Warum die Kölner Richter Recht haben

koeln-landgericht_wikipedia.jpg

Kölner Landgericht / Foto: wikipedia (A.Savin)

WÜRZBURG. (hpd) Das Urteil des Kölner Landgerichts, die religiös motivierte Beschneidung eines Jungen als strafbare Körperverletzung einzustufen, hat für erhebliches Aufsehen gesorgt. Nicht nur die unmittelbar betroffenen jüdischen und muslimischen Verbände haben sich scharf ablehnend geäußert, auch die Deutsche Bischofskonferenz und die Evangelische Kirche haben sich gegen das Urteil ausgesprochen.

Demgegenüber hat die Staatsanwaltschaft inzwischen auf Revision verzichtet, weil sie das Urteil für rechtlich einwandfrei hält.

Von Eric Hilgendorf

Offenbar handelt es sich um einen Konflikt, der tiefer reicht als bloß die Auseinandersetzung um die Zulässigkeit einer medizinisch nicht indizierten, aber religiös vorgeschriebenen oder zumindest üblichen Beschneidung eines minderjährigen Kindes. Es geht um das Verhältnis von Recht und Religion in einem multikulturellen und multireligiösen Staat. Der deutsche Staat ist religiös und weltanschaulich neutral, d.h. er darf keine Religion und Weltanschauung vor den anderen bevorzugen. Er ist darüber hinaus sogar in besonderer Weise weltanschauungs- und religionsfreundlich und daher gehalten, das weltanschauliche und religiöse Leben seiner Bürger zu fördern.

Unser Staat bekennt sich aber auch zur Menschenwürde, zu den Menschenrechten und zur Demokratie. Darin kommt das geistige Erbe der Aufklärung zum Ausdruck, welches den deutschen Staat – und in der Tat alle Staaten des Westens – bis heute in erheblichem Umfang prägt. Menschenwürde und Menschenrechte sind nicht verhandelbar, auch nicht im Verhältnis zu den verschiedenen Weltanschauungs- und Religionsgemeinschaften. Die Freiheit weltanschaulicher und religiöser Betätigung gilt nur im Rahmen des Rechts, oder anders ausgedrückt: das Recht steht über der Religion.

Im Kölner Beschneidungs-Fall ging es um einen mit erheblichen Schmerzen verbundenen, die körperliche Substanz beeinträchtigenden Eingriff. Ein solcher Eingriff erfüllt die Voraussetzungen einer Körperverletzung im Sinne des deutschen Strafgesetzbuches. Für die Zirkumzision gilt damit nichts anderes als für jeden anderen substanzverletzenden Eingriff in den Körper, etwa die barbarische verstümmelnde Beschneidung von Mädchen, deren Strafbarkeit nach deutschem Recht bereits heute unbestritten ist. Es entspricht ständiger Rechtsprechung, dass selbst Heileingriffe, etwa operativer Art, aber auch kleinere Schnitte an der Hautoberfläche und selbst kaum spürbare Injektionen mittels einer Spritze, den Tatbestand einer Körperverletzung erfüllen.

Freilich sind diese Eingriffe per se noch nicht strafbar. Hinzukommen muss stets, dass der Eingriff auch rechtswidrig war. Dies ist der Fall, wenn er nicht durch einen Rechtfertigungsgrund gedeckt ist. Der mit Abstand wichtigste Rechtfertigungsgrund bei medizinischen Eingriffen ist die Einwilligung des Patienten. Der Arzt muss also eine Einwilligung des Patienten einholen, bevor er ärztliche Maßnahmen einleitet. Damit soll, wie die Rechtsprechung immer wieder hervorgehoben hat, das Selbstbestimmungsrecht des Patienten gegen aufgezwungene Heilbehandlungen geschützt werden. Darin drückt sich die besondere Achtung aus, die Autonomie und Menschenwürde im Geltungsbereich des Grundgesetzes genießen.

Die Kölner Richter haben nichts anderes getan, als diese Rechtsprechung auf den Fall nicht medizinisch, sondern religiös motivierter Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit zu übertragen. Auch hier ist also eine Einwilligung des Betroffenen, konkret des Jungen, der beschnitten werden soll, erforderlich. Ein Kleinkind ist aber nicht in der Lage, eine solche Einwilligung wirksam abzugeben. In derartigen Fällen können ausnahmsweise die Eltern die Einwilligung erklären, allerdings nur, wenn der Eingriff dem Wohl des Kindes dient.

Damit nähern wir uns dem Kern der rechtlichen Problematik des Kölner Falles. Was ist das „Wohl des Kindes“? Eine medizinische Indikation für den Eingriff liegt nicht vor. Durch die Beschneidung wird nicht nur der Körper des Kindes verletzt, sondern auch sein Selbstbestimmungsrecht. Beide werden nicht nur vom Strafrecht geschützt, sondern genießen Verfassungsrang (Art. 2 Grundgesetz). Dem Jungen wird durch den frühzeitigen Vollzug der Beschneidung die Möglichkeit genommen, sich zu gegebener Zeit, wenn er selbst wirksam einwilligen kann, in eigener Verantwortung für oder gegen die Beschneidung zu entscheiden.

In der Debatte um das Kölner Urteil wurde auf das elterliche Erziehungsrecht verwiesen, das ebenfalls Verfassungsrang genießt (Art. 6 Grundgesetz). Dabei wird aber übersehen, dass nach der überzeugenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das Elternrecht immer auf das Wohl des Kindes bezogen sein muss.

Was bleibt, ist die Berufung auf die Religionsfreiheit der Eltern (Art. 4 Grundgesetz). Die Zirkumzision ist wesentlicher Bestandteil der religiösen Tradition von Judentum und Islam, und es ist offensichtlich, dass das Urteil des Kölner Landgerichts in erheblichem Maße für Unruhe unter gläubigen Juden und Muslims gesorgt hat. Aber reicht dies aus, um eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit und des Selbstbestimmungsrechts des Kindes zu rechtfertigen? Die Kölner Richter haben dies anders gesehen, und ihr Urteil verdient Zustimmung. Besonders hervorzuheben ist, dass eben auch die Religionsfreiheit des Kindes grundrechtlich geschützt ist: Sollte nicht jeder Mensch selbst entscheiden können, ob er sich einer religiös motivierten Beschneidung unterzieht? Gerade wenn man, wie es das Grundgesetz vorschreibt, die religiöse Freiheit in ganz besonderer Weise hochhält, sollte man das religiöse Selbstbestimmungsrecht aller Menschen achten und unmündigen Kindern nicht eine fremde Entscheidung, sei es die der Eltern oder auch nur die des religiösen Umfeldes, aufzwingen.

Wie wird es weitergehen? Denkbar erscheint der Weg zum Bundesverfassungsgericht, der freilich langwierig ist. Außerdem sprechen die stärkeren verfassungsrechtlichen Gründe gegen die Beschneidung. Damit bleibt der Weg über den Gesetzgeber, der (analog der Zulässigkeit des religiös motivierten Schächtens) eine Ausnahmeregelung schaffen kann. Vermutlich wird es bald die ersten Vorschläge zu einer solchen gesetzlichen Regelung der Beschneidung geben

Der Verfasser ist Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Würzburg und beschäftigt sich seit Jahren mit dem Verhältnis von Interkulturalität und Recht. Näheres unter www.rechtstheorie.de.