„Die Würde des Menschen ist unantastbar...“

(hpd) Einer der am meisten angeführten Begriffe in der Wertediskussion ist die Menschenwürde. Doch was ist Menschenwürde? Der Philosoph Franz Josef Wetz gibt einen Überblick über die religiöse, philosophische, politische und rechtliche Entwicklung des Begriffs von der Antike bis in die Gegenwart.

Die Textsammlung ist zunächst gegliedert nach Epochen, von der Antike über das frühe Christentum, Mittelalter, Renaissance, die frühe Neuzeit, Neuzeit und die Moderne. Die rechtliche Definition des Begriffs Menschenwürde beispielsweise durch das Bundesverfassungsgericht, neue Ansätze der Gegenwart und kritische Stimmen auch älteren Datums bilden den Abschluss.

Franz Josef Wetz kommt das Verdienst zu, aus der Vielfalt von Deutungen der Menschenwürde wiederkehrende Grundtypen herauskristallisiert zu haben: „Es gibt zwar eine große Zahl von Interpretationen des Begriffs Würde, jedoch nur einige wenige Deutungsmodelle. Diese verschiedenen Deutungsmodelle entwickelten sich im Laufe der Jahrhunderte und bestehen teilweise nebeneinander oder überschneiden sich.“ (S. 14)

Am Anfang eines jeden Kapitels gibt Wetz einen Überblick über die Besonderheiten der Epoche sowie des jeweiligen Autors im Unterkapitel. Die Menschenwürde, laut Artikel 1 des Grundgesetzes der höchste Wert unseres Gemeinwesens, wurde von der Mehrzahl der zitierten Autoren als Wesensmerkmal des Menschen angesehen, von vielen auch als Gestaltungsauftrag.

Von der Antike bis in die Gegenwart, von Platon und Aristoteles über Blaise Pascal und Samuel von Pufendorf bis zu Kommentatoren des Grundgesetzes und heutigen Positionen der christlichen Kirchen wird Menschenwürde als Wesensmerkmal des Menschen angesehen, gegeben durch dessen Gottähnlichkeit und in Abgrenzung zum Tier. Nichtsdestotrotz stehe dem Menschen die Notwendigkeit zu, dieser Würde gerecht zu werden und diese somit zu gestalten (um nicht zum Tier zu werden). Zunächst wird diese Aufgabe als individuelle, eigenverantwortliche angesehen, später wird auch die staatliche bzw. gesellschaftliche Pflicht angemahnt, Rahmenbedingungen zu schaffen, innerhalb derer Menschen ein Leben in Würde ermöglicht werden kann. In der Not lässt sich schwerlich ein würdevolles Leben führen.

Auch bleibt es nicht konstant bei der Würde durch Gottähnlichkeit: Ab der Aufklärung summieren sich zusehends Stimmen, welche die Würde des Menschen aus anderen Faktoren ableiten. Eine interessante Eingabe kommt beispielsweise von Thomas Mann, der die Würde durch Krankheit hergestellt sah, andere leiten sie gerade nicht aus der Gottähnlichkeit, sondern vielmehr aus der generellen Unzulänglichkeit des Menschen ab.

Pierre-Joseph Proudhon befand post-aufklärerisch, dass Barbaren an Gott glaubten. So sei Gerechtigkeit nicht möglich, erst mit der Orientierung am Menschen. Ansonsten bleiben bis heute nach wie vor religiöse Vorstellungen bestehen, selbst bei ranghohen Staatsrechtlern.

Gibt es Menschenwürde?

Zweifel an der Existenz von Menschenwürde ließen Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, Burrhus Frederic Skinner, Niklas Luhmann und Norbert Hoerster verlauten. Schopenhauer plädierte stattdessen für Mitleid als Triebfeder für die Liebe anderen Menschen gegenüber, Nietzsche sah die Wissenschaft als Ursache für die Selbstverkleinerung des Menschen. Die Würde des Menschen, die Würde der Arbeit seien Phantome, dürftige „Erzeugnisse des vor sich selbst versteckenden Sklaventhums“ (S. 291f). Skinner beschrieb Tier als abwertenden Begriff nur deshalb, „weil der Begrff ‚Mensch’ fälschlicherweise aufgewertet worden ist.“ (S. 297) Für Hoerster stellt die Menschenwürde eine normative Leerformel dar, die jedoch als Antwort auf den Nationalsozialismus weiterhin eine herausragende Stellung behalten sollte. Der Mensch dürfe nicht nach Belieben mit seinesgleichen umgehen.

In dieser Textsammlung zur Menschenwürde zeigt sich auf erschreckende Weise, wie sehr die Vorstellungswelt der größten Denker ihrer Zeit von absurdem Gedankengut getränkt war: Der Mensch schaffte sich einen Gott und leitete reflexiv von diesem selbst erschaffenen Gott eine Gottähnlichkeit ab, die als Legitimation für die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier, für die Existenz einer besonderen Würde herangezogen wurde. Als Mensch hatte man definitionsgemäß über Jahrhunderte, Jahrtausende die Wahl, ob man ein Tier oder gottgleich sein wollte. Thomas von Aquin war sogar der Meinung, tierähnliche Menschen dürften getötet werden (S. 70).

Es entsteht bei der Lektüre ein Verständnis für geschichtliche Entwicklungen und es kann sich eine gewisse Betrübnis einstellen, wenn deutlich wird, wie sehr wir noch heute beeinträchtigt werden von Vorstellungen über die religiös begründete Besonderheit des Menschen, welche sich beispielsweise in der Aussage eines Staatsrechtlers (Ernst Wolfgang Böckenförde) niederschlagen, die Menschenwürde beginne bei der Befruchtung. Zum Glück gibt es auch andere Juristen, wie etwa Matthias Herdegen, die naturalistische Positionen in ihr Rechtsverständnis einbinden.

Wetz stellt etliche Philosophen, Denker und Dichter vor, die überaus bedenkenswerte Ansätze vertreten, wie beispielsweise Tzvetan Todorov, der am Beispiel des Alltags in den Konzentrationslagern des 20. Jahrhunderts die Menschenwürde vor dem Hintergrund extremer Notsituationen erläuterte. Somit belohnen insgesamt nicht nur die Diskrepanz der Positionen, sondern auch anderweitig anregende Gedanken die Lektüre der Textsammlung zur Menschenwürde. Ob es Menschenwürde überhaupt gibt, und wenn ja, wie sie sich gestaltet, mag ein jeder nach der Lektüre selbst entscheiden.

 

Fiona Lorenz

 

Wetz, Franz Josef (Hrsg.): Texte zur Menschenwürde. 313 S. ISBN: 978-3-15-018907-8; EUR (D): 10,00 / EUR (A) 10,30 / CHF 14,90