WORMS. (hpd) Der große Reformator und sein langer dunkler Schatten. Passend zur Lutherdekade, die 2008 begann und 2017 ihren Höhepunkt finden wird, soll in diesem Text erneut die dunkle Seite des Reformators „erhellt“ werden. Dabei trifft der geübte Leser auf ein paar altbekannte Fakten, jedoch auch auf einige Details, die einer breiten Öffentlichkeit weniger bekannt sein dürften…*
Ein Beitrag von Michael Koch / Kontribution: Reinhold Schlotz
Fälschlicherweise wird gerne angenommen, der Nationalsozialismus sei ein atheistisches Regime gewesen, zumal der aktuelle Papst der Katholiken und viele Geistliche und Politiker nicht müde werden, dessen Gottlosigkeit zu beteuern. Doch das Verhältnis beider Amtskirchen zum Nationalsozialismus, insbesondere der Evangelischen, war mehr als ambivalent. (1) Trotz sogenanntem Kirchenkampf und der Verfolgung von politisch aktiven Oppositionellen beider Konfessionen. Nur in den allerwenigsten Fällen leisteten hohe Amts- und Würdenträger passiven, geschweige denn aktiven, Widerstand. Nach dem Ende des II. Weltkrieges flüchteten viele Nazischergen, über die sogenannte Rattenlinie, ins Ausland. Geholfen haben dabei in den allermeisten Fällen hohe Würdenträger der Katholischen und auch der Evangelischen Kirche. (2)
Martin Luther (1483 bis 1546) war sicherlich ein großer Intellektueller, doch letztendlich auch ein schwacher, von teils undefinierbarer Angst erfüllter, umtriebig destruktiver Charakter. Ein Judenhasser (Antijudaist) par excellence und ein erklärter Feind der nach weltlicher Freiheit strebenden Kräfte im einfachen Volk, insbesondere der niederen Bauern. Außerdem galt er als zutiefst abergläubischer Mensch, der sich vor Hexen fürchtete und nicht müde wurde, deren Tod einzufordern.
„[…] Die Zauberinnen sollen getötet werden, weil sie Diebe sind, Ehebrecher, Räuber, Mörder… Sie schaden mannigfaltig. Also sollen sie getötet werden, nicht allein weil sie schaden, sondern auch, weil sie Umgang mit dem Satan haben. […] (3)
Über geistig behinderte Kinder meinte Luther, man müsse "derartig missgeborene Kinder ertränken". Behinderte allgemein stigmatisierte er als „wahre Teufel“. (Anm.: In den Tischreden 4513/5207 bezeichnet Luther (geistig) behinderte Kinder als ein vom Satan in die Wiege gelegtes, seelenloses Stück Fleisch (massa carnis). (4) Das klingt mehr als zynisch, sind jedoch die Worte eines sehr gebildeten Mannes, dem in Deutschland bis heute viele Straßen, Plätze und Denkmäler gewidmet sind. Fairerweise muss dem hinzugefügt werden, dass geistig oder körperlich Beeinträchtigte in der Gunst ihrer Mitmenschen im ausgehenden Mittelalter nicht gerade hoch standen. Um es ganz vorsichtig auszudrücken. Christliche Nächstenliebe wurde zwar allerorts gepredigt – allzu sehr verbreitet war sie dennoch nicht. Und daran änderte auch die aufziehende Renaissance nur wenig.
Nichtsdestotrotz ist es fragwürdig, ob ein Mann von Luthers Statur als positive Leitfigur und moralische Instanz für die Jetztzeit taugt. Abgesehen von der Übersetzung der Bibel ins Deutsche und seinen Verdiensten um das Kirchenlied… Denn während bei anderen historischen Figuren durchweg die Messlatte des 21. Jahrhundert angelegt wird, gilt der Reformator vielen Menschen immer noch als hehre Lichtgestalt und mutiger Freiheitskämpfer.
Der Protestantismus wird nicht selten sogar als Brutstätte freiheitlicher Werte missverstanden. Luthers Vorstellungen von Freiheit bewegten sich jedoch in einem sehr engen Rahmen: „Luther bekanntlich schloss aus der inneren Freiheit des Christenmenschen, dass er es nicht nötig habe, für die äußere Freiheit zu kämpfen und begründete damit die verhängnisvolle Autoritätshörigkeit einer Kirche, die als antiautoritäre Bewegung begann.“ (5) Diese negativen Aspekte blendet man gemeinhin gerne aus oder übertreibt es schlicht mit dem Fingerspitzengefühl, was jüngste Doku-Soaps im ZDF und der monumentale Spielfilm „Luther“ eindrucksvoll bewiesen.
Hier wurde die Rolle des Reformators zumeist auf sein Wirken als „Kirchenrebell“ und „Revolutionär“ reduziert. Ohne Zweifel gehört das zu seiner Historie - jedoch nur zu einem kleinen Teil. Mehr als 15 Jahre seines Wirkens wurden fast gänzlich ausgeblendet. Oder besser ausgedrückt: Man kann die historischen Fakten auch in einem Maße vereinfachen, dass von der Wahrheit nicht mehr viel übrig bleibt. Nur: Gemessen am Wissen des Jahres 2012 und unserer freiheitlich demokratischen Verfassung ist Luther ebenso ein Despot, der einer totalitären Staatsform durchaus Vorschub leistete und sicherlich (neben vielen anderen) als einer der geistigen Vorväter einer rassischen Ideologie bezeichnet werden darf, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bekanntlich in eine - von den Deutschen produzierte - Jahrhundertkatastrophe führte.
Im Umkehrschluss dazu müssten wir z.B. ebenso Ernst Häckel feiern, einen der honorigsten deutschen Naturwissenschaftler des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Häckel gilt jedoch (ungeachtet seiner Verdienste) als geistiger Vater der Eugenik und des Sozialdarwinismus. Zudem forderte er die freiwillige und auch unfreiwillige Euthanasie. (6) Wohin solche Ideen in Deutschland zwischen 1933 und 1945 (und darüber hinaus) führten, soll jedoch nicht Thema dieses Textes sein.
Doch was haben Luther und die deutschen Protestanten mit Adolf Hitler und dem Nationalsozialismus zu tun?
Dazu muss man sich die Religionszugehörigkeit der deutschen Bevölkerung von 1933 etwas genauer anschauen. Beinahe zwei Drittel (62,7%) der Deutschen waren Protestanten, etwa ein Drittel (32,5%) gehörten der katholischen Kirche an. (7) Macht zusammen 95,2 Prozent der Gesamtbevölkerung. Es ist dabei nicht verwunderlich, dass die Nazis ihre Mitglieder überwiegend (fast nur) aus Mitgliedern der „Christlichen Gemeinschaft“ rekrutierten. Nachweislich überwiegend aus dem protestantisch bürgerlichen Lager der damaligen Weimarer Republik. Unter den verbleibenden 4,8 Prozent bekannten sich nur wenige Bürger offen zum Atheismus. Eher zu religiösen Splittergruppen und zum Judentum. Bekennenden Atheisten blieb der Eintritt in die SS übrigens – formal – strikt untersagt. Schließlich widersprach die Gottlosigkeit, ein Kind der Aufklärung, Himmlers Volksglauben und Hang zum Mystizismus des Germanentums. (8) Der „Führer“ kann, im Gegensatz zu Himmler, wie folgt zitiert werden:
„Es konnte in den Reihen unserer Bewegung der gläubige Protestant neben dem gläubigen Katholiken sitzen, ohne je in den geringsten Gewissenskonflikt mit seiner religiösen Überzeugung geraten zu müssen. Der gemeinsame gewaltige Kampf, den die beiden gegen den Zerstörer der arischen Menschheit führten, hatte sie im Gegenteil gelehrt, sich gegenseitig zu achten und zu schätzen" (9)
Das Interesse des Katholiken Adolf Hitlers (Anm.: Hitler wurde bis heute nicht exkommuniziert) galt sicherlich nicht dem Erhalt der Bekennenden Kirche, sondern der Schaffung einer christlich-arischen Volksgemeinschaft bzw. einer nationalsozialistisch geprägten Einheits- und Staatskirche. Die "Deutschen Christen", eine breite, 1932 gegründete und von Hitler unterstützte Strömung innerhalb der protestantischen Kirche, passen dabei sehr gut ins Bild. (10) In Artikel 24 des Parteiprogramms der NSDAP ist zum Verhältnis der Partei gegenüber der Religion Folgendes zu lesen:
„Wir fordern die Freiheit aller religiösen Bekenntnisse im Staat, soweit sie nicht dessen Bestand gefährden oder gegen das Sittlichkeitsverbot der germanischen Rasse verstoßen. Die Partei als solche vertritt den Standpunkt eines positiven Christentums, ohne sich konfessionell an ein bestimmtes Bekenntnis zu binden.“ (11)
Der säkular humanistische BfG (Bund für Geistesfreiheit) wurde nach dem Machtantritt Hitlers übrigens verboten. Max Sievers, bis dahin Vorsitzender des Deutschen Freidenker-Verbandes, wurde am 03. Juni 1943, nach einem mehrjährigen Aufenthalt in den USA, von der Gestapo in Nordfrankreich verhaftet und 1944 in Brandenburg-Görden als Volksverräter hingerichtet. (12) Nicht wenige Mitglieder endeten, ebenso wie viele aufrichtige Christen und Pfarrer, in den Konzentrationslagern der neuen Machthaber. Die Institution Kirche stand dem Regime, nach anfänglicher Skepsis insbesondere der katholischen Kirchenoberen, jedoch durchaus offen gegenüber. Besonders die Evangelische Kirche, die immerhin die Mehrheit der damaligen Reichsdeutschen vertrat, zeigte schon vor der Machtergreifung wenig bis gar keine Skrupel. Im Gegenteil. Hohe Kreise überstürzten sich mit Treuebekundungen und euphorischer Freude über Hitlers Aufstieg zum Reichskanzler. Nachfolgend nur ein Beispiel:
„Zu dieser Wende der Geschichte sprechen wir ein dankbares Ja. Gott hat sie uns geschenkt. Ihm sei die Ehre!" (Erklärung von Kappler, Marahrens & Hesse, als Bevollmächtigte des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses) (13)
Vielmehr verstanden die meisten Kirchenoberen den aufkommenden totalitären Führerstaat als Bollwerk gegen den gottlosen Bolschewismus sowjetischer Prägung. Was auch die massive Unterstützung des spanischen Diktators Franco während des spanischen Bürgerkrieges durch die Katholische Kirche im Ansatz erklärt. Selbst gegen den glühenden Antisemitismus Hitlers und seiner NSDAP hatte man nur wenig bis gar nichts einzuwenden. „Der Arierparagraph findet in protestantischen Kreisen weitgehend Zustimmung.“ So Ernst Klee in seinem Buch „Die SA Jesu Christi – Die Kirche im Banne Hitlers“. Und auch die Katholische Kirche bekleckerte sich, nach anfänglicher Zurückhaltung und auch Kritik, nicht gerade mit Ruhm, resultierte der glühende Antisemitismus vieler Menschen in Europa und insbesondere in Deutschland doch zu weiten Teilen aus den kirchlichen Lehren der vorangegangenen Jahrhunderte. Waren es nicht die Juden, die den Tod von Jesus Christus am Kreuz zu verantworten hatten? Was, historisch genauer unter die Lupe genommen, ein ziemlicher Unsinn ist. Historischer Konsens ist, dass ein „Aufrührer“ gleichen oder ähnlichen Namens von der römischen Besatzungsmacht am Kreuz „erhängt“ wurde. Davon abgesehen, dass der „historische Jesus“ mit dem in vom Apostel Paulus posthum verbreiteten Überlieferungen nur wenig zu tun hatte.