Der gute Wilde aus der Steinzeit

BERLIN. (hpd) Was geschähe, wenn ein Neanderthaler unter uns lebte? Wie würden wir ihn aufnehmen? Wie würde er sich fühlen? Sibylle Knauss hat mit diesen Fragen im Hintergrund den Plot für einen Roman entwickelt. „Fremdling“ ist eine literarische Versuchsanordnung und die Geschichte einer mittlerweile - fast - möglichen Grenzüberschreitung.

Er ist sein eigener Vater, geklont aus dem Erbmaterial eines Neanderthalers. Er hat eine Mutter, die ihn austrägt. Aber ihr Sohn ist er nicht. Jedenfalls genetisch nicht. Er ist unendlich einsam, und er durchlebt alle die Stationen, die Außenseiter unserer Gesellschaft durchlaufen: Heim, Psychiatrie, Gefängnis. - Dafür hat er einige Verwandte in der Literatur- und Kulturgeschichte: den „guten Wilden“ Rousseaus vor allem, Kaspar Hauser und Rudyard Kiplings „Mowgli“ im Dschungel Indiens der Kolonialzeit, wohl auch Tarzan.

Einen Platz in unserer Gesellschaft findet er nur an der Peripherie, auch geografisch gesehen, in den Bergen des Balkans.

„Fremdling“ ist die Geschichte eines Ausbruchs aus der Gesellschaft. Maria, eine junge Wissenschaftlerin, weigert sich, das ihr in einem geheimen Experiment implantierte Leben rechtzeitig zur Auswertung des anatomischen Materials abtreiben zu lassen. Sie kauft sich einen Wohnwagen, bringt das Wesen aus der Steinzeit mit Hilfe einer rumänischen Dorfärztin, die nicht viel Fragen stellt, zur Welt und zieht sich mit ihrem Sprössling immer weiter aus der Zivilisation zurück.

In den streckenweise durchaus idyllisch wirkenden Bergen Kroatiens, hoch oberhalb der Touristenorte, wächst er heran. Er lernt von Maria zu sprechen, wenn auch mit merkwürdigen Klicklauten, sogar schreiben. Dazu sind ihm seltsame Gaben angeboren: Tiere mit einem Steinschaber zu häuten, die Laute der Vögel nachzuahmen und, das wird ihm zum Verhängnis, zu jagen. Er tötet ganz ohne Arg Hühner und Ferkel. Das fällt auf.

Und er ist vor allem aus der Sicht der „normalen“ Menschen umwerfend hässlich. Alle erschrecken vor ihm, nur seine Mutter nicht. Dafür hat er auch die Gabe, allein mit den Blicken seiner orangeroten Pupillen mit den Tieren zu sprechen und sie in Schach zu halten. Diese Fähigkeit sichert ihm sogar zeitweilig eine normale Existenz unter den Menschen, als Hilfskraft eines Zirkusdompteurs und, Ironie der Geschichte, nachdem er doch selbst zu Forschungszwecken gezeugt wurde, als Tierpfleger in einem pharmazeutischen Institut.

Jo, so nennt seine Mutter den Pflegling, der keine Papiere hat, fehlt die Gier, er nimmt nie mehr als er braucht. Und er fürchtet nichts mehr als Veränderung. Damit unterscheidet er sich von den modernen Menschen, für die seine Existenz gleichzeitig zum fiktiven Gegenentwurf avanciert. Zum unmöglichen Gegenentwurf.

Er wird zum wissenschaftlichen Ausstellungsstück, soll, fast sieht es nach einem Happy-end aus, zum Star einer wissenschaftlichen Konferenz werden und vermasselt alles, weil er sich verweigert. Er kann nicht anders. Denn eigentlich ist er gutmütig. Er folgt den Ratschlägen seiner Mutter arglos, dass man auch, wenn man schlecht behandelt wird, gut sein und bleiben muss, um die anderen davon zu überzeugen, dass man gut ist. Nur viele Menschen hinter sich, im Nacken, kann er nicht ertragen. Da kommt sein Instinkt durch, er bricht aus.

Eingebaut in den Roman sind immer wieder aufs Komischste in Szene gesetzte gegenwärtige Debatten um Inklusion und Exklusion. „Anders“ soll Jo aus Gründen der political correctness nie sein, jedenfalls für das kroatische Jugendamt, das ihm bald auf die Spur kommt, aufgeklärte Erzieher, die auf EU-Fördertöpfe für ihre Bildungseinrichtungen hoffen, und westliche Wissenschaftler nicht. So bleibt ihm nur ein Status als Behinderter.

Man erkennt die versierte Drehbuchautorin, die Sibylle Knauss auch ist, im Finale des Buches: Eine Horde von Wissenschaftlern will nach einem makaberen Wettlauf der Forscher, ihn als ihre Entdeckung zu reklamieren, dem Wilden ihre nachgebaute Welt der Wilden im Neanderthaler-Museum in Kroatien zeigen. Mit Eisschollen aus Plastik, an die Wand gebeamten turbulenten Infotainment-Filmszenen und einer Neanderthaler-Gruppe aus Kunststoff. Dort richtet unser verstörter echter Neanderthaler, Jo, zunächst das größte Chaos an und kommt dann allen abhanden, in dem er die Kleider vom Leib reißt, sich bewegungslos unter die Puppen stellt und unauffindbar scheint. Jo hat eben auch Sinn für Humor.

Der Roman ist vor allem der Roman einer Mutter-Kind-Beziehung unter ungewöhnlichen Bedingungen. Andererseits ist so eindeutig die Sache doch wieder nicht. Denn Maria ist eben beides, Mutter und Wissenschaftlerin. Die Geschichte ist ebenso die einer fiktiven Feldforschung, auf die die Romanheldin Maria sich eingelassen hat mit allen Gefühlen einer Frau, als ehrgeizige Nachwuchsforscherin zunächst. Sie verlässt mit ihrer Flucht und Aussteigerrolle den Rahmen des gewöhnlichen Wissenschaftsbetriebs - und bleibt damit gleichwohl teilnehmender Bestandteil einer Versuchsanordnung in viva, in der sie selbst alle Grenzen überschreitet. Weiter kann man nicht gehen.

Simone Guski

Sibylle Knauss: „Fremdling“, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2012, 384 S., 22,99 Euro.