Evolutionärer Humanismus in Polen

(hpd) Vor rund sechs Jahren ist es erschienen und seitdem viele zehntausend Mal verkauft worden: Das Manifest des evolutionären Humanismus. Der Philosoph Michael Schmidt-Salomon formuliert darin ein aufrüttelndes Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur. Seit kurzem wird es auch im katholischen Polen gelesen. Ein Blick auf erste Reaktionen.

„Wir leben in einer Zeit der Ungleichzeitigkeit: Während wir technologisch im 21. Jahrhundert stehen, sind unsere Weltbilder mehrheitlich noch von Jahrtausende alten Mythen geprägt. Diese Kombination von höchstem technischen Know-how und naivstem Kinderglauben könnte auf Dauer fatale Konsequenzen haben“, schrieb Michael Schmidt-Salomon im Jahr 2005.

Das war viele Jahre bevor die Aufdeckung des vertuschten Missbrauchs auch im deutschsprachigen Raum der Kirche und ihrer Lehre viel des früheren Zaubers raubte, als islamische Fundamentalisten noch verdeckter mobilisierten und die wechselnden Staatsoberhäupter Deutschlands noch nicht im Monatsrhythmus über die richtige Sicht auf die Existenz andersgläubiger Menschen stritten.

Von ihrem Wahrheitsgehalt haben diese Worte Schmidt-Salomon jedenfalls bis heute wenig verloren. Der Leserschaft machte das Manifest eindringlich klar, warum die Glaubenswelten der alten Zeit nicht nur an vielen Stellen unwahr oder höchst widersinnig sind, sondern weshalb das Festhalten an solchen Glaubenswelten auch gefährlich und falsch sein kann.

Bereits damals löste das Manifest einige Kontroversen aus. Positive Aufnahme erhielt der Text – wo auch sonst – beim Onlinemagazin Telepolis. Der Biologe und Wahrnehmungsforscher Rainer Wolf, Mitglied der AG Evolutionsbiologie, rezensierte die Schrift im Skeptiker dagegen beinahe so herb wie der sozialistisch orientierte Gewerkschafter und Kommunalpolitiker Elmar Klevers, der eine „biologistische Science-Fiction-Religion“ zu entdecken meinte. Der humanistische Philosoph Joachim Kahl bezeichnete den nicht einmal 200 Seiten starken Text plakativ als „Fehlstart“. Kritik aus klerikalen Reihen muss man da eigentlich nicht mehr suchen. Aber das war vorgestern.

Vor knapp drei Monaten ist der Text nun auch im Nachbarland Polen angekommen. Das Buch erschien am 16. März im Verlag Dobra Literatura, was so viel wie ‚gute Literatur‘ bedeutet. „Humanizm ewolucyjny“, so heißt der evolutionäre Humanismus in polnischer Sprache. Der Untertitel: „Warum ein gutes Leben in einer schlechten Welt möglich ist“. Die Übersetzung ist von Andrzej Lipiński, der mit dieser Arbeit den Menschen in der Heimat von Stanisław Lem und Karol Wojtyła wohl schon jetzt einen großartigen Dienst erwiesen hat.

Eine erste Buchbesprechung, einen Tag vor dem offiziellen Start beim Nachrichtenportal Wirtualana Polska („Virtuelles Polen“), löste eine Flut von mehreren Hundert Kommentaren aus. Im kurzen Bericht hieß es, das Buch sei objektiv, professionell gemacht, und doch sehr zugänglich für den durchschnittlichen Leser.

Jerzy Kochan, Professor für Philosophie, Soziologie und Anthropologie sowie Chefredakteur des philosophischen Zeitschrift Nowa Krytyka (Neue Kritik“) beurteilte das Plädoyer als ein „faszinierendes Buch“ für alle, die sich mit dem Sinn des Lebens beschäftigen möchten und einen rationalen, aufschlussreichen Zugang für das Verständnis der modernen Welt suchen.

Auf Wiadomości24 erhielt die Schrift eine weitere Bewertung. Marek Bachorski-Rudnicki formulierte dort einen ausführlicheren Erlebnisbericht. „Man muss ehrlicherweise zugeben, dass das kein einfaches Buch ist“, meint Bachorski-Rudnicki zunächst. Weiter heißt es, für religiöse Menschen könne es „ein gewisser Schock sein, auf diese Art Text zu stoßen“. Der Rezensent meint, dass viele nicht einmal die ersten Seiten schaffen würden, bevor sie es mit einem Gefühl des Ekels zu Seite legen müssen.

Dass Michael Schmidt-Salomons kontroverse Schrift „auch eine Polemik gegen die religiöse Sicht der Welt enthält“, stellte immerhin zügiger als nach der ersten Veröffentlichung in Deutschland eine weitere Kurzbesprechung fest, die beim polnischen Nachrichtenmagazin Polityka veröffentlicht wurde. Und Marek Bachorski-Rudnicki absolvierte die Lektüre trotzdem, wobei er schließlich zur Frage feststellte, ob man das Buch lesen sollte: „Ja, das ist es wert, obwohl ich zugeben muss, dass es eine recht schwere Abhandlung für Menschen meiner Überzeugung ist.“

Die Kontroversen um das Manifest hatten bereits einige Kreise in Polen gezogen, wo neben den, laut jüngsten Berichten des Nachrichtenportals evangelisch.de, 96 Prozent Katholiken die Nichtgläubigen und Atheisten offiziell eine verschwindende Minderheit darstellen. Die Übersetzung des Manifests des evolutionären Humanismus könnte das ändern.

Denn seiner anfänglichen Erschütterung zum Trotz appellierte Bachorski-Rudnicki am Ende seiner Besprechung an die Leserinnen und Leser, dass jeder selbst nach diesem Buch greifen, es lesen und eigenständig beurteilen solle, um sich für die Perspektive „zu entscheiden, welche besser für einen ist.“

Wirklich schlecht kam das Werk aber doch noch an einer anderen Stelle weg. Grzegorz Bryk griff die deutsche Tradition der vollkommenen Verrisse neu auf, warf dem Autor eine intellektuelle Hochstapelei vor und warnte vor der Verbreitung solcher Texte. Das Buch, so Grzegorz Bryk in einer Rezension, sei angefüllt mit logischen und intellektuellen Fehlern. Die Kritik aus dem Land der katholischen Einheitskonfession war damit noch lange nicht zu Ende: Das philosophische Niveau befinde sich auf dem Niveau von Erstsemestern. Die im Anhang des Buchs entworfenen „Zehn Angebote des evolutionären Humanismus“ seien infantil. Auf diesem zum Axel-Springer-Konzern gehörenden Studentenportal students.pl lautete schließlich das Fazit eines Trockennasenaffen über den anderen: „Die Arbeit von Schmidt-Salomon ist nichts anderes als eine Art von Propaganda, einseitig, erkenntnistheoretisch schlecht und nicht vollständig durchdacht.“

Somit scheint es, als ob dem Büchlein auch in Polen eine gute Zukunft beschieden sein könnte. Denn nicht nur das Manifest gibt es nun schon in zwei Sprachen und liefert nun international Denkanstöße. Wikipedia enthält ebenfalls seit kurzem einen Eintrag zum „Humanizm ewolucyjny“. Und solche Kombinationen von höchstem technischem Know-how mit dem naivsten Kinderglauben in Polen sollten doch auf Dauer positive Konsequenzen haben.

Arik Platzek

Mitarbeit und Übersetzung: Paulina Ruchniewicz