Notizen aus Wien

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Listen / http://www.mauthausen-memorial.at/

WIEN. (hpd) Die Befreiungsfeiern im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen zählen zu den wichtigsten Bekenntnissen der Republik und vieler gesellschaftlicher Gruppen zur Mitschuld am NS-Regime und zur Frage des aktiven Antifaschismus. Mit dabei sind immer wieder Trittbrettfahrer. Ihre Basis: Mythologie.

Ein Kommentar von Christoph Baumgarten

Österreich und der Balkan haben viel gemeinsam. Dass alle immer nur Opfer waren, zum Beispiel. Dass das mit Österreich und dem Nationalsozialismus eher nicht stimmt, ist mittlerweile einigermaßen in den Köpfen der Menschen verankert. Der Mythos, das Land habe vorwiegend aus Widerstandskämpfern bestanden, wird schwächer. Nicht mehr jede alltägliche Handlung wird zum heroischen Akt interpretiert. Meistens. Nur manche Gruppen gehen immer noch mit ihrer Mythologie hausieren. Der Mittelschülerkartellverband (MKV), etwa.

In einer Presseaussendung reiht er sich in die Opfervertretungsverbände ein: „Angehörige katholischer Studentenverbände gehörten zu den entschiedensten Gegnern des Nationalsozialismus in Österreich, waren in Gefängnissen und Konzentrationslagern inhaftiert und mussten brutale Verfolgungen erleiden. Viele Mitglieder wurden unmittelbar nach dem "Anschluss" verhaftet und nach Dachau in das KZ gebracht.“ Man könnte diese etwas dreiste Übertreibung als wunderbares Beispiel verwenden, was passiert, wenn ein 67-jähriger ehemaliger Staatssekretär Vorsitzender einer Mittelschülervereinigung ist. Andererseits: Mit den offenkundigen Geschichtslücken sollte er wirklich wieder in die Schule gehen. Insofern erscheint es nicht ganz so verfehlt, dass ein Pensionist Schüleranliegen in der Öffentlichkeit vertritt.

Und dann kommt man auf ganze fünf CV- oder MKV-Mitglieder, die in Mauthausen ermordet wurden. Tragisch für diese fünf, keine Frage. Ihre Angehörigen haben ein Recht darauf, dass sie als Opfer des NS-Terrors genannt werden. Das sei unbestritten. Nur ist es gleichzeitig unglaublich respektlos gegenüber den Gruppen, deren Angehörige in Mauthausen zu hunderten oder gar tausenden ermordet wurden. Seien das Juden, Roma oder Homosexuelle. Und es ist ein unglaublicher Affront gegenüber den Gruppen, die mit ihrem Leben für die Befreiung dieses Landes bezahlt haben. Seien es die, auf deren Schultern der Großteil des Widerstands lastete. Slowenen, Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter. Oder die Angehörigen der alliierten Streiftkräfte, die in Mauthausen ebenfalls systematischer Ermordung ausgesetzt waren. Als Beispiel sei hier nur die „Mühlviertler Hasenjagd“ genannt. Und dann kommt der MKV mit fünf Toten daher? Das ist mit Verlaub lächerlich. Der klassische Opfer- und Widerstandsmythos aus der katholischen Ecke.

Liest man die Presseaussendung, könnte man den Eindruck gewinnen, die katholischen Mittelschüler hätten den Zweiten Weltkrieg im Alleingang gewonnen. Und natürlich für Freiheit und Demokratie gekämpft. Ersteres mag eine polemische Überhöhung sein. Zweiteres zu behaupten wäre eine glatte Lüge. Angehörige von CV und MKV waren von 1934 bis 1938 maßgeblich und überproportional Träger des austrofaschistischen Systems. Viele der KZ-Häftlinge aus diesem Bereich wurden nicht wegen antifaschistischen Widerstands verhaftet sondern einfach als Träger eines besiegten und ebenfalls verbrecherischen Systems. Eine Verbrecherbande sperrte die andere ein. (Dass die Nazis die grausamere und verbrecherische der beiden Banden waren, sei hier unbestritten und ausdrücklich hervorgehoben.) Kurt Schuschnigg etwa lebte in Luxushaft. Anders als der Hitler-Attentäter Georg Elser wurde er nicht kurz vor Kriegsende Opfer nationalsozialistischer Rache. Und anders als die prominenten Sozialdemokraten Käthe Leichter und Robert Danneberg wurden die ehemaligen austrofaschistischen Funktionäre Julius Raab und Leopold Figl nicht im KZ ermordet.

Im Widerstand aus dieser Ecke ging es lange zunächst darum, das klerikalfaschistische Österreich wiederherzustellen. Oder, sollte das nicht gehen, wenigstens ein Habsburger-Österreich. Freiheitskampf ist das keiner. Erst nach und nach gelangten auch Leute wie Figl und Raab zu der Einsicht, dass ein freies Österreich nur ein demokratisches sein könne. Die Sozialdemokraten kämpften schon seit 1934 darum, genauso wie der Großteil der Kommunisten.

80 Prozent der hingerichteten Widerstandskämpfer waren Kommunisten (davon wieder der Großteil ehemalige Sozialdemokraten, die nach den Februarkämpfen 1934 und der Auflösung der Partei in KP-Strukturen weiterkämpften), der Rest slowenische Partisanen, Sozialdemokraten und Gewerkschafter. Katholische Verbindler kommen da erst ganz am Ende.

Es darf auch vermutet werden, dass CV und MKV genauso von Nazis unterwandert waren die Vaterländische Front, Justiz, Polizei und Militär des faschistischen Österreich. Viele liefen mit wehenden Fahnen zum voraussichtlichen Sieger über, bevor der im Land stand. So weit wie heute getan wird, war der Schritt nicht. Katholisch und nationalsozialistisch waren für die meisten Menschen keine einander ausschließenden Eigenschaften. Manchmal ergab das auch die Kombination besonders katholisch und besonders nationalsozialistisch. Manchmal werden die Nazis auch Gewährsleute in die Funktionen eingeschleust haben. Selbst in der Regierung saßen heimliche Nazis. Die hörten nach 1938 nicht auf, Nazis zu sein. Kurz: Es gab wesentlich mehr Couleurtragende auf Täterseite als auf Opferseite.

Das heißt nicht, dass nicht auch Katholiken aus verschiedenen, auch religiösen, Überlegungen heraus Widerstand leisteten und für ein freies und demokratisches Österreich kämpften. Nur waren das zu einem erheblichen Anteil Jugendliche und junge Erwachsene, die beim so genannten Anschluss 1938 noch zu jung waren, um Mitglieder in couleutragenden Verbindungen zu sein. Oder ihr Widerstand spielte sich abseits der Strukturen dieser Verbindungen ab. Der spätere Verleger Fritz Molden wäre so ein Beispiel. Auf den hat sich der MKV bezeichnenderweise nicht berufen. Wirksam wurde der Widerstand dieser Menschen großteils erst gegen Kriegsende. Da wurden fallweise Kampfhandlungen, die viele Opfer gefordert hätten, verhindert. Oder die Strukturen für danach vorbereitet. Das ist nicht zu unterschätzen –aber etwas anderes als der jahrelange Widerstand von Kommunisten, Slowenen und Sozialdemokraten.

Der MKV steht mit seinen Übertreibungen, Fehlinterpretationen und Auslassungen – kurz mit seiner Geschichtsklitterung – nicht alleine da. Unmittelbar nach dem Krieg versuchte sich die katholische Kirche zum größten Opfer des Nationalsozialismus zu erklären. Es stimmt, dass die katholische Kirche manche Privilegien aus dem Dollfuß-Konkordat verlor. Es kam zu einzelnen Enteignungen. Es gab eine Konkurrenz beim Kampf um die Köpfe der Kinder. Daraus eine flächendeckende Verfolgung zu konstruieren geht beinahe so an der Realität vorbei wie die Behauptung, es habe Auschwitz nie gegeben. Kein einziger katholischer Bischof aus dem Deutschen Reich saß auch nur einen einzigen Tag in Haft. Und man betete fleißig für Führer, Volk und Vaterland. Oft genug ganz freiwillig. Wenn Katholiken Widerstand leisteten, war das praktisch immer ohne Wissen der Kirche und meist gegen deren ausdrücklichen Willen. Die katholische Kirche in Österreich war eine wesentliche Stütze des Nationalsozialismus. Ob sie ihn innerlich begrüßte wie ein Kardinal Alois Hudal, der im Vatikan saß, oder sich nur damit abfand und arrangierte, wie Kardinal Theodor Innitzer, vormals Stütze des klerikalfaschistischen Systems, ist zweitrangig.

Nur, in die Köpfe der Kirchenhierarchie ist das noch nicht vorgedrungen. Sie hängen der Opfer-Mythologie weiter nach. Und sie sorgen dafür, dass zumindest dieser Teil der Opfer-Mythologie weiter in den Schulen gepredigt wird. In den organisierten katholischen Mittelschülern haben sie gelehrige Schüler gefunden.