Lautet die Botschaft wirklich „selbst denken“?

BERLIN. (hpd) Am vergangenen Freitag wurde die Theologin Margot Käßmann in das Amt als Botschafterin des Reformationsjubiläums 2017 eingeführt. Die Säkularen Humanisten Rhein-Neckar wandten sich deshalb mit einem offenen Brief an Käßmann, um eine kritische Darstellung von Luthers folgenschwerem Judenhass einzufordern. Dort gibt man sich derzeit nachdenklich.

Die Aufgabe von Margot Käßmann soll sein, bis zum Reformationsjubiläum in Vorträgen und Gottesdiensten auf die Ideen Martin Luthers hinzuweisen und für den protestantischen Glauben zu werben. Die EKD will an die Bedeutung des legendären Anschlags der 95 Thesen an die Schlosskirche in Wittenberg erinnern. „Die Botschaft des Jubiläums in die Welt zu tragen“, so nannte die Theologin Käßmann zur Amtseinführung ihr Ziel als Botschafterin. Welche Botschaft das sein sollte, weiß derzeit selbst Margot Käßmann noch nicht genau.

Die Säkularen Humanisten Rhein-Neckar verschickten anlässlich der Amtseinführung einen offenen Brief an die Luther-Botschafterin Margot Käßmann. Darin heißt es, die Theologin vertrete in ihrem Amt „einen bedeutenden Deutschen, der sich mutig und unter Gefahr seines Lebens vor 500 Jahren gegen den Ablasshandel der katholischen Kirche eingesetzt, dadurch die Reformation in Gang gesetzt und später mit der Übersetzung der Bibel in die deutsche Sprache einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung geleistet hat.“

Zugleich, so heißt es im Schreiben weiter, sei Luther ein Mann gewesen, der die „Freyheith eines Christenmenschen“ eben nur als Freiheit eines Christenmenschen verstanden habe, während in den Anhängern des jüdischen Volkes laut Luther ein von einem Gott „verdammtes Volk“ zu sehen gewesen sei. Der heute als Reformator bekannte Theologe hatte eine Vielzahl erschreckender Maßnahmen gegen die Angehörigen des Judentums gefordert, wie sie einige Jahrhunderte später auch im Zuge der Nazi-Tyrannei noch einmal tatsächlich umgesetzt wurden.

„Wenn Sie aus Luthers Lebenswerk eine Gesamtbilanz ziehen, dann gehört neben der Reformation und der Bibelübersetzung eben auch sein Verrat an den Bauern, seine Befürwortung der Hexenverfolgungen, seine menschenverachtende Einstellung zu Behinderten und, nicht zuletzt, sein abgrundtiefer und folgenschwerer Hass gegen die Juden mit hinein.“

Luther dürfe daher nicht als Vorbild dargestellt werden, dies wäre ein „fatales Signal für die Zukunft“. In dessen eigener Sprache könne „das Gesamturteil über ihn nur lauten: Summa, wir haben einen rechten Teufel an ihm!“

Mit dem Reformationsjubiläum und der sogenannten Lutherdekade, die auch mit mehreren Millionen Euro diverser staatlicher Stellen gefördert wird, steckt die EKD nüchtern besehen in einer neuen Zwickmühle. Können die Wirkungen des sagenumwobenen Thesenanschlags, die Reden gegen den Ablasshandel und das Primat des katholischen Klerus vom Gesamtbild des Denkens des Initiators der Reformation getrennt werden?

Gebührt dem Ereignis überhaupt eine solche Würdigung, angesichts der historischen und heutigen Effekte von christlichem Glauben auch evangelischer Prägung, wie sie sich heute in Afrika zeigen? Der Protestantismus wird sich vor diesen Fragen nicht drücken können, denn sie berühren Teile seines Entstehungsmythos.

Aber obwohl die Schaffung eigener Wahrheiten zentrales Wesensmerkmal der Religionen ist, hat man bei der EKD immerhin schon auf die kontroverse historische Rolle Luthers reagiert. Käßmann fragte im Interview mit dem Kirchenportal evangelisch.de: „Wie können wir kritisch mit Luthers entsetzlichen Texten über Juden umgehen in einem Zeitalter des Dialogs der Religionen?“

In ihrer Predigt zur Einführung als Luther-Botschafterin meinte Käßmann nun, die Kernbotschaft zum Reformationsjubiläum laute: „Selbst denken!“

In der Predigt wandte sich die Lutherbotschafterin gegen religiösen Fundamentalismus jeder Couleur und sagte: „Fundamentalismus, ob jüdischer, christlicher, islamischer oder hinduistischer Prägung mag Bildung und Aufklärung nicht. Gegen jedwede Ausprägung von Fundamentalismus ist eine Kernbotschaft zum Reformationsjubiläum: selbst denken! Im Gewissen niemandem untertan: frei von Dogmatik, religiösen Vorgaben, Glaubensinstanzen.“

Die Schwierigkeit, aus religiösen Vorstellungen einen sinnvollen Denkanstoß zu erzeugen, trat in Käßmanns Predigt erneut offen zu Tage.

Und großartig sei es daher, dass die Menschen „im säkularen Zeitalter den Verstand nicht aussperren müssen, sondern ihn nutzen dürfen, um glauben zu können.“ Man sollte Luther heute also weniger als Nationalhelden betrachten, sondern ihn und die Menschen um ihn herum, „als Denkende, die Glauben und Verstand beieinander halten und auf genau diese Weise jedem Fundamentalismus trotzen, sei er religiöser oder ideologischer Natur. Vielleicht ist das für 2017 die zentrale Botschaft: Glauben nicht als Moralinstanz, sondern als radikale Freiheit zur Einmischung in die Welt.“

Wie der Evangelische Pressedienst außerdem berichtete, zog Käßmann auch eine Traditionslinie von der Reformation 1517 bis zur friedlichen Revolution 1989 in der DDR. „So wie vor 500 Jahren Ostdeutschland und Wittenberg das Zentrum der Welt waren, von wo aus die Idee der individuellen Menschenrechte und der Freiheit des Einzelgewissens formuliert wurden, so ging auch 1989 dieser Freiheitsgedanke von hier aus“, meinte Käßmann gegenüber der in Chemnitz erscheinenden Freien Presse. Das allerdings heißt, die Rolle der Kirche in der DDR maßlos und unkritisch zu übersteigern.

Klar ist, dass die Notwendigkeit einer kritischeren Betrachtung von Luthers Denken auch in Kreisen der evangelischen Kirchen erkannt wurde. Doch man gibt sich derzeit zwar nachdenklich, aber eine tiefgründige Reflexion nach allen vorhandenen Maßstäben der Erkenntnis ist dem Anschein nach erst einmal nicht zu erwarten. Deutlich wird vor allem, dass eine Würdigung der Ereignisse aus humanistischer Sicht mit einem Anprangern von Luthers Schattenseiten ebenso wenig erledigt werden kann wie eine Umdeutung und Schönfärberei als Triebfeder der Aufklärung.

Arik Platzek