich in Schreiben an die Landesregierung gegen diesen „Etikettenschwindel“ ausgesprochen und beantragt, den Begriff „Gemeinschaftsschule“ künftig nur noch für die „neue“ Gemeinschaftsschule zu verwenden. Zu diesem Zweck verlangen sie, die Artikel 15 und 16 aus der Landesverfassung zu streichen.

Der Gesetzentwurf wird „christlich“ überarbeitet

Die Kirchen sahen das offenbar ganz anders. Die Erwähnung in der Begründung reichte ihnen nicht. Sie haben auf das Kultusministerium eingewirkt, den Bezug der neuen Gemeinschaftsschule zur „christlichen Gemeinschaftsschule“ im Gesetz selber deutlicher herauszuarbeiten.

Deshalb plant das Kultusministerium Baden-Württemberg jetzt eine Neufassung der Gesetzesvorlage: Im Schulgesetz soll ausdrücklich festgestellt werden, dass die Gemeinschaftsschule eine „christliche Gemeinschaftsschule“ im Sinne der Landesverfassung sei. Der neue Wortlaut liegt noch nicht vor, aber beide Regierungsfraktionen sollen dem Vorhaben zugestimmt haben. Im März will die Landesregierung abschließend hierüber entscheiden.

Man rechtfertigt die Einfügung einer solchen Zusatzklausel damit, dass durch die Gemeinschaftsschule die Grund- und Hauptschulen abgeschafft würden und die Schüler/innen, die eigentlich auf die Hauptschule gegangen wären, hätten ja einen Anspruch auf eine christliche Gemeinschaftsschule. Da sei die Frage erlaubt: Woran erkennt man diese Schülergruppe? Hätten mit dieser Begründung dann nicht auch die drei im Lande bestehenden Gesamtschulen „christlich“ umgetauft werden müssen? Und wie erkennt man die Schüler/innen, die eigentlich auf die Realschule und das Gymnasium gegangen wären? Hätten sie nicht einen Anspruch darauf, eine Schule ohne eine religiös-weltanschauliche Etikettierung zu besuchen?

Das Vorhaben der grün-roten Koalition ist mit der Verfassung nicht vereinbar: Artikel 15 Abs. 1 der Landesverfassung bestimmt eindeutig: „Die öffentlichen Volksschulen (Grund- und Hauptschulen) haben die Schulform der christlichen Gemeinschaftsschule nach den Grundsätzen und Bestimmungen, die am 9. Dezember 1951 in Baden für die Simultanschule mit christlichem Charakter gegolten haben.“

Für diese Schulen, und nur für diese, schreibt Artikel 16 Abs. 1 der Landesverfassung vor: „In christlichen Gemeinschaftsschulen werden die Kinder auf der Grundlage christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte erzogen. Der Unterricht wird mit Ausnahme des Religionsunterrichts gemeinsam erteilt.“

Die Artikel 15 und 16 der Landesverfassung enthalten rechtlich abschließende Regelungen: Ausschließlich die Grund- und Hauptschulen (es ist unstrittig, dass hierzu auch die „Werkrealschulen“ gehören) besitzen einen „christlichen“ Charakter, und nur für sie gilt der zusätzliche Erziehungsauftrag „auf der Grundlage christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte“.

Es ist unzulässig, diese Schulform durch eine einfach-gesetzliche Regelung zu ändern oder auf andere, neu eingerichtete Schularten zu übertragen. Hierzu bedürfte es einer Verfassungsänderung.

Nach der geltenden Verfassung des Landes gelten für die neue Schulart Gemeinschaftsschule vielmehr lediglich die Erziehungsziele, die in den Artikeln 12, 17 und 21 für alle Schulen definiert sind, nicht jedoch die besonderen Bestimmungen der Artikel 15 und 16.

Wir brauchen keinen neuen Kulturkampf

Die Zeit ist über diesen Sonderstatus der Grund- und Hauptschulen längst hinweggegangen – und das ohne jeden Schaden für den Schulfrieden. Seit dem Verfassungskompromiss von 1967 haben sich die Herkunftsstruktur und die Religionszugehörigkeit der Schülerinnen und Schüler drastisch verändert: Gehörten damals noch so gut wie alle Schülerinnen und Schüler einem der christlichen Bekenntnisse an und entstammten sie fast ausschließlich der deutschen Wohnbevölkerung, so ist inzwischen vor allem in den Ballungszentren der Anteil der Hauptschülerinnen und -schüler mit Migrationshintergrund teilweise auf über 50 Prozent gestiegen; viele von ihnen gehören gar keinem oder einem nicht-christlichen Bekenntnis an (sondern vorwiegend dem Islam). Es gibt Grund- und Hauptschulen in Baden-Württemberg, deren Schülerschaft mehrheitlich keiner der Religionsgemeinschaften angehört, für die Religionsunterricht eingerichtet ist.

Der „christliche“ Sonderstatus der Grund- und Hauptschulen spielt in der Schul-Realität heute faktisch keine Rolle mehr; hierzu hat nicht zuletzt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, z.B. die Entscheidung zur Simultanschule (vom 17. 12.1975 – BVerfGE 41, 29) sowie das „Kruzifix-Urteil“ (vom 16. 5.1995 – 1 BvR 1087/91) beigetragen. Das Kultusministerium hat deshalb schon vor 12 Jahren seine Verwaltungsvorschrift zur „christlichen Gemeinschaftsschule“ aus dem Jahr 1967 ersatzlos erlöschen lassen, in der noch vom Schulgebet, der Anbringung religiöser Symbole in Schulräumen oder der Pflege christlichen Liedguts im Musikunterricht der Grund- und Hauptschulen die Rede war. Auch die aus der badischen Simultanschultradition stammende Verfassungsbestimmung, bei der Bestellung der Lehrer an den Grund- und Hauptschulen auf das religiöse und weltanschauliche Bekenntnis der Schüler nach Möglichkeit Rücksicht zu nehmen, ist seit Langem obsolet; die Schulverwaltung ignoriert diese Verfassungsbestimmung konsequent.

Der Anspruch der Kirchen und das Vorhaben der Regierung bedeuten einen politisch-historischen Rückschritt; sie markieren den Rückfall in eine durch die bisherige Entwicklung überholte Kulturkampf-Haltung. Es ist weder einseh- noch vermittelbar, warum ausgerechnet diese neue Gemeinschaftsschule, die nicht zuletzt der Schülergruppe mit Migrationshintergrund (und damit oft auch nichtchristlicher Religionszugehörigkeit) bessere Bildungschancen ermöglichen soll, dezidiert an ein einzelnes religiöses Bekenntnis gebunden werden soll. Welches Signal soll der besondere Erziehungsauftrag „auf der Grundlage christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte“ (Art. 16 LV) muslimischen oder konfessionslosen Eltern geben? Der in Baden-Württemberg seit 1967 aufgebaute Schulfrieden wird gestört und die neue Gemeinschaftsschule wird mit einer völlig unnötigen, gefährlichen Hypothek belastet.

Spätestens wenn die ersten Eltern gegen das geänderte Schulgesetz klagen, wird das Bundesverfassungsgericht diese Klausel kassieren und die grün-rote Koalition blamieren.

Frank Walter