Neue Worte braucht das Land

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Plakatstreifen "Nicht religiös? Du bist nicht allein!" / Fotos: gbs-Regionalgruppe

STUTTGART. (hpd) Die Regionalgruppe Stuttgart/Mittlerer Neckar der Giordano-Bruno-Stiftung beginnt eine religionskritische Plakataktion in den S-Bahnen der Stadt. Es ist die Antwort auf die Plakataktionen der Süddeutschen Plakatmission. Seit vergangenen Samstag kleben die ersten Plakatstreifen.

„Actio est reactio“, lautet ein physikalisches Gesetz, das Isaac Newton herausgefunden hat.

Wenn auch nicht so wortgetreu - das Prinzip „Aktion gleich Reaktion“ wirkt über die Physik hinaus auch in die Gesellschaft hinein. Nun ist unsere Republik jedoch kein abgeschlossenes System und die zahlreichen veränderlichen und unbekannten Größen machen genaue Voraussagen über den Ausgang von diversem Kräftemessen praktisch unmöglich. Trotzdem findet es statt und jeder versucht, das Ergebnis für sich zu beeinflussen.

Die Süddeutsche Plakatmission ist Teil einer solchen Kraft und beabsichtigt, die Gesellschaft mit Botschaften aus der Bibel vom Atheismus zu kurieren. Über die kleinen, aber sehr eindeutigen, Werbebotschaften, die an den Scheiben der S-Bahnen in Stuttgart kleben, berichtete der hpd bereits.

Von radio-m war in diesem Zusammenhang zu erfahren, dass sich die Verantwortlichen der Süddeutschen Plakatmission zu ihrer eigenen Kampagne und der Kritik an selbiger nicht äußern wollten. Die Damen und/oder Herren gingen davon aus, dass sich die Kritik an den Plakaten quasi von selbst totlaufen würde.

Doch, und das ist mehr als Zufall, es kam anders, als die christlichen Missionare aus dem „Ländle“ meinten. Dachten sie, dass es kommen würde, wie sie es gern gehabt hätten? Oder waren sie wieder einmal allein vom Glauben beseelt?

Kurz nach den Osterfeiertagen, dem Fest, an dem die Christen die Kreuzigung Jesu Christi beklagen, seine Auferstehung feiern und die halbe Republik auf Reisen ist, wurde bekannt, dass auch das Thema „Plakatmission“ eine Art Wiederauferstehung erfährt. Mitten hinein in die österliche Freudenzeit, die bis Pfingsten währt, platzt die Plakataktion einer anderen, völlig konträren Kraft.

Die GBS Stuttgart/Mittlerer Neckar e.V., eine Regionalgruppe im Förderkreis der Giordano-Bruno-Stiftung (GBS) startet eine auf zunächst drei Monate beschränkte Werbeaktion in den Wagen der Stuttgarter S-Bahnen. Der Verein beabsichtigt mit dieser Kampagne das Meinungsbildungsmonopol religiöser Gruppen im öffentlichen Raum aufzubrechen und andere Weltanschauungen publik zu machen.

Die Werbeflächen der Bahn AG werden von der Ströer Deutsche Städte Medien GmbH vermarktet, mit der die GBS Stuttgart/Mittlerer Neckar e.V. einen Vertrag geschlossen hat, nach dem ab dem 1. Mai 2012 Plakate mit 20 verschiedenen Texten in den S-Bahn-Waggons zu sehen sein werden.

Die Stroer DERG hatte sich schon zur Kritik an der Plakatmission sehr neutral geäußert und zeigt nun, dass es in den Zügen der Bahn keine weltanschauliche Vormachtstellung gibt. Die Deutsche Bahn, als Eigentümer des rollenden Materials, macht ernst mit dem selbstauferlegten Gebot der Diskriminierungsfreiheit in ihrer Infrastruktur. Das ist - unter deutschen Verhältnissen betrachtet - eine sehr fortschrittliche Haltung.

Am vergangenen Samstag übermittelte die Firma Stroer, dass die Aktion begonnen hat, und nun sind die Mitglieder der Regionalgruppe unterwegs, um alle Plakatstreifen zu fotografieren. Auf ihrer Interseite sind die ersten Fotos zu sehen.

Man wird abwarten müssen, welches Echo die neue Plakatwerbung bei den Fahrgästen in den Stuttgarter S-Bahnen und in der Öffentlichkeit hervorrufen wird. Zumindest muss sich die Süddeutsche Plakatmission von der Hoffnung verabschieden, die Sache würde sich schnell auslaufen.

Das Nebeneinander von unterschiedlichen Weltanschauungen in einem stark frequentierten öffentlichen Verkehrsraum wird gewiss zu Diskussionen führen, die sonst nicht aufkommen würden, weil die Präsenz des religiösen Lagers übermächtig ist – und das nicht nur in den Stuttgarter S-Bahnen.

Bleibt zu wünschen, dass die ungleichen Botschaften nicht allein zum Zankapfel werden, sondern die demokratische Streitkultur anregen.

Es ist eine unumstößliche Tatsache, dass die Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Bundesrepublik Deutschland in Bezug auf die öffentliche Darstellung eine Menge an Privilegien besitzen, die ihnen der Staat großzügig zugeschanzt hat.  „Die christliche Welt hat ihren Sendeplatz“, heißt es bei katholisch.de und dort ist man stolz auf das Erhaltene. Den eifrigen Nehmern sei gesagt, dass es in der Apostelgeschichte (20,35) heißt: „Geben ist seliger denn Nehmen.“!

Anders Denkende oder nicht Glaubende haben es viel schwerer, ihre Ansichten unters Volk zu bringen. Redezeiten wie sie der BfG - Bayern im Rundfunk erhält, sind selten und die Sendeplätze (Sonntag 06:45 Uhr) mehr als schlecht. Das Wort zum Sonntag indessen kommt regelmäßig nach der Samstagabend-Sendung im 1., Kirche in WDR wird jeden Morgen kurz vor 6:00 Uhr ausgestrahlt, also genau in der Zeit, in der sich die Menschen für den Arbeitstag vorbereiten und noch die Nachrichten hören wollen.

Die Plakataktion der GBS Stuttgart/Mittlerer Neckar e.V. ist ein guter Anfang, ein Vorstoß, an diesen Zuständen etwas zu ändern. Die Plakate bewirken, dass sich das religionsfreie Drittel der deutschen Bevölkerung in der Öffentlichkeit wiederfindet.

Darüber hinaus wäre es wünschenswert, wenn die Kampagne der Stuttgarter GBS dazu führen würde, dass sich die verschiedenen humanistisch-religionsfrei orientierten Verbände, Gruppen und Vereine über ihre Meinungsverschiedenheiten hinweg für eine weiterführende und dauerhafte Kampagne zusammenschließen könnten. Das wäre gut für die Streitkultur in Deutschland und sicher nicht zum Nachteil der Verbände, die sich eventuell über Zuwachs an Mitgliedern und damit auch an Finanzen freuen könnten.

Thomas Häntsch