Aspekte des „Occupy“-Phänomens

(hpd) David Graeber gilt als Vordenker der „Occupy“-Bewegung und beschreibt kommentierend Positionen, Strategie und Taktik der kapitalismuskritischen Protestler. Dies geschieht mehr aus persönlicher und subjektiver Perspektive, welche gleichwohl einen interessanten Einblick in das Innenleben einer bedeutenden Protestbewegung der Gegenwart gestattet.

Mit der Aufforderung „Occupy Wall Street!“ besetzten im September 2011 kapitalismuskritische Aktivisten einen Park im New Yorker Finanzdistrikt. Die große Aufmerksamkeit der Medien machte diese Bewegung weltweit bekannt und löste in vielen Ländern ähnliche Protestformen aus. Doch wofür stehen die „Occuy“-Protagonisten? Wie gehen sie strategisch vor? Wie organisieren sie sich? Auf diese Fragen geht David Graeber in seinem Buch „Inside Occupy“ ein.

Beim Autor handelt es sich aber nicht um einen neutralen Beobachter, gilt er doch als Vordenker der Bewegung. Einerseits definiert Graeber sich selbst als anarchistischen Aktivisten der Gewerkschaft „Industrial Workers of the World“, andererseits lehrt er am Goldsmiths College der University of London Kulturanthropologie. In seinem Buch behandelt er den „Beginn einer massendemokratischen Bewegung in den USA, von Amerikas ganz eigenem einzigartigem Beitrag zu einer globalen Bewegung, die ... auf die eine oder andere Weise fast alle bestehenden Machtstrukturen zu bedrohen begann“ (S. 171).

Im Sinne persönlicher Beschreibungen und Reflexionen geht Graeber in fünf Kapiteln auf unterschiedliche Aspekte des „Occupy“-Phänomens ein: Zunächst berichtet er schlicht von den ersten Aktionen, wozu eben auch die einleitend erwähnte Besetzung des Zuccotti-Parks im New Yorker Finanzdistrikt gehört. Danach erörtert der Autor unterschiedliche Fragen, die sich mit den Positionen und der Wirkung der Protestbewegung beschäftigen. So konstatiert er eine überraschend breite Medienberichterstattung, die Aufmerksamkeit und Ausbreitung erst ermöglicht hätte. Darüber hinaus meint Graeber: „ ... die Bewegung ist nicht trotz der anarchistischen Elemente zustande gekommen. Vielmehr verdankt sie ihnen ihren Erfolg“ (S. 78). Für ihn handelt es sich gar um eine revolutionäre Bewegung, auch wenn sie nicht eindeutige Gegenpositionen zur bestehenden Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung formulieren kann. Ein grundlegender Wandel sei nötig, weil der Kapitalismus „nicht mehr partnerschaftlich mit dem Staat zusammen, sondern unmittelbar durch ihn arbeitet“ (S. 90).

Als Alternative strebt Graeber eine direkte Demokratie an, womit aber schon die Gründungsväter der USA ihre Probleme gehabt hätten. Es gelte „Demokratie“ in Abgrenzung von deren Reduzierung auf den Wahlakt anders zu definieren: „Demokratie ist nichts weiter als der Prozess kollektiver Erwägungen auf der Basis des Prinzips umfassender und gleichberechtigter Partizipation“ (S. 120). Für den politischen Weg dahin formuliert der Autor Positionen zu Fragen der Strategie und Taktik. In diesem Kontext widmet er dem Konsensverfahren große Aufmerksamkeit, wobei dieses mit einer radikalen Dezentralisation kombiniert werden müsse. Eine neue Gesellschaft sollte dabei gar nicht aus dem nichts erschaffen werden. Man könne an bereits bestehende Formen einer besseren Gesellschaft anknüpfen: „Wir brauchen nur die freiheitlichen Zonen auszuweiten, bis Freiheit zum höchsten Organisationsprinzip wird“ (S. 188). Letztendlich solle der Respekt für unvereinbare Unterscheide zur Basis für die Gemeinsamkeit im gesellschaftlichen Leben werden.

Graebers Buch muss als sehr persönlicher und subjektiver Blick auf die Protestbewegung gelten. Pauschal vereinnahmt er sie in der Deutung für sein anarchistisches Selbstverständnis. Ob diese Grundauffassung nun auch bei den Aktivisten in gleicher Weise präsent ist, darf mit guten Gründen bezweifelt werden. Auch stellt sich die Frage, ob die Protestbewegung wirklich 99 Prozent der Menschen vertritt. Damit geht eine gewisse intellektuelle und politische Anmaßung einher. Überhaupt problematisiert Graeber nicht deren demokratische Legitimität. Auch Massen von Aktivisten müssen nicht unbedingt für das Volk sprechen.

Ist man sich indessen der Parteilichkeit des Autors bewusst, können viele Passagen durchaus mit Gewinn gelesen werden. Zutreffend konstatiert Graeber, dass die Medien recht wohlwollend über die „Occupy“-Bewegung berichten. Hierfür nennt er auch einige Gründe. Darüber hinaus erörtert er die Angemessenheit eines Konsensprinzips für Entscheidungsfindungen, zunächst nur für eine Protestbewegung, dann aber auch für eine ganze Gesellschaft.

Armin Pfahl-Traughber

 

David Graeber, Inside Occupy. Aus dem Englischen von Bernhard Schmid, Frankfurt/M. 2012 (Campus-Verlag), 200 S., 14,99 €.